Der Johannesprolog – ein jüdischer Midrasch?

Joh 1,1.4-5

 So legt der jüdische Autor Daniel Boyarin den bekannten Text aus – ich will hier kurz schildern, wie er das macht – und warum ich seine Argumentation bemerkenswert finde.

Der Beginn der Bibel (EÜ)

Wie definiert Boyarin Midrasch? »Eine der charakteristischsten Formen von Midrasch ist die Homilie über eine Perikope, oder einen Auszug des Pentateuchs, die sich explizit oder implizit auf Texte entweder der Propheten oder der Schriften (im besonderen sehr häufig Psalmen, Hoheslied oder Weisheitsliteratur) beruft. So entsteht ein intertextueller Rahmen von Ideen und Sprache, der verwendet wird, um den Text des Pentateuch, über den gepredigt wird, zu interpretieren und zu erweitern.« (S. 95, eigene Übersetzung) In diesem Sinne deutet Boyarin Joh 1,1-18 als Midrasch über Gen 1,1 ff unter Zuhilfenahme von Spr 8,22-31. Der Bezug auf Gen 1 steht außer Streit – siehe die oben animierten gemeinsamen Stichwörter beider Texte. Aber ist mit dem göttlichen Logos nicht der Boden des Judentums verlassen?

Ein Blick auf den Text aus Spr 8 hilft hier weiter: »Der Herr hat mich geschaffen im Anfang seiner Wege, / vor seinen Werken in der Urzeit; in frühester Zeit wurde ich gebildet, / am Anfang, beim Ursprung der Erde. Als die Urmeere noch nicht waren, / wurde ich geboren, / als es die Quellen noch nicht gab, die wasserreichen. Ehe die Berge eingesenkt wurden, / vor den Hügeln wurde ich geboren. Noch hatte er die Erde nicht gemacht und die Fluren / und alle Schollen des Festlands. Als er den Himmel baute, war ich dabei, / als er den Erdkreis abmaß über den Wassern, als er droben die Wolken befestigte / und Quellen strömen ließ aus dem Urmeer, als er dem Meer seine Satzung gab / und die Wasser nicht seinen Befehl übertreten durften, als er die Fundamente der Erde abmaß, / da war ich als geliebtes Kind bei ihm. Ich war seine Freude Tag für Tag / und spielte vor ihm allezeit.« (Spr 8,22-31)

Die personifizierte göttliche Weisheit ist dem Ersten Testament und dem Judentum des zweiten Tempels also nicht fremd (vgl. auch Ijob 28,12-28; Sir 24,1-34; Bar 3,9-4,4; Weish 7,22-10,21). Aber Johannes spricht doch vom Logos – nicht von der Weisheit? Boyarin verweist darauf, dass der Johannesprolog natürlich vom Wort spricht, weil er Gen 1 auslegt (Und Gott sprach: es werde Licht – und es wurde Licht …). Eine alte jüdische Auslegungstradition identifiziert das »im Anfang« allerdings mit Gottes Weisheit, so dass das palästinensische Targum den Beginn der Bibel: »Im Anfang schuf Gott …« als »Mit Weisheit schuf Gott« wiedergibt. Ein christlicher Zeuge für dieses Synonym ist übrigens Augustinus (Confessiones XI,8-9).

Der Johannesprolog erzählt die Geschichte des göttlichen Wortes, dessen Licht in der Finsternis schien, aber nicht  von ihr begriffen wurde. Insgesamt drei Versuche des göttlichen Wortes in die Welt zu kommen, schildert der Prolog: bei der Schöpfung kam es in die Welt (Joh 1,9-10); dann offenbarte es sich verschiedenen Zeugen (Joh 1,12-13) – der bekannteste von ihnen war Abraham. Hier beruft sich Boyarin auf Gen 15,1: »Nach diesen Ereignissen erging das Wort des Herrn in einer Vision an Abram« (allerdings liest die Septuaginta hier nicht lógos, wie Boyarin meint, sondern hrēma) und auf Justin den Märtyrer. Der spricht in seiner Apologie mehrfach davon, dass der Logos bereits vor der Fleischwerdung erkannt wurde.

Aber: der Logos stieß auch immer wieder auf Ablehnung und Widerstand (Joh 1, 10-11). Auch diese Vorstellung war dem Judentum des Zweiten Tempels nicht fremd:»Da die Weisheit keinen Platz fand, wo sie wohnen sollte, wurde ihr in den Himmeln eine Wohnung zuteil. Als die Weisheit kam, um unter den Menschenkindern Wohnung zu nehmen, und keine Wohnung fand, kehrte die Weisheit an ihren Ort zurück und nahm unter den Engeln ihren Sitz.« (1 Henoch 42, Übersetzung Kautzsch)

Den Abschluss bildet die endgültige Offenbarung des bis dahin fleischlosen Logos (lógos asarkos): »Und das Wort ist Fleisch geworden / und hat unter uns gewohnt« (Joh 1,14). Um Missverständnisse zu vermeiden, würde ich übersetzen: »und der Logos ist Mensch geworden« – und, um Papst Benedikt XVI zu zitieren (vgl. Band I S. 363 seines Jesusbuches), der Logos hat unter uns »gezeltet« – wie der griechische Text sagt – eine Aussage, die natürlich nur durch die Tora verständlich wird (vgl. Ex 25-31).

Damit kommt Boyarin zum Schluss des Hymnus: »Denn das Gesetz wurde durch Mose gegeben, die Gnade und die Wahrheit kamen durch Jesus Christus. Niemand hat Gott je gesehen. Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht.« (Joh 1,17-18). Seine Deutung: die Gabe der Tora an Israel hatte auch in innerjüdischer Sicht nicht das gewünschte Ergebnis: »Eben deshalb verfallen, die auf Erden weilen, der Pein, weil sie trotz der Vernunft, die sie doch besaßen, gottlos gehandelt, weil sie die Gebote, die sie doch erhalten, nicht beobachtet, und das Gesetz, das ihnen doch gegeben, trotzdem sie es empfangen, gebrochen haben.« (4 Ezra 7,72, Übersetzung Kautzsch – vgl. Joh 7,19!).

Das eigentlich neue am Johannesprolog ist für Boyarin die Identifizierung des Logos mit dem Menschen Jesus – alle anderen Elemente sieht er in der jüdischen Ära des zweiten Tempels bereits vorhanden. Seine faszinierende Schlussfolgerung für das Generalthema seines Buches: »In Kürze, die vertikale Achse: Jesus-Gläubige gegen Nicht-Jesus-Gläubige markierte nicht die Grenze zwischen dem Glauben an die Logos-Theologie und der Bestreitung der Logos-Theologie. Vielmehr, die Unterscheidung kreuzte wie eine horizontale Achse beide Kategorien, die durch die vertikale Achse definiert wurden. [Es gab also nicht Jesus-Gläubige-Juden, die eine Logos-Theologie vertraten, genauso wie Jesus-Gläubige Juden, die sie ablehnten; vgl. 1 Joh 4,1-6; Anmerkung OA]. Die Verschiebung dieser Achse von der Horizontalen in die Vertikale war, wie ich versuchen werde nachzuweisen, das Werk der Häresiologen beider Gemeinschaften und gegen Ende unserer Periode [Ende des 4. Jh.] wurde das das Merkmal der theologischen Differenz zwischen Judentum und Christentum.« (Boyarin, S. 92f., eigene Übersetzung).

PS: Boyarin liefert auch noch eine talmudische Parallele zu einer schon von mir besprochenen schwierigen Passage des Johannesevangeliums: BT Yebamot 16a. Für ihn ist klar, dass hier nicht von einem  »Antisemitismus« des Vierten Evangeliums die Rede sein kann – weil es sich um eine innerjüdische Auseinandersetzung handelt.

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