Was bedeutet der Namen Iskariot?

Die Bedeutung des Beinamens des Judas ist alles andere als klar. Die zahlreichen Versuche zur Erklärung hat Raymond E. Brown in seinem Opus Magnum The Death of the Messiah (1998) zusammengefasst.1 Ich übersetze hier den entsprechenden Abschnitt aus dem Englischen und verlinke nach Möglichkeit auf die von Brown zitierte Literatur.

A: Unbedeutende Erklärungen
Um der Kürze willen liste ich hier antike und moderne Erklärungen auf, die wenige Anhänger gehabt hatten und haben und nach meiner Ansicht wenig Wahrscheinlichkeit. 2 Ich bringe mit ihnen die Namen der Wissenschaftler in Verbindung, die sie entweder erwähnt oder verteidigt haben. Origenes erwähnt eine Theorie, die ‚Iskariot‘ mit der Erhängung oder Strangulierung des Judas in Verbindung bringt; viel später ging J. B. Lightfood ebenfalls in diese Richtung: ᵓaskĕraᵓ von der Wurzel skr/sgr – etwas verstopfen.

— Anmerkung OA: Diese Erklärung wurde 2010 von Joan Taylor wieder aufgegriffen. Der Origenes-Text lautet in der altlateinischen Übersetzung, in der er auf uns gekommen ist:

audivi aliquem exponentem patriam proditoris Iudae secundum interpretationem Hebraicam EXSUFFOCATAM vocari. quod si ita est, magna convenientia invenitur nominis patriae eius cum exitu mortis ipsius, quoniam et ipse laqueo se suspendens prophetiam nominis patriae suae suffocatus implevit. (Origenes, Matthäus Kommentar Sermo 78; GCS Band 38 – Origenes Werke 11 (1933) S. 187)

Ich habe jemand gehört, der erklärt hat, dass die Vaterstadt des Verräters Judas gemäß der Hebräischen Übersetzung DIE DURCH ERSTICKUNG UMGEBRACHTE genannt wird. Wenn das so ist, zeigt sich eine große Übereinstimmung des Namens seiner Vaterstadt mit dem Schicksal seines Todes, weil er ja – indem er sich selbst mit einem Strick aufhängt – die Erstickung eine Prophezeiung des Namens seiner Vaterstadt erfüllt hat. (MÜ)

Die gelehrten Ausführungen Lightfoots dazu finden sich in seinen „Horae Hebraicae et Talmudicae or Hebrew and Talmudical Exercitations upon the Gospel of St. Matthew“ (1859) S. 179 f. Lightfoot diskutiert dort allerdings mehrere Möglichkeiten der Ableitung dieses Namens. [s.u.] Die Erklärung des Origenes führt er auf das Aramäische אסכראIscara zurück, das er als Strangulierung übersetzen möchte. Jastrow kennt die Form אַסְכְּרָא und übersetzt sie mit „erwürgen/ersticken“ —

Hieronymus schlug zeker Ya, „Denkmal des HERRN“ vor3, was, Origenes vertrauend, eine Erinnerung an die Art bedeuten könnte, mit der Judas vom Herrn bei seinem Tod bestraft wurde.

— Anmerkung OA: Hieronymus schreibt in seinem Liber de Nominibus Hebraicis:

Iscarioth, memoriale Domini: quod si voluerimus legere Issacharioth, interpretatur, est merces ejus. Potest autem dici et memoria mortis. (MPL XXIII, 878)

Iskarioth = Erinnerungszeichen des Herrn. Das wird, wenn wir Issacharioth lesen wollen, als es ist sein Lohn übersetzt. Man kann aber auch sagen Grabmal des Todes.

Migne führt in einer Fußnote dazu aus: Issacharioth, etc. Respexit Hieronymus ad nomen Issarchar, וסכר, filii Jacob. MARTIAN. – Ita quidem satis violente Graeci Lexicon Origenian. Ἰσὰχὰρ μισθός Isachar merces, et Ἰσκαρώθ μνημόσυνον, σκηνὴν Θάνατου, Iscaroth; memoria, tabernaculum mortis.

Issacharioth usw. Man beachte (was) Hieronymus zum Namen Issachar (gesagt hat): von (Hebräisch) וסכר [= und er hat sich erworben], ein Sohn Jakobs. MARTIAN. – So auf eine etwas gewaltsamen Weise ein origenisches Lexikon des Griechischen: Isachar (bedeutet) Lohn und Iskaroth Grabmal, Wohnung des Todes.

Diese Deutung hat Suidas übernommen. MARTIAN dürfte sich auf Jean Martianay (1647-1717), einen Benediktiner der Mauriner-Kongregation, beziehen, der in der Tat 1694 ein solches Lexikon herausgegeben hat.

Deckblatt der Werkausgabe Martianay's von 1694
Deckblatt der Werkausgabe Martianay’s von 1694
Quelle: https://books.google.at/books?id=dydgu_yDmBsC&hl=de&pg=PP7#v=onepage&q&f=false

Dort findet sich auf der S. 65 der folgende Eintrag:

De Nominibus Hebraicis
Quelle: https://books.google.at/books?id=dydgu_yDmBsC&hl=de&pg=PA65#v=onepage&q&f=false

Nach dem Vorwort des Hieronymus beruht das Werk über die Bedeutung der Hebräischen Namen auf einem von Origenes bearbeiteten usprünglichen Werk des Philo von Alexandria, wobei die neutestamentlichen Namenserklärungen natürlich von Origenes stammen: ut quod Philo quasi Judaeus omiserat, hic ut Christianus impleret.

Die dreissig Silberstücke haben einige auf die Wurzel śkr („mieten, zahlen“) verwiesen.

— Anmerkung OA: Das Verb שֹכר – von dem in Gen 30,18 der Namen Issachar abgeleitet wird, hat im Bibelhebräischen die Bedeutung von „anwerben, besolden, dingen“. 4 Nach dieser Deutung wäre Judas also der Mann der Besoldung. Vertreter dieser Deutung konnte ich bislang nicht ausmachen. —

Lightfoot schlug scortea vor, eine lederne Schürze, die von Kurieren über ihrer Kleidung getragen wurde, unter der Annahmen, dass die Börse des Judas, die das gemeinsame Geld enthielt (diese Information findet sich nur in Joh 12,6) in sie eingenäht war oder sich vielleicht in einer Schachtel befand, die mit Leder bedeckt war. Er machte auf ein Lehnwort von scortea aufmerksam, das in einem viel späteren talmudischen Aramäisch bezeugt ist: isqôrĕtîyā.

— Anmerkung OA: Die entsprechenden Ausführungen von Lightfoot finden sich in dem schon zitierten Werk auf S. 179. Er interpretiert das so, „dass Judas Iskariot vielleicht so viel wie Judas mit der Schürze bedeuten kann.5 Samuel Kraus leitet in seinem Werk Griechische und lateinische Lehnwörter im Talmud, Midrasch und Targum סקורטיא ebenfalls von scortea ab und übersetzt es als Lederschurz.6 In bNed 55b wird gefragt: מַאי אִיסְקוּרְטֵי אָמַר רַבָּה בַּר חָנָה כִּיתּוּנָא דְצַלָּא – „Was ist die Bedeutung von iskurita? Rabbah Bar Chanah sagte: ein Ledermantel.“ 7

Derrett („Iscariot“ S. 9-10) wollte „Iskariot“ von ᵓisqāᵓ rēᶜût ableiten, „einer, der aus Freundschaft ein Geschäft [Geld] macht“, eine Ableitung, die die Auslieferung Jesu für Silber mit einbegreift. Das Aramäische Hauptwort ᶜēseq, ᶜisqāᵓ, das „Geschäft“ bedeutet, ist vor 100 n. Chr. nirgendwo auf Aramäisch bezeugt (mit freundlicher Genehmigung von J. A. Fitzmyer aus seinen Wörterbuch-Unterlagen). Das Wort, das Derrett für Freundschaft anbietet, rēᶜût, ist Hebräisch und nicht Aramäisch. Derrett erklärt nicht, wie ein Aramäisches Hauptwort (aus einer späteren Zeit) im status emphaticus in einer Konstruktus Verbindung mit einem Hebräischen Hauptwort sein kann.

— Anmerkung OA: Duncan M. Derrett, ehemals Professor für orientalisches Recht in London gab diese Erklärung in einem Aufsatz, der 1982 in seinem Werk Studies in the New Testament III (S. 168-169) veröffentlicht wurde und erstmals 1980 in der Zeitschrift Journal for the Study of the New Testament (VIII, Juli 1980, S. 2-23) erschien: The Iscariot, Mesîrā, and the Redemption. Joseph Augustine Fitzmyer SJ war ein bedeutender Neutestamentler und Forscher zu den Texten vom Toten Meer. Ein Blick in The Comprehensive Aramaic Lexicon zeigt, dass עסק bzw. עסקא wirklich nur in späterer Literatur vorkommt. —

Als Teil seiner umstrittenen Rückwandlung von neutestamentlichem Griechisch in ursprüngliches Aramäisch spricht sich G. Schwarz (Jesus S. 231) dafür aus, dass der zweite Teil des Griechischen für „Iskariot“ folgenden Ablauf einer semitischen Entwicklung darstelle: qrywt = qrytᵓ = qrtᵓ, und dass sich das qrtᵓ in den (nachchristlichen) Targumim auf Jerusalem beziehen könne, so dass Judas der Mann aus Jerusalem sei.

— Anmerkung OA: Gemeint ist Günther Schwarz: Jesus und Judas. Aramaistische Untersuchungen zur Jesus-Judas Überlieferung der Evangelien und der Apostelgeschichte (BWANT 123; 1988). Schwarz hat seine umstrittenen Untersuchungen später noch ausgeweitet.8

Eine Reihe von Vorschlägen leitet „Iskariot“ von einem Eigennamen ab: von Issachar (Yišśākār; Hieronymus); von Jericho (Yĕriḥô); von Sychar in Samaria (Joh 4,5 [siehe BGJ 1.169]; Schulthess); von Kartah in Zebulon (Qartâ; Jos 21,34; H. Ewald). Ein paar dieser Worte hängen von neutestamentlichen Schriften ab, bei denen „Iskariot“ die Anfangssilbe Is- fehlt; sie müssen daher davon ausgehen, dass eine adjektivische Endung an einen Eigennamen gehängt wurde.

— Anmerkungen OA:

Die Herleitung von Issachar durch Hieronymus habe ich bereits weiter oben dargestellt. Für die Ableitung von Jericho habe ich noch keinen Zeugen gefunden. BGJ steht für den Johanneskommentar von Raymond E. Brown: The Gospel According to John (2 Bände 1966, 1970). Friedrich Schulthess diskutierte die Lösung über Sychar in Samarien, ohne von ihr sonderlich überzeugt zu sein, in seinem Werk: Das Problem der Sprache Jesu (1917) S. 54-55. Dort nennt er die möglichen Ortsbezüge „für das historische Problem (…) belanglos“ und meint dann weiter: „Schliesslich sieht es nicht nach Zufall aus, dass Judas Act. 1,18 mit einem Grundstückerwerb in Verbindung gebracht wird.“ (ebenda.) Heinrich Ewald plädiert in seiner voluminösen „Geschichte des Volkes Israel bis Christus“ Band V (²1857) S. 321 Fn.5 für den in Jos 21,34 genannten Ort, bleibt aber vorsichtig:

Der ort Karioth selbts ist aber schwerlich der im stamme Juda Jos. 15,25: dann wäre er der einzige Nichtgaliläer gewesen, was allen übrigen zeugnissen widerspricht; sondern könnte eher noch mit dem קַרְתָּה Jos. 21,34 im stamme Zebulon oder einem anderen nördlichen städtchen einerlei seyn. (ebenda)

(b) Mann von Kerioth. Die populärste Erklärung von „Iskariot“ beruft sich auf eine angenommene Hebräische Form ᵓîš Qĕrîyôt, die darauf hindeute, dass Judas aus einer Stadt namens Kerioth kam. Die Form apo Karyōtou im Codex Bezae zeigt, dass diese Vorstellung aus der Antike stammt.

— Anmerkung OA: Ein neuzeitlicher Vertreter dieser Deutung ist Joseph Klausner in seinem Werk Jesus von Nazareth (²1934) S. 389-390 (Ü: Walter Fischel):

Er war offenbar der einzige unter den Aposteln, der aus Judäa stammte, nämlich aus Krijoth, nördlich von Hebron (dem heutigen „Karjeten“ oder „Kratija“, östlich von Gaza), während alle anderen anscheinend aus Galiläa waren.

Der Codex Bezae Catabrigensis ist ein gewichtiger Textzeuge aus dem 5. Jahrhundert, eine Griechisch—lateinische Bilingue. Ich finde die genannte Lesart allerdings in der ersten Hand des Codex Sinaiticus zu Joh 6,71, wie man in dieser textkritischen Ausgabe Eberhard Nestles sehen kann. —

Es wurden schwerwiegende Einwände vorgebracht: (i) Warum wurde ᵓîš transliteriert und nicht als „Mann“ oder gar als Relativpronomen übersetzt, wie zum Beispiel „Philippus, der von Bethsaida war“ in Joh 12,21? (ii) Gab es eine Stadt Kerioth in Judea oder Galiläa? Die meisten verweisen auf Jos 15,25 und damit auf ein Kerioth im südlichen Teil von Judah (erinnern wir uns: Judas = Judah) zwischen En-Gedi und Beerscheva; tatsächlich basieren einige Untersuchungen zu Judas und seinen Motiven darauf, dass er der einzige Judäer unter den Zwölf gewesen sei. Das Hebräisch des Josua-Verses bietet Qĕrîyôt Ḥeṣrôn – Hieronymus und das Aramäische Targum fassen das als zwei Städte auf; aber die LXX versteht mit hoi poleis Aserōn das erste Hauptwort als den Plural von qiryâ, was dann „die Städte [oder Dörfer] von Hezron“ bedeutet. Viele moderne Kommentatoren gehen davon aus, das Letzteres zutrifft; und wenn das so ist, verschwindet Kerioth in Judäa. Eine moabitische Stadt Namens Qĕrîyôt wird im Hebräischen von Amos 2,2 erwähnt (in der LXX wieder poleis) und in dem von Jer 48,24 + 41 (LXX 31,24+41: Keriōth). Wie auch immer, nicht viele würden vorschlagen, dass Judas aus Transjordanien kam. Auf jeden Fall gibt es darüber hinaus keine Beweise, dass Städte, die 1200 bis 600 Jahre zuvor erwähnt wurden, zu Judas Zeiten noch existierten. (iii) Die Annahme, dass ᵓîš plus eine Stadt mit Namen X „Mann von X“ bedeuten muss, ist zweifelhaft. Der normale Weg, um so etwas auf Hebräisch auszudrücken, wäre mit einem Adjektiv zur Volksbezeichnung, zum Beispiel ᵓîš Qĕrîyôtî oder „ein bestimmter Mann aus“ (ᵓîš ḥad min Qĕrîyôt). Manchmal verweisen Verteidiger der ᵓîš Qĕrîyôt Erklärung als Begründung auf ᵓîš Ṭôb in 2 Sam 10,6+8. Aber der Ausdruck dort bedeutet „Männer von Tob“. Ein anderes vorgeschlagenes Beispiel ist aus chronologischen Gründen problematisch, weil es aus dem späteren Mischna-Hebräisch stammt: Jose b. Joᶜezer von Serada ist ein ᵓîš Ṣĕrēdâ (siehe Soṭa 9,9; ᶜEduyyot 8,4; ᵓAbot 1,4). Alles in allem machen diese Einwände die „Mann von Kerioth“ Erklärung von „Iskariot“ sehr fragwürdig.

— Anmerkungen OA:

Die Vulgata übersetzt Jos 15,25 so: et Asor nova et Cariothesrom haec est Asor – was meiner Meinung nach mehr in die Richtung der LXX geht. Hieronymus übersetzt in De Nominibus Hebraicis Cariathham mit civitas eorum – „ihre Stadt“. Carioth wäre dann der Plural, wie bei קִרְיָה und קְרִיּוֹת, was „Stadt“ bedeutet. Jos 15,25 würde demnach von den „Städten von Hezron“ reden. Das Targum Pseudo-Jonathan liest Jos 15,25 so: וְחָצוֹר חֲדַתָּה וּקְרִיוֹת חֶצְרוֹן הִיא חָצוֹר׃ – was genau dem hebräischen Text entspricht. Mir kommt vor, dass die Angaben von Brown zu Hieronymus und dem Targum nicht so präzise sind, wie seine bisherigen Angaben, oder habe ich da etwas übersehen? Zu der Diskussion des Ausdrucks ᵓîš Ṭôb in 2 Sam 10,6+8 kann ich auf Josephus Ant. VII, 121 verweisen, wo von einem Ἴστωβος die Rede ist9. Allerdings hat Josephus den Namen aus der LXX übernommen10, so dass es sich nicht um ein neues Argument handelt und der Einwand von Brown, dass – auf Grund der folgenden Zahlenangabe – איש טוב „Männer von Tob“ heissen muss, bestehen bleibt11. Allerdings hat Josephus ebenso wie die Übersetzer der LXX den Namen als den eines einzelnen Mannes verstanden: καὶ τέταρτον Ἴστοβον ὄνομα – „und einen vierten Namens Istob“.

(c) Sicarius. Der griechische Ausdruck sikarios kommt in Apg 21,38 vor; er ist mit dem Griechischen sikarion, Lateinisch sica, „Dolch“ verwandt. Josephus verwendet ihn, um fanatische Revolutionäre zu beschreiben, die Dolche benutzten. Celada, Lapide, Schulthess und Wellhausen gehören zu den vielen, die „Iskariot“ von einer Form dieses Ausdrucks ableiten.

— Zu Pinchas Lapide verweist Brown auf dessen Aufsatz „Verräter oder verraten? Judas in evangelischer und jüdischer Sicht“ in den Lutherischen Monatshefte 16 (1977), S. 75-79. Die Passagen bei Josephus wurden von Marijn J. Vandeberghe vorgestellt und diskutiert.12 Die ausführlichen Ausführungen von Schulthess finden sich in dem von mir schon zitierten Werk Das Problem der Sprache Jesu (1917) S. 54-55. Julius Wellhausen schreibt in seinem Kommentar zum Markusevangelium (1903) S. 25:

Unerklärlich ist bis jetzt Ισκαριωθ, mit der Variante Σκαριωθ, beides auch mit der Endung -ης und mit τ statt θ. Der Codex Bezae (D) hat dafür im Ev. Joa. ἀπὸ καρυωτοῦ, aber an das hebräische isch zu denken und „Mann von Karioth“ zu übersetzen, ist ausgeschlossen. Eine Herkunftsangabe erwartet man überhaupt nicht, eher einen Schimpfnamen wie Bandit (sicarius).

Cullmann („Douzième“ 139) denkt, dass Judas Iskariot (in der synoptischen Liste der Zwölf), Judas der Kananitēs (eine sahidische Variante in Joh 14,22) und Judas der Zēlōtēs (kontaminiert von Simon dem Zēlotēs in Lk 6,15 und Apg 1,13) alle die gleiche Person sind. Nach Cullmann wäre Sicarius als Iskariōth transliteriert und als Zēlōtēs übersetzt worden, während das transliterierte Aramäisch aus der Wurzel qnᵓ, „leidenschaftlich sein“, Kananitēs ergeben hätte. Viele, die eine solche Ableitung akzeptieren, berufen sich zu der Entbehrlichkeit der ersten Silbe von Iskariōtēs und eine Form näher zu sikarios auf die Skariōth und Skariōtēs Formen des Namens des Judas (Codex Bezae und die lateinische Fassung von Mk 3,19; Mt 10,4 und 26,14). Diese Herleitung harmonisiert mit der Annahme, dass ein politisches Verständnis des Himmelreiches Judas, einen Revolutionär, die Geduld mit Jesus habe verlieren lassen und ihn dazu brachte, Jesus auszuliefern. Es gibt etymologische Einwände: Müssen wir eine Metathese13 in den ersten beiden Silben der sikarios Form (von sika– zu iska-) voraussetzen? Warum aber, nachdem sika leicht hätte ausgesprochen werden können? Ingholt („Surname“ 156) möchte auf eine Aramäische Form ᵓisqaryāᵓāᵓ zurückgehen (oder ᵓiskaryāᵓāᵓ, falls man dem Syrischen folgt). Vom Gesichtspunkt der Verständlichkeit aus ermutigt einen in dem im Neuen Testament beschriebenen Lebensweg des Judas nichts dazu, ihn sich als politischen Revolutionär vorzustellen, der einen solchen Titel verdienen würde. Schwerer wiegt die Aussage bei Josephus (…), die das erste Auftreten der sicarii und Zeloten in Palästina zwei oder drei Jahrzehnte nach dem Tod des Judas ansetzt.

— Kommentar OA: Der Aufsatz „Der zwölfte Apostel“ von Oscar Cullmann findet sich in seinen „Vorträgen und Aufsätzen 1925-1962“ (1966) S. 214-222. Der genannte Beitrag von Ingholt ist in dieser dänischen Festschrift auf den Seiten 152-162 erschienen. Bei der Aussage des Josephus verweist Brown auf Ant 20.8.5, Bell 2.13.3 und 7.8.1. und führt zu letzterer Stelle aus:

Nur durch eine anachronistische Analogie erwähnt sie Josephus früher, im Hinblick auf die Revolte von Judas dem Galiläer im Jahre 6 gegen den Zensus des Quirinius (Bell 7.8.1). Er erwähnt sie niemals in der Amtszeit des Pilatus oder unter Tiberius. (The death of the Messiah (1993) I S. 689)

(d) Der eine, der ihn ausgeliefert hat. Die Wurzel sgr/skr in der intensiven Verb-Form (Piᶜel, Hiphᶜil) bedeutet „auf- oder übergeben, überliefern an“ (= LXX paradidonai). Manche haben auf Jes 19,4 hingewiesen: „Ich werde die Ägypter ausliefern [ sikkartî ]“ und damit vorgeschlagen, dass eine Form dieses Verbs, die Judas als den beschreibt, der Jesus ausliefert, der Ursprung des Namens Iskariot war. Morin („Deux“ 353) fügt den Hinweis auf sgr/skr in dieser Bedeutung in der aramäischen Sefire-Inschrift und in dem Genesis Apokryphon von Qumran hinzu und spricht sich dafür aus, dass es ein gängiges Verb für die Überlieferung von Kriminellen an die Behörden sei. Nach dieser Theorie könnte „Iskariot“ von der aramäischen Paᶜel Verbform mit einem Objekt wie „ihn“ abgeleitet werden (yĕsaggar/yĕsakkar yātêh [was er als yŏtêh wiedergibt] oder von einer Aphᶜel-Form (yaskar yātêh).

— Kommentar OA:

Das Verb סגר oder סכר wird von Jean-Alfred Morin in der Revue Biblique Nr. 80 in diesem Sinne gedeutet.

Es ergeben sich verschiedene Einwände: die sgr Form ist üblicher als die skr Form; und obwohl ein g im Semitischen durch ein k im Griechischen wiedergegeben werden kann, wäre eine Wiedergabe durch ein g normaler. Dazu kommt, dass man annehmen müsste, dass keiner der neutestamentlichen Verfasser erkannt hätte, dass Iskariōth die Vorstellung übersetzte, Jesus auszuliefern. Morin hat alle Hände voll zu tun, um zu beweisen, dass Mk 3,19 (Ioudan Iskariōth jos kai paredōken auton) bedeuten könnte: „Judas Iskariot, das bedeutet ‚derjenige, der ihn auslieferte’“. Aber Markus hatte einen „das bedeutet“ Teilsatz gerade zwei Verse zuvor geschrieben: Boanērges ho estin huioi brontēs („Boanerges, das bedeutet Donnersöhne“) – das ist der normale Weg, um das zu schreiben und nach meiner Ansicht weist es darauf hin, dass 3,19 gemäß der normalen Bedeutung des Griechischen nicht als „das bedeutet“, sondern als „Judas Iskariot und er war es, der ihn auslieferte“ übersetzt werden sollte. Wenn innerhalb von dreißig Jahren nicht erkannt wurde, dass „Iskariot“ „ausliefern“ bedeutete, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass es das auch nicht ursprünglich bedeutete.

(e) Der Betrüger. Bereits 1861 schlug E. W. Hengstenberg als Hintergrund ᵓîš šĕqārîm, „Mann der Lügen“ vor, von der Wurzel šqr („betrügen“). „Lüge“ wäre šeqer oder šiqrāᵓ. Torrey („Name“ 59-61) vertrat šaqray, „Lügner“ als die Grundlage von „Iskariot“, sobald das Wort definitiv gestellt wird (šĕqaryāᵓ oder ᵓišqaryāᵓ). Ingholt („Surname“ 157) favorisiert diese Ableitung zwar nicht, hält sie aber etymologisch für möglich (siehe auch Gärtner, Iscariot 7). Schon die syrische Peshitta erkannte diese Wurzel in ihrer Transkription von Iskariōth nicht. Zusätzlich zu dem Problem einer Herleitung, die nicht für den ganzen Lebensweg des Judas wahr wäre, sondern nur für dessen Ende, muss man sich über einen Spitznamen wundern der wenig Ähnlichkeit mit dem hat, was Judas tat – keine Erzählung des Neuen Testamentes beinhaltet, dass Judas über Jesus gelogen hätte.

— Kommentar OA:

Ernst Wilhelm Hengstenberg bringt diese Etymologie von Judas (שׁקר) als dem Mann der Lügen (שְׁקָרִים) in seinem Das Evangelium des Heiligen Johannes, Band I (1867) S. 419 und wiederholt sie in seinen Vorlesungen über die Leidensgeschichte von 1875 S. 195. Der Artikel von Charles C. Torrey über den Namen „Iskariot“ findet sich in der Harvard Theological Review 36 (1943), S. 51-62. Zur syrischen Peshitta vergleiche die Angaben dieses Lexikons: Terry C. Falla: A key to the Peshitta Gospels II (1991) S. 125 f. Auf den Beitrag von Ingholt habe ich schon weiter oben verwiesen. Bertil Gärtner schrieb 1957 „Die rätselhaften Termini Nazoräer und Iskariot“ auf S. 42 über seine Herleitung des Begriffs Iskariot. —

(f) Der rötlich Gefärbte. Die Wurzel sqr wird mit einer braunen Farbe oder rötlicher Schattierung verbunden. 14 Ingholt („Surname“ 158-162) favorisiert diese Ableitung und weist auf aramäische Formen wie saqray, sĕqārāᵓ und ᵓisqārāᵓ hin. Palmyrenische Tessarae15 tragen Namen, die von ᵓaqrᵓ oder ᵓšqrᵓ gefolgt werden. Und im Arabischen gibt es el Ašqar, was „jemand mit einer rötlichen Färbung“ bedeutet. Zeichnungen von Judas aus dem 9. Jh. zeigen ihn mit roten Haaren. In Apg 13,1 hören wir von einem „Symeon, genannt Niger“, so dass eine Farbbezeichnung nicht unmöglich ist. Ehrman („Judas“) fügt den Hinweis aus bGit56a hinzu, dass der Anführer der Sicarii oder der judäischen Revolutions-Partei im Jahr 70 Abba Saqqara war, ein Neffe von Yohanan ben Zakkai. Arbeitman („Suffix“) unterstützt diese Ableitung, indem er vorschlägt, dass saqqārâ das Iskar- in Iskariot ergab. Trotz der Unterstützung für diese Theorie müssen wir uns vergegenwärtigen, dass die Kenntnis der Haarfarbe des Judas oder seiner Färbung keinen entscheidenden Gewinn bringt.

— Kommentar OA:

Hier wird der Aufsatz von Albert Ehrman, „Judas Iscariot and Abba Saqqara“ im Journal of Biblical Literature 97 (1978), S. 572-573 zitiert. Der Artikel von Yoël Arbeitmann „The Suffix of Iscariot“ erschien in derselben Zeitschrift in der Ausgabe 99 (180) S. 122-124. Zur Bedeutung von סקר vergleiche Jastrow S. 1021: „to paint red“. —

Beinahe einhundert Jahre zuvor stellte G. Dalman (Worte 52) fest: „Es ist eine sehr wahrscheinliche Vermutung, dass ‚Iskariot‘ bereits dem Evangelisten unverständlich war.“ Ich bezweifle, dass wir über diese Feststellung hinausgekommen sind. Und selbst wenn ein oder zwei Ableitungen von „Iskariot“ seit damals vorgebracht wurden: auch wenn sie wahr wären, würden sie uns nicht viel über Judas sagen können.

— Kommentar OA: Das englische Zitat von Gustaf Dalman findet sich hier: The Words of Jesus (1902) S. 52. In einer späteren Veröffentlichung, „Jesus-Jeschua: die drei Sprachen Jesu“ (1922) S. 26 schrieb Dalman:

Ob der Verräter selbst darauf Wert legte, sich hebräisch zu benennen, ob seine Familie schon vor ihm dies zu tun pflegte, können wir nicht wissen. Die Vermutungen über die Ursache seines Verrats, welche sich daran knüpfen ließen, schweben also in der Luft. Aber tatsächlicher Gebrauch des Hebräischen ist aus dem Beinamen zu schließen.

Hier ging Dalman also von einem hebräischen Ursprung des Namens aus.

Fazit

Wenn man die ausführlichen und doch bei weitem nicht vollständigen Ausführungen Browns gelesen hat16, staunt man über die oberflächliche Behandlung des Themas in den gängigen deutschsprachigen Kommentaren. Die vielen und erfolglosen Ableitungsversuche lassen die Schlussfolgerung Browns als vertretbar erscheinen: bis heute ist die genaue Bedeutung des Namens umstritten und war wohl schon zur Zeit der Abfassung der Evangelien nicht mehr bekannt. Das sollte ein Warnsignal in Bezug auf alle Versuche sein, griechische Aussagen der Evangelien ins Aramäische rückübersetzen zu wollen, wenn das schon bei der griechischen Fassung eines so prominenten (wohl) semitischen Wortes nicht gelingt.

Skizze als Zusammenfassung

Hier noch eine Skizze zur Übersicht zu den vorgestellten Deutungen:

Skizze zu den vorgestellten Deutungen
Skizze zu den vorgestellten Deutungen des Namens Iskariot
© auslegungssache.at

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  1. Bart Ehrman verweist auf ihn und bietet eine prägnante Zusammenfassung des Ertrags in seinem Werk The lost gospel of Judas Iscariot (2006) S. 145-146.
  2. REB: Einige der antiken Vorschläge sind vom Standpunkt der wissenschaftlichen Regeln her, die die Transkription von Hebräisch nach Griechisch bestimmen, nicht zu verteidigen.
  3. also זכר יה
  4. Vgl. Theologisches Wörterbuch zum AT Band VII (1993) S. 797
  5. So that Judas Iscariot may perhaps signify as much as Judas with the apron. (ebenda)
  6. Band II (1899) S. 410; vgl. Jastrow S. 1019,
  7. Jastrow S. 637 leitet den Ausdruck von אִיסְקוֺרְטְיָא ab.
  8. ‚Und Jesus sprach‘: Untersuchungen zur aramäischen Urgestalt der Worte Jesu (BWANT 118 ²1987) Die Ergebnisse hat Franz Alt auflagenstark auf den Büchermarkt geworfen.
  9. Diesen Hinweis verdanke ich Charles Ernest Burland Cranfields „The Gospel according to Saint Mark“ (1959) S. 132
  10. Eine deutsche Übersetzung durch Clementz findet sich hier.
  11. Elberfelder liest „die Männer von Tob“; Luther 2017 „von Tob zwölftausend Mann“; REÜ: „die Leute von Tob“; Zürcher: „jeden von Tob“.
  12. Villains Called Sicarii: A Commonplace for Rhetorical Vituperation in the Texts of Flavius Josephus; in: im Journal for the Study of Judaism 47 (2016) S. 475-507
  13. eine Lautveränderung
  14. FN REB: Von der Wurzel sqr wurde Iskariot mit der Bedeutung „der Färber“ verbunden.
  15. Palmyrenisch ist ein ostaramäischer Dialekt, der hauptsächlich in und um Palmyra gesprochen wurde. Ein Tessera – Einzahl von Tesserae – ist ein viereckes Plättchen, das als Ausweis verwendet werden konnte.
  16. Sein eigenes Literaturverzeichnis zu diesem Thema umfasst zwei volle Seiten.

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