Augustinus zum Thema Sklaverei

Im sog. Bundesbuch gebietet die Tora, dass ein hebräischer Sklave nach sechs Jahren freizulassen ist. In seiner Auslegung des Hexateuchs (der ersten sechs Bücher der Bibel) kommt Augustinus auf diese Bestimmung zu sprechen – und bestreitet vehement deren Anwendbarkeit.

Quae de seruo hebraeo praecipiuntur, ut sex annos seruiat et dimittatur liber gratis, ne serui christiani hoc flagitarent a dominis suis, apostolica auctoritas iubet seruos dominis suis esse subditos [cf. Ephes. 6,5; I Tim. 6,1] ne nomen dei et doctrina blasphemetur. illud enim ex hoc satis constat in mysterio praeceptum, quia et pertundi subula eius aurem ad postem praecepit deus, qui libertatem illam recusasset. (Quaest. de Exodo LXXVII; CSEL XXVIII (Sect. III Pars III 1895) S. 142)

Was über den hebräischen Sklaven vorgeschrieben wird, dass er sechs Jahre dienen und [dann] umsonst frei weggeschickt werden soll – damit christliche Sklaven dies nicht von ihren Herren verlangten, gebietet die apostolische Autorität, dass sich Sklaven ihren Herren unterordnen, „damit der Namen Gottes und die Lehre nicht gelästert wird“ (1 Tim 6,1; vgl. Eph 6,5 u. 1 Petr 2,18). Dies steht zur Genüge durch das fest, was geheimnisvoller Weise angeordnet wird, weil Gott auch vorgeschrieben hat, dass das Ohr dessen, der diese Freiheit zurückgewiesen hatte, am Pfosten mit einem Pfriem durchbohrt wird.

Quaestionum in Heptateuchum; De Exodo II,78; CSEL XXVIII (Sect. III Pars III 1895) S. 142

Um zu dieser Auslegung zu gelangen, muss der Kirchenvater gegen den Literalsinn auf eine allegorische Deutung zurückgreifen (in mysterio praeceptum)1. Damit stellt er sich auch in Widerspruch zu seiner eigenen Hermeneutik. Denn in der Doctrina christiana hatte er als Grundsatz der Bibelauslegung festgehalten:

Huic autem observationi, qua cavemus figuratam locutionem, id est, translatam quasi propriam sequi, adiungenda etiam illa est, ne propriam quasi figuratam velimus accipere. Demonstrandus est igitur prius modus inveniendae locutionis, propriane an figurata sit. Et iste omnino modus est, ut, quidquid in sermone divino neque ad morum honestatem, neque ad fidei veritatem proprie referri potest, figuratum esse cognoscas. Morum honestas ad diligendum Deum et proximum, fidei veritas ad cognoscendum Deum et proximum pertinet. (De doctrina christiana III,X)

Aber dieser Beobachtung, dass wir uns hüten sollen, einer bildlichen Redeweise, das bedeutet einer übertragenen wie einer eigentlichen zu folgen, ist auch jene hinzuzufügen, dass wir eine eigentliche nicht wie eine übertragene auffassen wollen. Es ist also vorher genau der Modus der angetroffenen Redeweise zu bestimmen, ob sie eigentlich oder bildlich sei? Und dies ist überhaupt der Modus, dass du, was auch immer in der göttlichen Redeweise weder auf die Tugend des Lebenswandels noch auf die Wahrheit des Glaubens im eigentlichen Sinn zurückbezogen werden kann, als bildlich erkennen sollst. Zur Tugend des Lebenswandels gehört es, Gott und den Nächsten zu lieben, zur Wahrheit des Glaubens, Gott und den Nächsten anzuerkennen. (De doctrina christiana III,X)

Der Umgang mit einem Sklaven darf daher nach der augustinischen Hermeneutik gar nicht allegorisch gedeutet werden. Dass er dennoch insgesamt jeder Freiheitsbestrebung von Sklaven eine Absage erteilte, hat Friedrich Schaub schon 1913 herausgearbeitet.

Dies Argumentationsfigur hatte eine gewaltige Wirkungsgeschichte. Das zeigt beispielsweise das Erlebnis des Predigers Charles Colcock Jones aus den Südstaaten der USA im Jahr 1833. Der „Apostel der Sklaven“ hielt für sie einen Gottesdienst und berichtete danach:

Ich predigte zu einer großen Versammlung über den Brief an Philemon: und als ich auf Treue und Gehorsam als christlichen Tugenden bei Dienenden und auf die Autorität des Apostels Paulus bestand und dabei die Praxis des run away verdammte, stand die eine Hälfte meiner Zuhörerschaft absichtlich auf und ging hinaus, während die, die zurückblieben, alles andere als zufrieden aussahen, weder mit dem Prediger, noch mit seiner Lehre. Nach der Entlassung gab es unter ihnen eine nicht eben geringe Erregung. Einige erklärten feierlich, dass es gar keinen solchen Brief in der Bibel gebe; andere, dass sie nicht aufpassen würden, sollten sie mich jemals noch eimal predigen hören. … Es gab auch einige, die starke Vorbehalte gegen mich als Prediger hatten, weil ich ein master war, und sagten: Sein Volk muss genauso arbeiten wie unseres. (Zitiert nach: Albert J. Raboteau: Slave Religion. The „Invisible Institution“ in the Antebellum South (1978) S. 294)

Abraham Lincoln, der wohl bedeutendtste republikanische Präsident der USA, hielt in seiner zweiten Antrittsrede von 1865 fest:

Beide Seiten [des Bürgerkriegs] lesen dieselbe Bibel und beten zu demselben Gott; und jede ruft seine Hilfe gegen die andere an. Es mag seltsam scheinen, dass Menschen es wagen sollte, die Unterstützung eines gerechten Gottes zu erbitten, um ihr Brot aus dem Schweiß des Angesichts2 anderer Menschen herauszupressen. Aber lasst uns nicht richten, damit wir nicht gerichtet werden3. Die Gebete beider Seiten können nicht erhört werden. (Second Inaugural Address, March 4, 1865. In: Speeches of Lincoln (1914) S. 25)

Angesichts des Umstands, dass sich beide Seiten auf die Bibel berufen konnten, zeigt sich wieder einmal: Entscheidend ist und bleibt die Auslegung.

Weiterführende Beiträge:
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Nochmal zum Thema Sklaverei
Notizen zum römisch-katholischen Eheverständnis II


  1. Walter Groß folgt in seiner Übersetzung der kritischen Ausgabe von Julien Fraipont, CCL 33 von 1958, die hier in ministerio praeceptum liest (s. Walter Groß: Quaestiones in Heptateuchum. Zweisprachige Ausgabe (2018) I S. 395), eine Lesart, die Jospeh Zycha in seiner CSEL Ausgabe von 1895 in einer Fußnote erwähnt. Ich halte diese Lesart für falsch. Ministerium bezieht sich gerade im christlichen Kontext wohl nicht auf Sklaverei und der Ausdruck in mysterio praeceptum findet sich ein weiteres Mal im Text in der Auslegung zu Ex 35,1-9 (Q 172) und wird dort von Groß anstandslos mit „in symbolischer Bedeutung“ übersetzt (S. 499 ebenda).↩︎
  2. Vgl. Gen 3,19↩︎
  3. Mt 7,1/Lk 6,37↩︎

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