Ich arbeite mich bei diesem Thema vom leichteren zum schwereren vor
und beginne deshalb mit der Frage: Zu welcher Uhrzeit wurde Jesus
gekreuzigt? Die Evangelien bieten dazu drei unterschiedliche
Antworten.
Die erste Antwort
Die erste Antwort auf die Frage nach der Uhrzeit findet sich bei
Markus. Er gibt an:
ἦν δὲ ὥρα ⸀τρίτη ⸂καὶ ἐσταύρωσαν⸃ αὐτόν. (Mk 15,25; NA XXVIII)
Es war nun die dritte Stunde, und sie kreuzigten ihn.
Die zweite Antwort
Die zweite Antwort gibt der vierte Evangelist. Nach ihm kann Jesus
nicht in der dritten Stunde gekreuzigt worden sein, denn:
ἦν δὲ παρασκευὴ τοῦ πάσχα, ὥρα ⸂ἦν ὡς⸃ ⸀ἕκτη. καὶ λέγει τοῖς
Ἰουδαίοις· ἴδε ὁ βασιλεὺς ὑμῶν. (Joh 19,14; NA XXVIII)
Es war nun der Rüsttag des Pessach, es war die sechste Stunde. Und er sagt zu den Judäern: Seht euren König!
Zu der Zeit als Jesus bei Markus schon drei Stunden am Kreuz hing, stand er im vierten Evangelium noch vor dem Richtstuhl des Pilatus.
Die dritte Antwort
Sie stammt von Matthäus und Lukas, die sich bezüglich des Zeitpunktes der Kreuzigung nicht festlegen. Worin dann alle Synoptiker übereinstimmen, ist die Todesstunde Jesu – die neunte Stunde. (Mt 27,46; Mk 15,34; Lk 23,44-46)
Was tun mit diesen unterschiedlichen Antworten?
Schon in der Antike war diese Frage bekannt und es gab schon früh Versuche, sie textkritisch zu lösen. Der erste mir bekannte Versuch stammt (natürlich) von einem alexandrinischen Presbyter Ammonius (der oft mit dem neuplatonischen Philosophen Ammonius Sakkas verwechselt wird) aus dem dritten Jahrhundert. Er schreibt in einem Kommentar zum Johannes 19,14:1
«Ἦν δὲ παρασκευὴ τοῦ Πάσχα, ὥρα δὲ ὡσεὶ ἕκτη, καὶ λέγει τοῖς
Ἰουδαίοις· Ἴδε ὁ βασιλεὺς ὑμῶν.» Τὴν ὥραν ἐπεσημήνατο ὁ εὐαγγελιστὴς,
διὰ τὴν ἀνάστασιν τὴν ἐν τῇ τρίτῃ γεγονυῖαν ἡμέρᾳ. Ὁ δὲ καλλιγράφος ἀντὶ
τοῦ Γάμμα στοιχείου, ὅπερ σημαίνει τὸ τρίτην, ἔγραψε τὸ ἐπίσημον, ὃ
καλοῦσιν οἱ Ἀλεξανδρεῖς Γαβέξ, ὃ δηλοῖ τὴν ἕκτην, πολλὴν ἔχοντα πρὸς
ἑαυτὰ τὴν ὁμοιότητα· καὶ διὰ τοῦ γραφικοῦ σφάλματος γέγονεν ἡ διαφωνία·
Ἀντὶ γὰρ τρίτης ὥρας, ἕκτην ἔγραψεν.
(Fragmente zum Johannes-Evangelium, MPG LXXXV 1512 B)
„Es war aber Rüsttag des Pessach, ungefähr die sechste Stunde, und er sagt zu den Juden: Seht euren König!“ (Joh 19,14) Die Stunde bezeichnet der Evangelist wegen der am dritten Tag geschehenen Auferstehung. Der Kopist aber schrieb an Stelle des Buchstabens Gamma (Γ), das den Dritten bezeichnet, das episēmon, dass die Alexandriner gabex nennen. Das zeigt den Sechsten an; sie haben zueinander eine große Ähnlichkeit. Und wegen des Schreibfehlers kam es zu der Unstimmigkeit. Anstatt der dritten Stunde schrieb er sechste [Stunde].
Nach Franco Montanari handelt es sich bei dem episēmon um den Buchstaben Stigma (Ϛ) 2. Bruce M. Metzger plädierte für das Digamma (Ϝ)3 Wie auch immer, die Erklärung, durch den Zahlenwert der sich so ähnlichen griechischen Buchstaben (Arabische Zahlen wurden erst Jahrhunderte später verwendet) sei es zu einer Verwechslung gekommen, erfreute sich durch die Jahrhunderte großer Beliebtheit. Sie wurde von Eusebius von Caesarea aufgenommen, nachzuvollziehen in diesem Katenen-Fragment in der MPG XXII 1009 B.4 Über Hieronymus5 gelangte diese Deutung ins Mittelalter, Petrus Abaelardus kennt sie und zitiert sie im Vorwort seines Sic et non. Aber ist sie auch überzeugend?
Ich bin aus zwei Gründen der Meinung, dass sie das nicht ist.
Erstens, selbst wenn eine Verwechslung der Kopisten vorgelegen hätte, wäre das Problem nicht aus der Welt: dann wäre Jesus zur selben Zeit vor Pilatus gestanden und am Kreuz gehangen.
Zweitens: Ein Blick in die ältesten verfügbaren Handschriften zeigt, dass das Zahlwort im Griechischen ausgeschrieben wurde. So ist es im Codex Sinaiticus (zweite Spalte von links, dritte Zeile von oben): Er liest: ην δε ωρα τριτη· – die Zahl ist also voll ausgeschrieben, eine Verwechslung nicht möglich. Im Codex Vaticanus (mittlere Spalte, achte Zeile von oben) ist die Zahl ebenfalls ausgeschrieben: ην δε ωρα τριτη. Auch der älteste Textzeuge für Johannes 19,14, P 66, schreibt die Zahl sechs aus. Es führt also in meinen Augen kein Weg daran vorbei: Markus und Johannes geben eine unterschiedliche Uhrzeit an.
Aber das ist bei weitem nicht das größte Problem bei der zeitlichen Bestimmung der Kreuzigung Jesu. Dazu demnächst mehr.
- Kannengiesser schreibt diesen Johannes-Kommentar allerdings einem späteren Ammonius von Alexandria zu, den er im 5. oder 6. Jahrhundert verortet. Vgl. Handbook of Patristic Exegesis. The Bible in Ancient Christianity (Brill 2004) S. 931↩︎
- The Brill Dictionary of ancient Greek (2015) S. 788↩︎
- A Textual Commentary on the Greek New Testament (United Bibel Societies 1971) S. 253. Die von der Deutschen Bibelgesellschaft verlegte Ausgabe dieses Werkes (9. Druck 2012) hat das Digamma drucktechnisch nicht bewältigt (siehe S. 99 und 216).↩︎
- Auch die berühmten Evangelien-Kanones des Eusebius gehen auf eine Vorlage des Ammonius zurück, wie er in seinem Brief an Karpian schildert. Wenn der o.g. Ammonius wirklich aus dem 5./6. Jh. stammt, ist Eusebius der älteste mir bekannte Zeuge.↩︎
- Tractatus sive Homiliae in Psalmos – siehe Corpus Christianorum 78, S. 66-67 In der MPL findet sich die Stelle in Band XXVI, 1046 A. Die entsprechenden Angaben bei Metzger und Boyer/McKeon sind falsch.↩︎