Wie endet das Markus-Evangelium?

Eine nur auf den ersten Blick seltsame Frage: wie das Markus-Evangelium eigentlich endet, ist bis heute nicht unumstritten. Ich zeige hier, warum das so ist.
Bischof Eusebius von Caesarea (ca. 263 – ca. 339) – einem herausragenden Kenner der Evangelien und ihrer Beziehungen zueinander – wurden von seinem Freund Marinus eine Reihe von kniffligen Fragen zu den Ostererzählungen der Evangelien vorgelegt, und im einzelnen ausführlich von ihm beantwortet. Dabei hebt Eusebius in seiner Einleitung hervor, dass diese Fragen immer und von allen gelöst werden wollten (»τῶν αὐτῶν πάντοτε τοῖς πᾶσι ζητούμενα«). 1

Die erste Frage lautet: Πῶς παρὰ μὲν τῷ Ματθαίῳ ὀψὲ Σαββάτων φαίνεται ἐγηγερμένος ὁ Σωτὴρ, παρὰ δὲ τῷ Μάρκῳ πρωῒ τῇ μιᾷ τῶν Σαββάτων.
»Wie kann es sein, dass der auferweckte Erlöser nach Matthäus spät am Sabbat 2 erscheint, aber nach Markus früh am Morgen des ersten (Tages) der Woche?« 3

Die erste Antwort, 4 die Eusebius darauf gibt, ist hochinteressant, denn sie verweist auf die Frage nach dem ursprünglichen Schluss des Markusevangeliums. Der Bischof von Caesarea schreibt:

Ὁ μὲν γὰρ τὸ κεφάλαιον αὐτὸ τὴν τοῦτο φάσκουσαν περικοπὴν ἀθετῶν, εἴποι ἂν μὴ ἐν ἅπασιν αὐτὴν φέρεσθαι τοῖς ἀντιγράφοις τοῦ κατὰ Μάρκον Εὐαγγελίου· τὰ γοῦν ἀκριβῆ τῶν ἀντιγράφων τὸ τέλος περιγράφει τῆς κατὰ τὸν Μάρκον ἱστορίας ἐν τοῖς λόγοις τοῦ ὀφθέντος νεανίσκου ταῖς γυναιξὶ καὶ εἰρηκότος αὐταῖς, «Μὴ φοβεῖσθε, Ἰησοῦν ζητεῖτε τὸν Ναζαρηνόν·» καὶ τοῖς ἑξῆς, οἷς ἐπιλέγει· «καὶ ἀκούσασαι ἔφυγον, καὶ οὐδενὶ οὐδὲν εἶπον, ἐφοβοῦντο γάρ.» Ἐν τούτῳ γὰρ σχεδὸν ἐν ἅπασι τοῖς ἀντιγράφοις τοῦ κατὰ Μάρκον Εὐαγγελίου περιγέγραπται τὸ τέλος· τὰ δὲ ἑξῆς σπανίως ἔν τισιν ἀλλ‘ οὐκ ἐν πᾶσι φερόμενα περιττὰ ἂν εἴη, καὶ μάλιστα εἴπερ ἔχοιεν ἀντιλογίαν τῇ τῶν λοιπῶν εὐαγγελιστῶν μαρτυρίᾳ. (MPG XXII, 937)

»Die Hauptsache selbst ist die Perikope, die das sagt. Beseitigt man sie, kann man etwa sagen, dass sie nicht in allen Kopien des Evangeliums nach Markus enthalten ist: jedenfalls bezeichnet eine genaue Kopie des (Evangeliums) nach Markus das Ende der Erzählung mit den Worten des jungen Mannes, der von den Frauen gesehen wurde und ihnen dabei sagte: Fürchtet euch nicht, ihr sucht Jesus, den Nazarener 5 usw., dem fügt er hinzu: als sie das hörten, flohen sie und sagten niemand irgendetwas, denn sie fürchteten sich. 6 Denn damit ist das Ende des Evangeliums nach Markus in fast allen Kopien bezeichnet worden. Das Nachfolgende aber, das selten in einigen, nicht aber in allen enthalten ist, mag wohl überflüssig sein, und ganz besonders, wenn es wirklich einen Widerspruch zum Zeugnis der übrigen Evangelisten mit einschließt.« (MÜ)

Soweit Eusebius. 7 Hier der Schluss des Markus-Evangeliums im Codex Vaticanus, einem der wichtigsten Textzeugen des Neuen Testamentes. Die wertvolle Pergamenthandschrift stammt aus dem 4. Jh. Sie endet mit Mk 16,8.

Markusschluss im Codex Vaticanus
Markusschluss im Codex Vaticanus

Gregor von Nyssa

Ein weiterer Zeuge sei hier noch angeführt. Gregor, Bischof von Nyssa (gest. 394), einer der drei Kappadozier und Bruder des Basilius von Caesarea, schreibt in seiner zweiten Rede über die Auferweckung Jesu:

Ἐν μὲν τοῖς ἀκριβεστέροις ἀντιγράφοις τὸ κατὰ Μάρκον Εὐαγγέλιον μέχρι τοῦ, Ἐφοβοῦντο γαρ, ἔχει τὸ τέλος. Ἐν δέ τισι πρόσκειται καὶ ταῦτα· Ἀναστὰς δὲ πρωῒ πρώτῃ σαββάτου ἐφάνη πρῶτον Μαρίᾳ τῇ Μαγδαληνῇ, ἀφʼ ἧς ἐκβεβλήκει ἑπτὰ δαιμόνια. (MPG XLVI, 644-645)

»In der Tat findet das Evangelium nach Markus in den genaueren Kopien mit den (Worten) denn sie fürchteten sich 8 sein Ende. Aber in einigen (Kopien) fügt man diese an: Aber auferstanden früh am ersten (Tag) der Woche erschien er zuerst Maria Magdalena, von der er sieben Dämonen ausgetrieben hatte9 (MÜ)

Irenäus von Lyon

Der Bischof von Lyon (gest. um 200) ist der wohl früheste Zeuge für den Abschluss des Markus-Evangeliums mit den Versen Mk 16,9 ff. Der ursprünglich griechisch geschriebene Text des Irenäus, den ich hier zitiere, ist nur in einer anonymen lateinischen Übersetzung erhalten geblieben. Die Passage findet sich in dem großen Werk »Gegen die Häresien« III,10,6:

In fine autem Evangelii ait Marcus: „et quidem Dominus Jesus, postquam locutus est eis, receptus est in cælos et sedet ad dexteram Dei;“. (MPG VII, 879)

»Aber am Ende des Evangeliums sagt Markus: Ja, der Herr Jesus wurde, nachdem er mit ihnen gesprochen hat, in den Himmel aufgenommen und sitzt zur Rechten Gottes10 (MÜ)

Der kürzere Schluss

Doch mit diesen beiden Möglichkeiten, also das Evangelium endete mit Mk 16,8 oder es endete mit Mk 16,20 ist es noch nicht getan. Die Manuskripte L (Paris, 8. Jh.), Ψ (Athos, 9. Jh.), 099 (Paris, VII. Jh.), 0112 (St. Petersburg, 7./8. Jh.) und andere 11 haben nach Mk 16,8 ungefähr folgenden Schluss:

Doppelter Markusschluss im Codex Regius
Doppelter Markusschluss im Codex Regius

(Hier bietet der Codex Regius oder L 019 aus dem 8. Jh. einen dreifachen Markusschluss: einmal mit Mk 16,8, dann den unten angeführten kürzeren Schluss und schließlich den Anfang von Mk 16,9 ff.).

Πάντα δὲ τὰ παρηγγελμένα τοῖς περὶ τὸν Πέτρον συντόμως ἐξήγγειλαν. Mετὰ δὲ ταῦτα καὶ αὐτὸς ὁ Ἰησοῦς ἀπὸ ἀνατολῆς καὶ ἄχρι δύσεως ἐξαπέστειλεν διʼ αὐτῶν τὸ ἱερὸν καὶ ἄφθαρτον κήρυγμα τῆς αἰωνίου σωτηρίας. Ἀμήν.

»Sie machten all das Verkündete in Kürze denen um Petrus bekannt. Danach aber sandte Jesus auch selbst durch sie vom Aufgang (=Osten) bis zum Untergang (=Westen) die heilige und unvergängliche Verkündigung der ewigen Erlösung aus. Amen« (MÜ)

Doch das Gewicht dieser Handschriften ist zu gering, um als ursprünglicher Schluss in Betracht zu kommen. Doch einen hab ich noch: es handelt sich um das berühmte »Freer Logion«, das im Codex Washingtonianus (W 032) aus dem 5. Jh. überliefert worden ist. 12

Das Freer-Logion

Codex Washingtonianus mit Free-Logion
Codex Washingtonianus mit Free-Logion

Hier wird nach dem heutigen Vers Mk 16,14 folgender Text geboten, ich folge der Transkription von Caspar René Gregory. Die Zeilenumbrüche sind dabei erhalten geblieben, was ich versucht habe, in der Übersetzung nachzuvollziehen.

κάκεῖνοι ἀπελογοῦντο λέγοντες ὅτι ὁ
αἰὼν οὗτος τῆς ἀνομίας καὶ τῆς ἀπιστίας
ὑπὸ τὸν σατανᾶν ἐστιν ὅ μὴ ἐῶν τὰ ὑπὸ
τῶν πνευμάτων ἀκάθαρτα τὴν ἀλήθειαν
τοῦ θεοῦ καταλαβέσθαι δύναμιν διὰ
τοῦτο ἀποκάλυψον σοῦ τὴν δικαιοσύ
νην ἤδη ἐκεῖνοι ἔλεγον τῷ χριστῷ καὶ ὁ
χριστὸς ἐκείνοις προσέλεγεν ὅτι πεπλήρω
ται ὁ ὅρος τῶν ἐτῶν τῆς ἐξουσίας τοῦ
σατανᾱ ἀλλὰ ἐγγίζει ἄλλα δεινά καὶ ὑ
πὲρ ὧν ἐγὼ ἁμαρτησάντων παρεδόθην
εἰς θάνατον ῾ΐνα ὑποστρέψωσιν εἰς τὴν
ἀλήθειαν καὶ μηκέτι ἁμαρτήσωσιν·
ἵνα τὴν ἐν τῷ οὐρανῷ πνευματικὴν καὶ ἄ
φθαρτον τῆς δικαιοσύνης δόξαν
κληρονομήσωσιν ἀλλὰ πορευθὲν

»Und jene entschuldigten sich indem sie sagten, dass
dieses Zeitalter der Gesetzlosigkeit und der Treulosigkeit
Satan unter(worfen) ist, der nicht zuließ durch die
unreinen der Geister, dass die Wahrheit
Gottes begriffen werden konnte, die Kraft (Gottes). „Des-
halb offenbare deine Gerechtig-
keit in dieser Zeit“ sagten jene zu Christus. Und
Christus sprach zu ihnen: „Erfül-
lt ist die Grenze der Jahre der Vollmacht des
Satans. Aber es nahen sich andere Schrecken und f-
ür die, die sündigten, wurde ich gegeben
in den Tod, damit sie umkehren werden zu der
Wahrheit und nicht mehr sündigen:
damit sie die im Himmel seiende geistliche und un-
vergängliche Herrlichkeit der Gerechtigkeit
erben werden“. Aber sie wurden ausgesendet« (MÜ)

Dieser Abschnitt schließt sich an den Tadel des Herrn an die Jünger in Mk 14,6 an. Hieronymus (347-420) dürfte dieses Logion bekannt gewesen sein, er führt eine Art lateinische Kurzfassung in seinem Werk »Dialog gegen die Pelagianer« an.

In quibusdam exemplaribus et maxime in Graecis codicibus, juxta Marcum in fine ejus Evangelii scribitur: Postea cum accubuissent undecim, apparuit eis Jesus, et exprobravit incredulitatem et duritiam cordis eorum, quia his qui viderant eum resurgentem, non crediderunt (Marc. XVI, 14). Et illi satisfaciebant dicentes: Scimus quoniam ex Deo sumus: et mundus totus in maligno positus est (I Joan. V, 19). (Dialogus adversus Pelagionos, II, 15)

»In einigen Abschriften und vor allem in griechischen Kodizes steht am Ende des Evangeliums nach Markus: Nachdem sich die Elf zu Tische gelegt hatten, erschien ihnen Jesus und tadelte den Unglauben und die Härte ihres Herzens, weil sie denen nicht glaubten, die ihn als Auferstandenen gesehen hatten (Mk 16,14). Und jene rechtfertigten sich, indem sie sagten: Wir wissen, weil wir aus Gott sind: aber die ganze Welt liegt im argen (1 Joh 5,19).« (MÜ)

Zusammenfassung

Wir stehen also vor dem erstaunlichen Ergebnis, dass in den Handschriften vier verschiedene Enden des Evangeliums nach Markus enthalten sind. In der Exegese besteht weitgehende Einigkeit, dass die Handschriften, die mit Mk 16,8 enden, am besten bezeugt sind und das größte Gewicht haben.

Sowohl der heutige Schlussabschnitt Mk 16,9-20, als auch der kürzere Schluss wie auch das Freer-Logion können gut dadurch erklärt werden, dass bereist sehr früh das jähe Ende des Evangeliums Da verließen sie das Grab und flohen; denn Schrecken und Entsetzen hatten sie gepackt. Und sie sagten niemand etwas davon; denn sie fürchteten sich (Mk 16,8 EÜ) als unbefriedigend empfunden wurde.
Also fügte man eine Art Synopse der Auferstehungsberichte der anderen Evangelien ein (Mk 16,9-20) oder ergänzte einen anderen Abschluss (kürzerer Schluss, Freer-Logion).

Die entscheidende Frage ist: Hat Markus bewusst mit diesem Vers 16,8 aufgehört – oder ist der ursprüngliche Schluss verloren gegangen? Letztere Ansicht vertritt etwa Benedikt XVI. in seinem Jesusbuch. 13 Wie auch immer – letztendlich ist der sicherlich sekundäre Markusschluss Mk 16,9-20 kanonisch geworden – und findet sich in unseren Bibelausgaben.

Show 13 footnotes

  1. MPG XXII, 937
  2. Mt 28,1
  3. Mk 16,2
  4. Dass eine Antwort nicht genügt, macht die einleitende Bemerkung dazu klar: Τούτου διττὴ ἂν εἴη ἡ λύσις· »Die Lösung dieser (Frage) könnte eine zweifache sein.«
  5. Mk 16,6
  6. Mk 16,8
  7. Eusebius lässt es übrigens bei der Beantwortung der Frage nicht bei dieser möglichen Emendation bewenden, er argumentiert auch im Sinne der derjenigen, die an dem heutigen Markusschluss festhalten wollen. Im Wesentlichen läuft es darauf hinaus, dass man zwischen dem Zeitpunkt der Auferstehung und dem Zeitpunkt der Erscheinungen unterscheiden muss.
  8. Mk 16,8
  9. Mk 16,9
  10. Mk 16,19
  11. Vgl. Bruce M. Metzger: A textual Commentary on the Greek New Testament, Second Edition, S. 103
  12. Der Codex Washingtonianus wird auch Codex Freerianus genannt – daher die Bezeichnung Freer-Logion. Der Namen geht auf den Käufer des Codex zurück, Herrn Charles Lang Freer aus Detroit, der ihn 1907 erwarb. Die ganze Geschichte ist hier nachzulesen.
  13. »Es ist unmöglich, dass das Evangelium mit den daran anschließenden Worten vom Schweigen der Frauen geendet hätte: Es setzt ja die Mitteilung ihrer Begegnung voraus.« (Jesus von Nazareth, II S. 287)

6 Gedanken zu „Wie endet das Markus-Evangelium?“

  1. Meines Erachtens lässt sich der ursprüngliche Schluss des Markusevangeliums aus Matthäus erschließen: Im Unterschied zu dem Bericht bei Markus gehen die Frauen bei Matthäus vom leeren Grab weg „mit Furcht und großer Freude und liefen, um es seinen Jüngern zu verkündigen.“ Damit findet das Erleben am Grab einen sinnvollen Abschluss. Trotzdem wird anschließend von einer unmittelbaren Begegnung mit dem Auferstandenen berichtet. M. A. ist d die Fortsetzung die das ursprüngliche Markusevangelium gegeben hat. Denn dort ist angesichts der Verwirrung der Frauen eine Begegnung mit dem Auferstandenen, die den Befehl des Engels wiederholt, dringend notwendig. Dem entspricht auch das Ende bei Mt. in Galiläa.

    1. Die Handschriften und das Zeugnis der Väter lassen mich wiederum davon ausgehen, dass der abrupte Schluss in der Absicht des Markus lag.

      1. Die Handschriften und Zeugnisse der Kirchenväter geben keine Auskunft über die Vorgänge, die vor der Zusammenstellung des NT-Kanon liegen, als das MK-Ev. eine Einzelschrift war. 16,8 als deren Ende ist vom Zusammenhang und der Zielstellung („Evangelium“) für mich nicht denkbar. Meine These: Um den Widerspruch zwischen der Konzentration der Ostereignisse auf Jerusalem und der Ankündigung des Engels, dass die Jünger den Herrn in Galiläa sehen sollen, zu mildern, wurde der Schluss, den mindestens Matthäus bei Markus gelesen hat, gekürzt.

        1. Der Unterschied ist: ich kann auf Handschriften verweisen – und auf das Zeugnis der Väter vor dem Kanonschluss. Sie haben nur Ihre Behauptung. Die Aussage „Die Handschriften und Zeugnisse der Kirchenväter geben keine Auskunft über die Vorgänge, die vor der Zusammenstellung des NT-Kanon liegen“, ist sachlich falsch.

          1. Mit dem letzten Satz haben sie Recht. Ich korrigiere mich: “ keine erschöpfende Auskunft“.
            Jedenfalls bin ich nicht der einzige, der mit einem „Urmarkus“ rechnet, ebenso wenig bin ich der einzige, der den von den ältesten Handschriften überlieferten Schluss nicht für den ursprünglichen hält ( z.B. Papst Benedikt). Schließlich sind unsere ältesten Handschriften wesentlich jünger als die allgemein angenommene Entstehungszeit des Mk-Evangeliums.

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