»Einzig geborener Sohn« oder »einzig geborene Gott« (Joh 1,18)?

Ein Klassiker der Textkritik ist Joh 1,18. Die EÜ liest hier am Endes des Johannesprologs: Niemand hat Gott je gesehen. Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht. 1 Doch diese Lesart ist alles andere als unumstritten.
Dazu kommt: die von mir zitierte Übersetzung des Verses ist keinesfalls wörtlich: das μονογενὴς θεóς (monogenḕs theós) heißt eigentlich: einzig gezeugter Gott. Damit ist jemand gemeint, der einzigartig oder gar der Einzige seiner Art ist. Entsprechend heißt es in Joh 3,16: Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn (tòn huiòn tòn monogenē) gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. (Luther 1984) 2 Eingeboren 3 auch hier im Sinne von »einzig geboren«, bzw. »einzigartig«. Im Prolog selber heißt es in Joh 1,14: Und das Wort, der Logos, wurde Fleisch und wohnte unter uns, und wir schauten seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit, wie sie ein Einziggeborener vom Vater (hōs monogenoūs parà patrós) hat, voll Gnade und Wahrheit. (Zürcher Bibel 2007) 4 Man sieht also, das monogenḗs ist ein wichtiger Begriff der johanneischen Theologie.

Sohn oder Gott?

Doch das eigentlich vertrackte an unserem Vers ist, dass eine nicht unerhebliche Zahl von Zeugen hier nicht monogenḕs theós, sondern monogenḕs huiós liest: einziggeborener Sohn. Unter den Zeugen dieser Lesart befindet sich ein solches Schwergewicht wie der Codex Alexandrinus, ja, ein Blick in den Apparat des Nestle-Aland zeigt, dass die Anzahl der Zeugen für die zweite Lesart nicht gering ist. 5 Doch Zeugen werden hier gewogen und nicht gezählt – in welche Richtung neigt sich die textkritische Waage?

Die Väter

Werfen wir einen Blick auf die Väter, für die die Frage der Stellung und des Verhältnisses Jesu zum Vater in dieser christologisch so aufgeheizten Zeit von besonderer Bedeutung war. Ein gutes Beispiel dafür ist die Ausführung Tertullians gegen die Valentinianer, in der er die richtige Lesart von Joh 1,13 über Gottes Kinder, die nicht aus Blut, nicht aus dem Wollen des Fleisches und nicht aus dem Wollen des Mannes, sondern aus Gott gezeugt sind (Zürcher) als häretische Verfälschung ablehnt, denn aus Gott kann für ihn nur Christus gezeugt sein! 6

Joh 1,18 bei den griechischen Vätern

Ein Blick auf Irenäus von Lyon (gestorben um 200) zeigt die ganze Komplexität des Problems. Im ersten, auf Griechisch erhaltenen Buch »gegen die Häresien« nennt er Christus nur monogenḗs– einziggeboren (I,9,2 = MPG VII, 540). In der lateinischen Übersetzung des dritten Buches findet sich eine Art Kompromissform von Joh 1,18, der Text hat: Deum nemo vidit umquam, nisi unigenitus Filius Dei, qui est in sinu Patris, ipse ennaravit – »Gott hat niemand jemals gesehen, nur der einziggeborene Sohn Gottes, der im Schoß des Vaters ist, hat ihn erklärt.« (III,11,6 = MPG VII, 883) Im lateinischen Text von IV,20,6 wird der Vers wörtlich zitiert, und bietet hier die Form unigenitus Filius – der einziggeborene Sohn (= MPG VII, 1037). Kurz danach finden wir den gleichen Vers mit unigenitus Deus – der einziggeborene Gott (IV,20,11 = MPG VII, 1040).

Origenes (um 185 – etwa 253) bietet in seinem Werk gegen den heidnischen Philosophen Kelsos zwei Lesarten: monogenḗs ge ṑn theós 7– »der einziggeborene, der Gott ist« (Contra Celsus II,71 = MPG XI, 907 Fn. 15) und tòn monogenē theón 8 – »den einziggeborenen Gott« (Contra Celsus VIII, 17 = MPG XI, 1544).

Theodor von Mopsuestia (circa 350 – 428) liest in seinen katechetischen Homilien »der einziggeborene Sohn, der im Schoß des Vaters ist.« (Katechetische Homilie III, 8) 9

Dieser kleine Ausschnitt macht deutlich, dass eine eindeutige Antwort durch die Auswertung der Vätertradition so nicht möglich ist.

Wie kam es zu den unterschiedlichen Lesarten?

Die beste Lesart ist wohl die, die alle anderen erklären kann. Wieso also dieses Schwanken in der Überlieferung von Joh 1,18 zwischen »Sohn« und »Gott«, mal mit und mal ohne Artikel? Hier könnte ein Blick auf die Schreibgewohnheiten der antiken Kopierer weiterhelfen.

Papyrus 1 - Wikimedia Commons
Papyrus 1 – Wikimedia Commons

Sie sehen hier den Papyrus 1 (P1) aus dem 3. Jh., der Mt 1,1-9.12.14-20 enthält. Schauen wir uns einmal die erste Zeile im Detail an:

Papyrus 1 - Zeile 1; Quelle: Wikimedia Commons
Papyrus 1 – Zeile 1; Quelle: Wikimedia Commons

Hier steht: BIBLOS GENESEŌS IU XU UU DAVID – »Buch des Ursprungs (von) Jesus Christus (dem) Sohn Davids«. Auffällig sind die nomina sacra – die heiligen Namen – deren sich der Schreiber bedient. Er schreibt also nicht IĒSOȖ CHRISTOȖ HUIOȖ – Jesus Christus Sohn – sondern verwendet die griechischen Abkürzungen ΙΥ ΧΥ ΥΥ. Die Abkürzung für Gott – theós – ist entsprechend ΘΣ. Sohn Gottes – griechisch huiòs theoũ – würde dann ΘΥ abgekürzt. Eine mögliche Erklärung für die Veränderung in Joh 1,18 von »einziggezeugter Gott« zu »einziggezeugter Sohn« oder umgekehrt wäre dann, das ein Kopist ΘΣ mit ΥΣ – also die Abkürzung für »Gott« mit der für »Sohn« – verwechselt hat.

Abschließender Kommentar

Was mir zu denken gibt, ist die Nonchalance der Väter gegenüber der Formulierung von Joh 1,18. Es machte in ihren Augen offensichtlich keinen wirklichen Unterschied, ob hier »einziggezeugter Gott« oder »einziggezeugter Sohn« steht, weil es inhaltlich für sie auf das gleiche hinauslief. Der Kontext des Johannesevangeliums gibt ihnen recht. Hier ist die einzigartige Stellung des Sohnes zum Vater Leitmotiv.

Für mich ist »einziggezeugter Gott« als Hapax legomenon die ursprüngliche Lesart. Zum Abschluss möchte ich Klaus Wengst zu Wort kommen lassen, der in seinem Kommentar zur Stelle schreibt: »Die Sohnesvorstellung ist in diesem Vers sowohl durch „Einziger“ als auch durch die folgende Erwähnung „des Vaters“ in jedem Fall gegeben. Von daher dürfte es wahrscheinlicher sein, dass ein ursprüngliches theós ersetzt wurde, um „den Sohn“ auch terminologisch ausdrücklich zu machen, als dass umgekehrt ein in keiner Weise Anstoß gebendes ursprüngliches „Sohn“ ersetzt worden wäre.« 10

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  1. θεὸν οὐδεὶς ἑώρακεν πώποτε· ⸂μονογενὴς θεὸς⸃ ὁ ὢν εἰς τὸν κόλπον τοῦ πατρὸς ἐκεῖνος ἐξηγήσατο.
  2. Οὕτως γὰρ ἠγάπησεν ὁ θεὸς τὸν κόσμον ὥστε τὸν υἱὸν τὸν μονογενῆ ἔδωκεν, ἵνα πᾶς ὁ πιστεύων εἰς αὐτὸν μὴ ἀπόληται ἀλλὰ ἔχῃ ζωὴν αἰώνιον.
  3. Unter »eingeboren« verstehen heutige Menschen etwas komplett anderes, als das, was hier gemeint ist. Sie denken dabei an so etwas wie »indigen«. Mir wurde einmal von einer Religionslehrerin erzählt, dass ein (mittlerweile schon verstorbener) Bischof beim Besuch des Religionsunterrichtes in einer Volksschule die Kinder fragte, was es bedeute, dass Jesus der eingeborene Sohn Gottes sei? Nach langem Schweigen sagte endlich eines der Kinder: »Er war Afrikaner?«
  4. Καὶ ὁ λόγος σὰρξ ἐγένετο καὶ ἐσκήνωσεν ἐν ἡμῖν, καὶ ἐθεασάμεθα τὴν δόξαν αὐτοῦ, δόξαν ὡς μονογενοῦς παρὰ πατρός, πλήρης χάριτος καὶ ἀληθείας· Eine schöne Übersetzung der Zürcher, ich würde nur bemängeln, das im Griechischen steht: er zeltete unter uns. Das ist natürlich ein Verweis auf das אֹהֶל מוֹעֵד – das ohæl moëd – das Zelt der Begegnung in der Tora.
  5. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass sich auch alte Zeugen für ho monogenḕs theós (der einziggezeugte Gott) und ho monogenḕs huiós (der einziggezeugte Sohn) finden. Siehe weiter unten.
  6. Ob ähnliche Bedenken EÜ, Elberfelder und Luther 1984 bewogen haben, das ἀλλʼ ἐκ θεοῦ ἐγεννήθησαν (all ek theoũ egennḗthēsan) mit »sondern aus Gott geboren« zu übersetzen?
  7. μονογενής γε ὢν θεός
  8. τὸν μονογενῆ θεόν
  9. Vgl. Fontes Christiani 17/1, S. 109
  10. Klaus Wengst: Das Johannesevangelium, 1. Teilband, S. 81 Fn 85; Zweite Auflage Kohlhammer 2004

4 Gedanken zu „»Einzig geborener Sohn« oder »einzig geborene Gott« (Joh 1,18)?“

  1. Was soll „einziggezeugter Gott“ bedeuten?
    – Wie kann ein angeblich ewig präexistenter Gott gezeugt werden?
    – Ist dies nicht ein Widerspruch in sich?

    Weshalb verwendet Johannes diesen Ausdruck nicht durchgehend für dessen Beschreibung von Jesus (sondern stattdessen „monogenes huios“)?

    Wie ist diese Formulierung mit der Aussage Jesu in Johannes 20,17 vereinbar?

    1. Jesu hat schon seinen Jüngern erklärt, dass das Erkennen von ihm, ist das Erkennen von seinem Vater, und das Sehen von ihm, ist das Sehen von seinem Vater, deshalb sind die Worte von Thomas in JOHANNES 20, 17 ein Ausdruck des Verständnis der Worten Jesu an seiner Jüngern.

  2. Christus ist wirklich Gott in Unendlichkeit, in seiner göttlichen Natur, weil Er der Enziggeborener vom Vater ist.
    Nur der Vater ist soviel Gott im seiner Natur, wie auch in seiner Persönlichkeit.
    Deshalb der Vater ist „der ALLEIN wahren Gott“ (JOHANNES 17, 3).
    Christus ist aber in seiner Persönlichkeit der Einzigeborener Sohn des lebendigen Gottes.
    Das ist seine Persönlichkeit.

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