Die Evangelien-Kanones des Eusebius von Caesarea

Die Einteilung der Bibel in Kapitel und Verse ist eine relativ späte Leistung und erfolgte erst im Hochmittelalter. Dennoch war der Text schon vorher in Sinneinheiten eingeordnet worden, die erstaunliche Untersuchungen am Bibeltext ermöglichten. Ich will das an einem Beispiel aus dem Neuen Testament verdeutlichen.

Die Evangelien-Kanones des Eusebius von Caesarea

Eusebius (260/263 – ca. 340) übernahm von Ammonios von Alexandria die Einteilung der Evangelien in Sinnabschnitte und verbesserte dessen System entscheidend. Er erstellte 10 Tabellen, in denen er eine Übersicht ermöglichte, an welchen Stellen alle vier Evangelien miteinander berichteten, oder aber nur drei von ihnen, oder zwei oder überhaupt nur eins.

Übersicht der Evangelien-Kanones des Eusebius von Nordenfalk
Übersicht der Evangelien-Kanones des Eusebius von Nordenfalk

 

 

 

 

 

 

 

 

(Quelle: Nordenfalk, S. 47)

Diese Tabellen kann man hier nachschlagen. Ich will an einem Beispiel verdeutlichen, wie sie funktionieren. Ich beginne mit einer Angabe aus Tabelle 9, die Übereinstimmungen zwischen Lukas und Johannes nennt. Bei Lukas steht die Zahl 303, bei Johannes die Nummern 182, 186, und 190.

Tabelle IX und X des Eusebius; Reichenau, XI. Jh.
Tabelle IX und X des Eusebius; Reichenau, XI. Jh.

Auf dieser Handschrift von der Reichenau aus dem 11. Jh. habe ich die entsprechenden Angaben markiert. Wie findet man die diesen Nummern entsprechenden Stellen nun heraus? Man kann sie in der aktuellen, historisch-kritischen Ausgabe des Neuen Testamentes nachschlagen, Nestle-Aland geben sie auf der Innenseite ihrer Ausgabe an. So ergibt sich: Lk 303 = Lk 23,4; Joh 182 = Joh 18,38; Joh 186 = Joh 19,4 und Joh 190 = der Schluss von Joh 19,6. In der Luther Übersetzung sieht das so aus:

Pilatus aber sprach zu den Hohenpriestern und den Volksmengen: Ich finde keine Schuld an diesem Menschen. (Lk 23,4)
Pilatus spricht zu ihm: Was ist Wahrheit? Und als er dies gesagt hatte, ging er wieder zu den Juden hinaus und spricht zu ihnen: Ich finde keinerlei Schuld an ihm; (Joh 18,38)
Und Pilatus ging wieder hinaus und spricht zu ihnen: Siehe, ich führe ihn zu euch heraus, auf daß ihr wisset, daß ich keinerlei Schuld an ihm finde. (Joh 19,4)
[Als ihn nun die Hohenpriester und die Diener sahen, schrieen sie und sagten: Kreuzige, kreuzige ihn! Pilatus spricht zu ihnen: Nehmet ihr ihn hin und kreuziget ihn,] denn ich finde keine Schuld an ihm. (Joh 19,6)

Wirkungsgeschichte

Es ist wohl einsichtig, wie hilfreich diese Tabellen bei der Auslegung der Evangelien sind. Ein früher Zeuge schreibt dazu:

Eusebius quoque Caesariensis Canones euangelicos compendiosa breuitate collegit, ut in quibus locis communia dicunt, in quibus propria tangunt, uerissima distinctione monstraret; ubi quanta est plenitudo fidei, tanto floret et diuersorum tractantium doctrina mirabilis.

»Eusebius von Caesarea hat auch vorteilhafte und kurz gefasste Evangelien-Kanones zusammengestellt, um in vollkommen richtiger Gegenüberstellung zu zeigen, an welchen Stellen sie (die Evangelien) gemeinsam sprechen, und an welchen sie Eigenes (= Sondergut) anführen; wo die Fülle des Glaubens groß ist, dort blüht um so mehr die staunenswerte Gelehrsamkeit der unterschiedlichen Untersuchungen«. (Cassiodor ca. 485 – ca. 580, Institutiones Divinarum et Saecularium Litterarum I,7,2; MÜ)

Im Grunde genommen konnte die neuzeitliche Zwei-Quellen-Theorie direkt an diese Vorarbeit anschließen.

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