Die Schrift in der Bibel

Immer wieder finden sich im neuen Testament Schrift-Zitate, die sich (mit wenigen Ausnahmen) auf die Texte beziehen, die Christen heute als Altes Testament bezeichnen. Dabei differenzieren die griechischsprachigen Schreiber des NT sorgfältig zwischen Aussagen im Singular („die Schrift“) und Aussagen im Plural („die Schriften“) – was in einigen deutschsprachigen Übersetzungen unterschlagen wird. Nach einer Analyse der relevanten Stellen werde ich die theologische Bedeutung dieser Differenzierung untersuchen.

Statistik

Das Wort für „Schrift“ lautet im Griechischen γραφή (graphḗ). Hier die Auflistung der Stellen, die es im Singular oder aber im Plural verwenden:

Im Singular Zitiert wird
Mk 12,10 eine konkrete Schriftstelle – Ps 118,22 f
Mk 15,28 Jes 53,12
Lk 4,21 das Schriftwort aus Jes, über das Jesus predigt
Joh 2,22 Ps 69,10
Joh 7,38 siehe unten bei „Sonderfälle“
Joh 7,42 gemeint ist Mi 5,1.3 (vgl. Mt 2,5-6!)
Joh 10,35 Ps 82,6
Joh 13,18 Ps 41,10
Joh 17,12 siehe unten bei „Sonderfälle“
Joh 19,24 Ps 22,19
Joh 19,28 siehe unten bei „Sonderfälle“
Joh 19,36 Ex 12,10.46 (LXX)
Joh 19,37 Sach 12,10 LXX
Joh 20,9 siehe unten bei „Sonderfälle“
Apg 1,16 Ps 69,26 und Ps 109,8
Apg 8,32 Jes 53,7-8, gelesen vom Äthiopier
Apg 8,35 Philippus legt eben diese Stelle aus
Röm 4,3 Gen 15,6
Röm 9,17 Ex 9,16
Röm 10,11 Jes 28,16
Röm 11,2 leitet ein Zitat aus 1 Kön 19,10.14 ein
Gal 3,8 leitet Zitat aus Gen 12,3 und 18,18 ein
Gal 3,22 siehe unten bei „Sonderfälle“
Gal 4,30 Gen 21,10 LXX
1 Tim 5,18 Dtn 25,4
2 Tim 3,16 siehe unten bei „Sonderfälle“
Jak 2,8 Lev 19,18
Jak 2,23 Gen 15,6
Jak 4,5 siehe unten bei „Sonderfälle“
1 Petr 1,26 Jes 28,16
2 Petr 1,20 siehe unten bei „Sonderfälle“

Im Plural:

Im Plural genannt wird
Mt 21,42 Ps 118,22-23 (!)
Mt 22,29 Ihr kennt nicht die Schriften
Mt 26,54 Die Schriften werden erfüllt
Mt 26,56 Die Schriften der Propheten
Mk 12,24 Ihr kennt nicht die Schriften
Mk 14,49 Die Schriften werden erfüllt
Lk 24,27 in allen Schriften (Emmaus)
Lk 24,32 wie er uns die Schriften öffnete
Lk 24,45 dann öffnete er ihnen das Verständnis der Schriften
Joh 5,39 Ihr erforscht die Schriften
Apg 17,2 Paulus predigt von den Schriften ausgehend
Apg 17,11 sie befragten täglich die Schriften
Apg 18,24 ein Starker in den Schriften
Apg 18,28 durch die Schriften zeigen, dass Jesus Christus ist
Röm 1,2 durch seine Propheten in heiligen Schriften
Röm 15,4 durch die Ermutigung der Schriften Hoffnung haben
Röm 16,26 offenbart durch prophetische Schriften
1 Kor 15,3 siehe unten bei „Die deutschen Übersetzungen“
1 Kor 15,4 siehe unten bei „Die deutschen Übersetzungen“
2 Petr 3,16 Paulusbriefe – wie auch die übrigen Schriften

Die Sonderfälle

Joh 7,38

Wer an mich glaubt, wie die Schrift gesagt hat, aus seinem Leibe[w. aus seinem Bauch] werden Ströme lebendigen Wassers fließen. (Elberfelder). Klaus Wengst schreibt in seinem Kommentar zur Stelle: »Doch ist diese Aussage weder in der hebräischen noch in der griechischen Bibel noch in einer sonstigen bekannten Schrift des antiken Judentums zu finden. Es kann einer verlorenen Schrift entstammen.«1 Als Alternative schlägt er ein »kontaminiertes Zitat« vor und verweist dabei auf Jes 12,3; 44,3; Ez 47,1-12 – jeweils in Verbindung mit rabbinischen Texten.
Schnackenburg gesteht ebenfalls ein, dass dieses Schriftwort »in dieser Fassung nirgends zu finden« ist und vermutet entweder »eine Kombination von Schriftstellen durch den Evangelisten« oder »eine freie Wiedergabe einer einzigen Schriftstelle«. 2 Für meine Frage entscheidend ist, dass es hier um ein konkretes Zitat geht – woher auch immer es stammen mag.

Joh 17,12

Als ich bei ihnen war, bewahrte ich sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast; und ich habe sie behütet, und keiner von ihnen ist verloren, als nur der Sohn des Verderbens, damit die Schrift erfüllt werde. (Elberfelder) Schnackenburg sieht einen Bezug zu Ps 41,10, weil dieser Psalmvers schon in Joh 13,18 wörtlich zitiert wird. 3 Diese Deutung wird auch von Klaus Wengst vertreten. 4 Allerdings redet Ps 41 nicht von einem »Sohn des Verderbens«. Raymond E. Brown spricht in seinem Kommentar allgemein von einer Bezeugung des göttlichen Plans im Alten Testament, 5 bleibt damit aber viel zu allgemein. Ich meine, dass Johannes ein konkretes Zitat im Sinn hat, das sich in unseren heutigen Heiligen Schriften nicht mehr findet (so wie oben in Joh 7,38).

Joh 19,28

Danach, da Jesus wusste, dass alles schon vollbracht war, spricht er, damit die Schrift erfüllt würde: Mich dürstet!. Hier steht – zumindest indirekt – Ps 69,22 im Hintergrund: und in meinem Durst tränkten sie mich mit Essig (beide Übersetzungen Elberfelder). Jesus sagt, dass er Durst hat, damit die Umstehenden Jesus Essig reichen können, was in Joh 19,29 geschieht.

Joh 20,9

Denn sie verstanden die Schrift noch nicht, dass er aus den Toten auferstehen musste (Elberfelder). Dieser Vers scheint gegen meine These zu sprechen, dass mit »Schrift« im Singular immer ein konkretes Zitat gemeint sei. Wird hier »Schrift« nicht im Sinne von »die Gesamtheit aller Schriften« verwendet? Ich habe gute Argumente dagegen: das konkrete Schriftwort, das Johannes hier zitiert ist Ps 15,10 LXX (entspricht Ps 16,10 in unseren heutigen Ausgaben): denn du wirst meine Seele nicht der Unterwelt preisgeben noch zulassen, dass dein Frommer die Vernichtung sieht (Übersetzung LXX deutsch). Die Übersetzer fügen hinzu, dass der Ausdruck „Vernichtung“ auch als „Verderben“ oder „Verwesung“ übersetzt werden kann. Wie selbstverständlich und bedeutsam dieses Psalmwort in der urchristlichen Verkündigung war, belegen Apg 2,27+31 und 13,34-37! Ich meine also, dass Johannes dieses konkrete Psalmwort im Sinn hatte.

Gal 3,22

ἀλλὰ συνέκλεισεν ἡ γραφὴ τὰ πάντα ὑπὸ ἁμαρτίαν, ἵνα ἡ ἐπαγγελία ἐκ πίστεως Ἰησοῦ Χριστοῦ δοθῇ τοῖς πιστεύουσιν. (NA 28). Sondern die Schrift schloss alle unter die Sünde zusammen, damit die Verheißung auf Grund der Treue des Messias den Vertrauenden gegeben werde. (MÜ. Warum ich ἐκ πίστεως Ἰησοῦ Χριστοῦ nicht als »aus Glauben an Jesus Christus« übersetzt habe, habe ich hier ausgeführt.) Ich meine, dass Paulus auch hier ein konkretes Zitat meint, nämlich Dtn 27,26 LXX, das von ihm wörtlich in Gal 3,10 gebracht wird: Verflucht (sei) jeder Mensch, der nicht in allen Worten dieses Gesetzes bleibt, indem er sie tut. (Ü: LXX Deutsch) Durch dieses konkrete Wort hat die Schrift für den Apostel alle Menschen unter die Sünde zusammengeschlossen, weil niemand in allen Worten dieses Gesetzes geblieben ist – außer dem Messias.

2 Tim 3,16

πᾶσα γραφὴ θεόπνευστος καὶ ὠφέλιμος πρὸς διδασκαλίαν, πρὸς ἐλεγμόν, πρὸς ἐπανόρθωσιν, πρὸς παιδείαν τὴν ἐν δικαιοσύνῃ (NA 28). Nach allem bisher Gesagten kann der Vers nur bedeuten: Jedes gottbegeisterte Schriftzitat ist auch nützlich zur Lehre, zur Überführung, zur Besserung, zur Erziehung – [und zwar] der in Gerechtigkeit. (MÜ)

Jak 4,5

ἢ δοκεῖτε ὅτι κενῶς ἡ γραφὴ λέγει· πρὸς φθόνον ἐπιποθεῖ τὸ πνεῦμα ὃ κατῴκισεν ἐν ἡμῖν (NA 28). Oder meint ihr, dass die Schrift umsonst rede: „Eifersüchtig sehnt er sich nach dem Geist, den er in uns wohnen ließ“? (Elberfelder). Die Elberfelder meint in einer Fußnote: »vermutlich ein Zitat aus einer uns unbekannten Schrift«. Franz Mussner zur Stelle: „Wo aber sagt ‚die Schrift‘ so? Wörtlich nirgends. Jak unterstellt vielmehr ein ‚Schriftwort‘, das vielleicht aus einem sonst unbekannten Apokryphon entnommen (vgl. ApkMos 31!), aber aus atl. Anschauungen und Elementen gewonnen ist.“ 6

2 Petr 1,20

τοῦτο πρῶτον γινώσκοντες ὅτι πᾶσα προφητεία γραφῆς ἰδίας ἐπιλύσεως οὐ γίνεται· Dies zuerst erkennend, daß jede Prophetie (der) Schrift nicht (Sache) eigener Auflösung ist (Münchener NT). Hier ist wiederum nicht von der ganzen Schrift die Rede, sondern von einzelnen Prophetenworten, wie die Fortsetzung zeigt: Denn nicht durch den Willen eines Menschen erging jemals eine Prophetie, sondern vom Heiligen Geist getragen redeten von Gott (her) Menschen. (2 Petr 1,21, Münchener NT) Der Unterschied ist deutlich zu sehen, wenn wir damit 2 Petr 3,16 vergleichen: Das hat euch auch unser geliebter Bruder Paulus mit der ihm geschenkten Weisheit geschrieben; es steht in allen seinen Briefen, in denen er davon spricht. In ihnen ist einiges schwer zu verstehen und die Unwissenden, die noch nicht gefestigt sind, werden diese Stellen ebenso verdrehen wie die übrigen Schriften zu ihrem eigenen Verderben. (2 Petr 3,15b-16). Hier werden die Paulusbriefe zu den Schriften gezählt und ihnen damit bereits die gleiche Autorität zugesprochen wie der Bibel Israels. Für das NT meiner Meinung ein singulärer Vorgang.

Auswertung

„Die Schrift“ (im Singular) bezieht sich immer auf ein konkretes Schriftwort, ein konkretes Schriftzitat, selbst wenn wir es in unserer heutigen Bibel nicht mehr finden (wie Jak 4,5). „Die Schriften“ (im Plural) beziehen sich (mit einer Ausnahme, s.u.) immer auf eine Sammlung heiliger Schriften und entsprechen daher dem, was wir heute im allgemeinen Sprachverständnis als „die heilige Schrift“ oder als „die Bibel“ bezeichnen würden. Der Ausdruck Bibel war den neutestamentlichen Verfassern allerdings unbekannt.

Ursprünglich ist das griechische Wort τὰ βιβλία (tá biblía) bezeichnenderweise ein Plural. Es wird meines Wissens erstmals von Johannes Chrysostomos als Bezeichnung für eine Sammlung von Schriften des AT und NT verwendet.

Die einzige Ausnahme, die nicht zu meiner These passt, ist Mt 21,42. Denn hier wird mit der Bezeichnung „die Schriften“ ein konkretes Zitat aus Ps 118 eingeleitet. An der Lesart gibt es nichts zu rütteln, wie ein Blick in den kritischen Apparat zeigt.

Die deutschen Übersetzungen

Wenn die biblischen Verfasser hier sorgfältig zwischen Singular und Plural differenzieren, wäre es wünschenswert, dass deutsche Übersetzungen der Texte dies ebenfalls tun. Das ist leider nicht durchgehend der Fall. Ich bringe hier als Beispiel das älteste christliche Glaubensbekenntnis, das Paulus im ersten Korintherbrief überliefert hat.

³ Überliefert habe ich euch vor allem, was auch ich überkommen habe:
Der Messias starb für unsere Sünden
– gemäß den Schriften.
⁴ Und: Begraben ward er.
Und: Auferweckt worden ist er am dritten Tag
gemäß den Schriften.
⁵ Und: Zu schauen gab er sich Kephas, dann den Zwölf.
(1 Kor 15,3-5; Ü: Fridolin Stier)

Nach meinen bisherigen Beobachtungen spricht dieses Bekenntnis also nicht von einzelnen Schriftstellen, sondern von der Übereinstimmung des Wirkens des Messias Jesu mit dem Zeugnis aller Heiligen Schriften Israels. Der Plural hat hier also auch eine theologische Bedeutung. Was machen die gängigsten deutschen Übersetzungen daraus?

Luther 2017 nach der Schrift
Elberfelder nach den Schriften
REÜ gemäß der Schrift
Zürcher gemäß den Schriften
Schlachter 2000 nach den Schriften
BigS nach der Schrift

Das ist im Gesamtergebnis durchwachsen. Auffällig ist, dass die beiden im deutschsprachigen Gottesdienst wohl am häufigsten verwendeten Übersetzungen (Luther und REÜ) ihre Mitfeiernden um den Plural bringen. Und das ist schlecht.


  1. Klaus Wengst: Das Johannesevangelium, 1. Teilband, Kohlhammer ²2000, S. 303
  2. HThKNT Das Johannesevangelium II, Herder Verlag 1971 S. 215
  3. HThKNT Das Johannesevangelium III, Herder Verlag 1975 S. 207
  4. Das Johannesevangelium, 2. Teilband, Kohlhammer 2001, S. 99 und S. 183f.
  5. „Judas, the only exception to this protection, was not the product of weakness on Jesus’ part; rather he was part of the divine plan as witnessed in the Old Testament“. The Gospel and Epistles of John, Minnesota 1988 S. 85
  6. Franz Mussner: Der Jakobusbrief, HThKNT, Herder Verlag 1996, S. 183-184

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