Eusebius an Karpian

In seinem berühmten Brief an Karpian schildert Bischof Eusebius von Cäsarea (gestorben 399/340) sein Tabellen-System, das es ermöglicht, auf einen Blick zu sehen, welche Aussagen der vier Evangelisten wo vorkommen. Dieses System funktioniert heute noch und ist – ebenso wie der besagte Brief – in die wissenschaftlichen Ausgaben des NT integriert. Nachdem ich keine brauchbare deutsche Übersetzung gefunden habe – die der Wikipedia ist m.E. eine deutsche Übertragung einer englischen Übersetzung des Briefes – bringe ich hier meine Eigene.

᾿Ευσέβιος Καρπιανᾣ ἀγαπητᾣ ἀδελφᾣ ἐν κυρίῳ χαίρειν.
Ἀμμώνιος μὲν ὁ Ἀλεξανδρεὺς πολλὴν ὡς εἰκὸς φιλοπονίαν καὶ σπουδὴν εἰσαγηοχὼς τὸ διὰ τεσσάρων ἡμῖν καταλέλοιπεν εὐαγγέλιον, τῷ κατὰ Ματθαῖον τὰς ὁμοφώνους τῶν λοιπῶν εὐαγγελιστῶν περικοπὰς παραθείς, ὡς ἐξ ἀνάγκης συμβῆναι τὸν τῆς ἀκολουθίας εἱρμὸν τῶν τριῶν διαφθαρῆναι ὅσον ἐπὶ τῷ ὕφει τῆς ἀναγνώσεως· ἵνα δὲ σωζομένου καὶ τοῦ τῶν λοιπῶν διʼ ὅλου σώματός τε καὶ εἱρμοῦ εἰδέναι ἔχοις τοὺς οἰκείους ἑκάστου εὐαγγελιστοῦ τόπους, ἐν οἷς κατὰ τῶν αὐτῶν ἠνέχθησαν φιλαλήθως εἰπεῖν, ἐκ τοῦ πονήματος τοῦ προειρημένου ἀνδρὸς εἰληφὼς ἀφορμὰς καθʼ ἑτέραν μέθοδον κανόνας δέκα τὸν ἀριθμὸν διεχάραξά σοι τοὺς ὑποτεταγμένους.
1

Eusebius an Karpian, den geliebten Bruder im Herrn, sei gegrüßt!
Der Alexandriner Ammonius hat, wie es angemessen ist, viel Fleiß und Anstrengung aufgewandt, um uns ein vierspaltiges Evangelium 2 zu hinterlassen, indem er die gleichlautenden Perikopen der übrigen Evangelisten neben das (Evangelium) nach Matthäus stellte. So ergab sich mit Notwendigkeit, dass die Reihung der folgenden drei [Evangelien] zerstört wurde, insoweit es um die Abfolge der Lesung geht. Damit aber sowohl [die Abfolge] der übrigen [Evangelien] durch die ganze Sammlung hindurch erhalten werde als auch die Reihung der eigenen Abschnitte jedes Evangelisten für dich erkennbar bleibe, in denen sie inspiriert wurden, über dasselbe wahrheitsgemäß zu sprechen, gewann [ich] aus dem Werk des vorher erwähnten Mannes den Ausgangspunkt einer gänzlich anderen Methode: Tabellen, zehn an der Zahl, habe ich dir aufgezeichnet, die unten angefügt sind.

ὧν ὁ μὲν πρῶτος περιέχει ἀριθμοὺς ἐν οἷς τὰ παραπλήσια εἰρήκασιν οἱ τέσσαρες, Ματθαῖος Μάρκος Λοῦκας Ἰωάννης· ὁ δεύτερος, ἐν ᾧ οἱ τρεῖς, Ματθαῖος Μάρκος Λουκᾶς· ὁ τρίτος, ἐν ᾧ οἱ τρεῖς, Ματθαῖος Λουκᾶς Ἰωάννες· ὁ τέταρτος, ἐν ᾧ οἱ τρεῖς, Ματθαῖος Μάρκος Ἰωάννης· ὁ πέμπτος, ἐν ᾧ οἱ δύο, Ματθαῖος Λουκᾶς· ὁ ἕκτος, ἐν ᾧ οἱ δύο, Ματθαῖος Μάρκος· ὁ ἕβδομος, ἐν ᾧ οἱ δύο, Ματθαῖος Ἰωάννης· ὁ ὄγδοος, ἐν ᾧ οἱ δύο, Λοuκᾶς Μάρκος· ὁ ἕνατος, ἐν ᾧ οἱ δύο, Λουκᾶς Ἰωάννης· ὁ δέκατος, ἐν ᾧ ἕκαστος αὐτῶν περί τινων ἰδίως ἀνέγραψεν.

Deren erste enthält die Zählung [der Abschnitte], in denen die vier beinahe gleich erzählen: Matthäus, Markus, Lukas Johannes.
Die zweite, in der die drei [gleich sind]: Mathäus, Markus, Lukas.
Die dritte, in der die drei [gleich sind]: Matthäus, Lukas, Johannes.
Die vierte, in der die drei [gleich sind]: Matthäus, Markus, Johannes.
Die fünfte, in der die zwei [gleich sind]: Matthäus, Lukas.
Die sechste, in der die zwei [gleich sind]: Matthäus, Markus.
Die siebte, in der die zwei [gleich sind]: Matthäus, Johannes.
Die achte, in der die zwei [gleich sind]: Lukas, Markus.
Die neunte, in der die zwei [gleich sind]: Lukas, Johannes.
Die zehnte, in der jeder von ihnen allen in Hinsicht auf die Eigenheiten verzeichnet ist.

αὕτη μὲν οὖν ἡ τῶν ὑποτεταγμένων κανόνων ὑπόθεσις, ἡ δὲ σαφὴς αὑτῶν διήγησίς ἐστιν ἥδε. ἐφʼ ἑκάστῳ τῶν τεσσάρων εὐαγγελίων ἀριθμός τις πρόκειται, κατὰ μέρος ἀρχόμενος ἀπὸ τοῦ πρώτου, εἶτα δευτέρου καὶ τρίτου, καὶ καθεξῆς προϊὼν διʼ ὅλου μέχρι τοῦ τέλους τῶν βιβλίων. καθʼ ἕκαστον δὲ ἀριθμὸν ὑποσημείωσις πρόκειται διὰ κινναβάρεως, δηλοῦσα ἐν ποίῳ τῶν δέκα κανόνων κείμενος ὁ ἀριθμὸς τυγχάνει. οἷον εἰ μὲν αʹ, δῆλον ὡς ἐν τῷ πρώτῳ· εἰ δὲ βʹ, ἐν τῷ δευτέρῳ· καὶ οὕτως μέχρι τῶν δέκα.

Das nun [war] die Geschichte/Aufgabe der unten angefügten Tabellen, ihre verständliche Erklärung ist diese: bei jedem [Abschnitt] der vier Evangelien ist eine gewisse Zahl vorangestellt, gleich nach dem Beginnenden abwechselnd dann der zweite und dritte [Abschnitt] und der Reihe nach geht es weiter bis zum Ende der Bücher. Aber jeder Zahl ist eine Signatur 3 in Zinnober-Farbe vorangestellt, die verdeutlicht, in welcher der zehn Tabellen die vorliegende Zahl anzutreffen ist. Alle die also, die eine eins haben, die sind natürlich in der ersten [Tabelle], wenn eine zwei, in der zweiten und so weiter bis zur zehnten.

Reichenauer Evangeliar mit Signatur in Zinnober
Reichenauer Evangeliar 29v mit Signaturen in Zinnober, Anfang 11. Jh.

Auf diesem Bild sieht man links die in Zinnober geschriebenen Zahlen der Tabelle (I, V, X) und die dazu gehörenden Nummern der entsprechenden Abschnitte in den Evangelien. Quelle: Bayrische Staatsbibliothek.

εἰ οὖν ἀναπτύξας ἔν τι τῶν τεσσάρων εὐαγγελίων ὁποιονδήποτε βουληθείης ἐπιστῆσαί τινι ᾧ βούλει κεφαλαίῳ, καὶ γνῶναι τίνες τὰ παραπλήσια εἰρήκασιν, καὶ τοὺς οἰκείους ἐν ἑκάστῳ τόπους εὑρεῖν, ἐν οἷς κατὰ τῶν αὐτῶν ἠνέχθησαν, ἧς ἐπέχεις περικοπῆς ἀναλαβὼν τὸν προκείμενον ἀριθμόν, ἐπιζητήσας τε αὐτὸν ἔνδον ἐν τῷ κανόνι ὃν ἡ διὰ τοῦ κινναβάρεως ὑποσημείωσις ὑποβέβληκεν, εἴσῃ μὲν εὐθὺς ἐκ τῶν ἐπὶ μετώπου τοῦ κανόνος προγραφῶν ὁπόσοι τε καὶ τίνες περὶ οὗ ζητεῖς εἰρήκασιν· ἐπιστήσας δὲ καὶ τοῖς τῶν λοιπῶν εὐαγγελίων ἀριθμοῖς τοῖς ἐν τῷ κανόνι ᾧ ἐπέχεις ἀριθμῷ παρακειμένοις, ἐπιζητήσας τε αὐτοὺς ἔνδον ἐν τοῖς οἰκείοις ἑκάστου εὐαγγελίου τόποις, τὰ παραπλήσια λέγοντας αὐτοὺς εὑρήσεις.

Wenn du nun eines von den vier Evangelien wo auch immer öffnest, willst du ferner bei irgendeinem Abschnitt 4 feststellen und erkennen, welche [anderen Abschnitte] nahezu gleich erzählen und die passenden Stellen in jedem [Evangelium] finden, an denen sie über dasselbe [zu sprechen] inspiriert wurden – dann richtest du deine Aufmerksamkeit erinnernd auf die der Perikope vorangestellte Zahl, suchst sie innerhalb der Tabelle auf, die ja durch die Zinnober-Signatur angezeigt ist; sofort wirst du auf dem Seitenrand durch die bezeichnete Tabelle sehen, so wohl wie viele als auch welche von dem erzählen, wonach du suchst. Du stellst auch fest: durch die Zahlen der übrigen Evangelien, die in der Tabelle danebenliegen, richtest du deine Aufmerksamkeit auf die Zahl, die du innerhalb der dazugehörigen Stellen jedes Evangeliums aufsuchst: du wirst die beinahe gleichen Aussagen von ihnen finden.

Kanontafel Reichenauer Evangeliar 8v
Kanontafel Reichenauer Evangeliar 8v

Hier sehen Sie ganz unten die Stellenangaben aus der ersten Tabelle des Reichenauer Evangeliars. Quelle: Bayrische Staatsbibliothek.

Zur Erklärung: Auf dem ersten Bild steht, dass die Stelle Mt XI in der ersten Tabelle vorkommt – was bedeutet – die Stelle kommt in allen vier Evangelien vor. Sie entspricht Mk IV – Lukas X und Joh VI. In unsere heutige Zählart übertragen: Mt 3,11 entspricht Mk 1,7-8 sowie Lk 3,16 als auch Joh 1,15. Faszinierend ist, dass das System bis heute funktioniert. Wie verbreitet diese Tabellen waren, kann man hier sehr gut erkennen – an Handschriften, die ein halbes Jahrtausend älter sind als das Reichenauer Evangeliar.

So sieht das Eusebianische System in der Ausgabe von Eberhard Nestle von 1923 aus: neben Mt 3,11 ist in der Marginalie 11 und 1 angeben: Mt 11 nach der fortlaufenden Zählung des Eusebius, auffindbar in der ersten Tabelle.

Aus dem Novum Testamentum Graece von Nestle aus dem Jahr 1923
Aus dem Novum Testamentum Graece von Nestle aus dem Jahr 1923

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  1. Der griechische Text folgt dieser Ausgabe von Eberhard Nestle Stuttgart 1923, der identisch ist mit der Fassung in der Ausgabe des aktuellen Nestle-Aland XXVIII.
  2. Matthew R. Crawford hat überzeugend dargelegt, dass διὰ τεσσάρων hier »vierspaltig« bedeutet, in Analogie zur Hexapla des Origenes; vgl: Ammonius of Alexandria, Eusebius of Caesarea and the Origins of Gospels Scholarship, in: New Test. Stud. 61, pp. 1-29; Cambridge University Press, 2015
  3. ὑποσημείωσις – Signatur, Anmerkung (Vgl. Montanari, The Brill Dictionary of Ancient Greek, Leiden 2015, S. 2231)
  4. Es wäre vollkommen anachronistisch, kephalaion als Kapitel zu übersetzen – unsere heutige Kapiteleinteilung erfolgte erst durch Stephen Langton (um 1150-1228).

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