Legion ist mein Name, weil wir viele sind

Als Fjodor Michailowitsch Dostojewski seinen Roman „Die Dämonen“ schrieb, stellte er ihm neben einem Gedicht von Alexander Sergejewitsch Puschkin die neutestamentliche Erzählung von einer Dämonebannung Jesu voran, allerdings in der Version des Evangelisten Lukas. Ich möchte hier die Markus-Fassung der Erzählung untersuchen und auf ihre historischen Hintergründe befragen, um ihr Verständnis zu erleichtern. Markus erzählt in 5,1-20, wie Jesus einen Besessenen von einem Dämon befreit, der sich selbst „Legion“ nennt. Mit der Erlaubnis Jesu fährt „Legion“ dann in eine Schweineherde, die im See von Galiläa ertrinkt.

1. Hintergrund: Die Geschichte des jüdischen Aufstands in Galiläa

Markus verwendet das Wort Legion in seiner aramäisierten Form – dennoch ist die Wahl dieses Begriffs natürlich nicht willkürlich. Dazu kommt noch die Kombination mit der Schweineherde. Gerd Theißen und andere haben hier einen klaren zeitgenössischen Bezug hergestellt. Während des jüdischen Aufstands, der zur Zerstörung Jerusalems führen sollte, war in Galiläa die zehnte Legion Fretensis eingesetzt, deren Symbol u. a. ein Eber war. Stempel und Münzen der Legion belegen das.

Trotzdem bleibt eine Frage: Eine Legion bestand aus ungefähr sechstausend Soldaten – in der Erzählung ist aber von zweitausend Schweinen die Rede. Hier hat Markus Lau 2007 eine plausible Erklärung vorgelegt, die diese Zahl in Zusammenhang mit der Legio X Fretensis bringt. Dieses Geschehen aus dem Aufstand in Galiläa dürfte Markus also wohl vertraut gewesen sein – was nicht nur hilft, unsere Erzählung besser zu verstehen, sondern ein weiteres Argument gegen eine Frühdatierung des Markus ist.

Aber es gibt noch andere Gedächtnisspuren.

2. Hintergrund: Die Henoch-Literatur

Bereits 1864 hat Abraham Geiger in der Jüdischen Zeitschrift für Wissenschaft und Leben (III, 199 ff.) darauf aufmerksam gemacht, dass das Buch Henoch die Vorstellung von gefallenen Engeln nach Gen 6,1-4 mit dem Dämon Asasel aus Lev 16 verknüpft hat. So heißt es dazu:

⁴ καὶ τῷ Ῥαφαὴλ εἶπεν· δῆσον τὸν Ἀζαὴλ ποσὶν καὶ χερσὶν καὶ βάλε αὐτὸν εἰς τὸ σκότος, καὶ ἄνοιξον τὴν ἔγημον τὴν οὖσαν ἐν τῷ Δαδουὴλ κἀκεῖ βάλε αὐτόν, ⁵ καὶ ὑπόθες αὐτῷ λίθους τραχεῖς καὶ ὀξεῖς καὶ ἐπικάλυψον αὐτῷ τὸ σκότος, καὶ οἰκησάτω ἐκεῖ εἰς τοὺς αἰῶνας, καὶ τὴν ὄψιν αὐτοῦ πώμασον, καῖ φῶς μὴ θεωρείτω.

(Henoch 10,4-5; GCS Leipzig 1901, S. 30)

⁴ Und zu Raffael sprach er (=Gott): Binde den Azazel an Händen und Füßen und wirf ihn in die Finsternis, und öffne die Wüste, die in Dadouel ist; dort wirf ihn hinein. ⁵ Und lege unter ihn harte und scharfe Steine und verhülle ihn mit Finsternis, und er soll sich dort in Ewigkeit befinden, und decke sein Sehvermögen zu, und Licht soll er nicht sehen. (MÜ)

Diese Steine und das Hausen des Dämonen im Dunkeln begegnen uns ebenfalls bei Markus:

καὶ διὰ παντὸς νυκτὸς καὶ ἡμέρας ἐν τοῖς μνήμασιν καὶ ἐν τοῖς ὄρεσιν ἦν κράζων καὶ κατακόπτων ἑαυτὸν λίθοις. (Mk 5,5)

Das Münchener NT übersetzt:

Und die ganz Zeit durch, nachts und tags, war er in den Grüften und in den Bergen, schrie und schlug sich mit Steinen. (Mk 5,5)

Auffällig ist auch die Verwendung des Wortes κατοίκησις (katoíkēsis) in Mk 5,3: es bedeutet Wohnung und kommt im NT nur an dieser Stelle vor. Im Buch Henoch wird es in 15,7-10 vier Mal verwendet, um den Wohnort der bösen Geister zu bezeichnen:

⁷ καὶ διὰ τοῦτο οὐκ ἐποίησα ἐν ὑμῖν θηλείας· τὰ πνεύμα<τα> τοῦ οὐρανοῦ, ἐν τῷ οὐρανῷ ἡ κατοίκησις αὐτῶν. ⁸ καὶ νῦν οἱ γίγαντες οἱ γεννηθέντες ἀπὸ τῶν πνεθμάτων καὶ σαρκός, πνεύμα<τα> ἰσχυρὰ <κληθήσονται> ἐπὶ τῆς γῆς. καὶ ἐν τῇ γῇ ἡ κατοίκησις αὐτῶν ἔσται. (…) ¹⁰ [πνεύμα<τα> οὐρανοῦ, ἐν τῷ οὐρανῷ ἡ κατοίκησις αὐτῶν ἔσται, καὶ τὰ πνεύματα ἐπὶ τῆς γῆς τὰ γεννηθέντα, ἐπὶ τῆς γῆς ἡ κατοίκησις αὐτῶν ἔσται.]

(Hen 15,7-8.10; S. 42 a.a.o.) Auf Deutsch:

⁷ Und darum habe ich unter euch keine Frauen erschaffen: die Geister des Himmels (haben) ihre Wohnung im Himmel . ⁸ Aber die Riesen jetzt, die von Geistern und Fleisch gezeugt worden sind, starke Geister werden sie auf der Erde genannt werden. Und auf der Erde wird ihre Wohnung sein. ¹⁰ Die Geister des Himmels, im Himmel wird ihre Wohnung sein, und die Geister, die auf der Erde gezeugt wurden, auf der Erde wird ihre Wohnung sein. (MÜ)

Dazu passt, dass Markus den Dämon in der Perikope (mit einer Ausnahme: Mk 5,12) durchgängig nicht als solchen, sondern als ἀκάθαρτον πνεῦμα (akátharton pneuma) – als unreinen Geist bezeichnet. Auch das fügt sich gut zu der Henochischen Erzählung vom Engelfall. Hier noch weitere Parallelen zwischen Aussagen der markinischen Erzählung und des Henochbuches über den/die unreinen Geist/er:

Die gefallenen Engel schwören auf dem Berg Hermon einen Eid:

¹ καὶ ἐγένετο, ὅτε ἐπληθύνθησαν οἱ υἱοὶ τῶν ἀνθρώπων, ἐγεννήθησαν αὐτοῖς θυγατέρες ὡραῖαι, καὶ ἐπεθύμησαν αὐτὰς οἱ ἐγρήγοροι καὶ ἀπεπλανήθησαν ὀπίσω αὐτῶν καὶ εἶπον πρὸς ἀλλήλους· ἐκλεξώμεθα ἑαυτοῖς γυναῖκας ἀπὸ τῶν θυγατέρων τῶν ἀνθρώπων τῆς γῆς. καὶ εἶπε Σεμιαζᾶς ὁ ἂρχων αὐτῶν πρὸς αὐτούς· φοβοῦμαι μὴ οὐ θελήσητε ποιῆσαι τὸ πρᾶγμα τοῦτο, καὶ ἔσομαι ἐγὼ μόνος ὀφειλέτης ἁμαρτίας μεγάλης. καὶ ἀπεκρίθησαν αὐτῷ πάντες καὶ εἶπον· ὀμόσωμεν ἃπαντες ὃρκῳ καὶ ἀναθεματίσωμεν ἀλλήλους τοῦ μὴ ἀποστρέψαι τὴν γνώμην ταύτην, μέχρις οὗ ἀποτελέσωμεν αὐτήν. τότε πάντες ὢμοσαν ὁμοῦ καὶ ἀνεθεμάτισαν ἀλλήλους. Ἠσαν δὲ οὗτοι διακόσιοι οἱ καταβάντες ἐν ταῖς ἡμέραις Ἰάρεδ εἰς τὴν κορυφὴν τοῦ Ἐρμονιεὶμ ὄρους καὶ ἐκάλεσαν τὸ ὅρος Ἐρμώμ, καθότι ὢμοσαν καὶ ἀνεθεμάτισαν ἀλλήλους ἐν αὐτῷ.

(Hen 6,1-6; S. 24 a.a.o.)1

Und es geschah, als die Söhne der Menschen überhand nahmen, wurden ihnen jugendlich schöne Töchter geboren, und es begehrten sie die Wächter und sie wurden danach durch sie verleitet und sprachen zueinander: Wir wollen uns Frauen von den Töchtern der Menschen des Erde erwählen. Und es sprach Semiazas, der Oberste bei ihnen: Ich fürchte, dass ihr dieses Werk nicht tun wollt, und ich werde allein einer großen Sünde schuldig sein. Da antworteten ihm alle und sprachen: Wir wollen alle einen Schwur (hórkos) schwören und wollen einander verfluchen, dass wir uns nicht von diesem Beschluss abwenden, bis dass wir ihn nicht zu Ende gebracht haben. Da schworen sie alle an der selben Stelle und verfluchten einander. Diese aber waren zweihundert, die in den Tagen Iareds2 auf den Gipfel des Berges Hermoniein herabgestiegen waren und sie nannten den Berg Hermon, deshalb weil sie auf ihm geschworen und einander verflucht hatten. (MÜ)

Genauso beschwört (horkizō) „Legion“ Jesus (Mk 5,7) in der Markus-Erzählung ἐκεῖ πρὸς τῷ ὄρει „dort bei dem Berg“ (Mk 5,11). Doch die stärkste Parallele zwischen beiden Texten findet sich in einer geografischen Angabe.

¹³ καὶ ἐξελθόντα τὰ πνεύματα τὰ ἀκάθαρτα εἰσῆλθον εἰς τοὺς χοίρους, καὶ ὥρμησεν ἡ ἀγέλη κατὰ τοῦ κρημνοῦ εἰς τὴν θάλασσαν, ὡς δισχίλιοι, καὶ ἐπνίγοντο ἐν τῇ θαλάσσῃ. (Mk 5,13; NA 28)

In der Übersetzung von Fridolin Stier:

Und heraus fuhren die unreinen Geister und hinein in die Schweine. Und die Herde schoß den Steilhang hinab in den See – an die zweitausend – und ersoff im See. (Mk 5,13)

Bemerkenswert ist der Ausdruck κρημνός (krēmnós), den Stier korrekt mit Steilhang übersetzt. Wer schon einmal vor Ort war, weiß, dass es am Kinnereth keinen Steilhang gibt.3 Hans M. Moscicke hat gezeigt, dass der Ausdruck im klassischen und LXX-Griechisch kein Terrain bedeutet, das man mal eben so hinunterläuft, sondern ein Terrain, über das man hinabstürzt. 4 Hier sind wir nun wieder bei dem Sündenbock angelangt, der zu Asasel geschickt wird. Die Mischna führt dazu aus:

מה היה עושה, חולק לשון של זהורית, חציו קשר בסלע וחציו קשר בין שתי קרניו, ודחפו לאחוריו, והוא מתגלגל ויורד, ולא היה מגיע לחצי ההר עד שנעשה אברים אברים

Was hat er (der den Bock in die Wüste geführt hat) getan? Er teilte den karmesinroten Strick5, seine (eine) Hälfte verknotete er am Felsen und seine (andere) Hälfte verknotete er zwischen seinen beiden Hörnern und stieß ihn rückwärts hinunter, und er rollte und kam herunter, und (noch) hatte er die Hälfte des Berges nicht erreicht, da war er schon in lauter Stücke gerissen. (mJoma 6,6; MÜ)

Wir hatten eingangs schon gesehen, dass Asasel in Hen 10,4 ebenfalls in die Dunkelheit geworfen wird. Mk scheint mit seinem Steilhang, den „Legion“ hinunterstürzt, an diese Vorstellung anzuknüpfen. Vor diesem Hintergrund bekommt die Gerasener Dämonen-Bannung noch einmal eine weitere Tiefenschärfe: sie spielt die kosmische Reinigung des Landes von den unreinen Geistern ein, die in der Henoch-Literatur ebenfalls mit Wasser verbunden ist – nämlich mit der Sinflut. Gott sagt zu Gabriel (Hen 10,9):

²⁰ καὶ σὺ καθάρισον τὴν γῆν ἀπὸ πάσης ἀκαθαρσίας καὶ ἀπὸ πάσης ἀδικίας καὶ ἀπὸ <πά>σης ἁμαρτίας καὶ ἀσεβείας, καὶ πάσας τὰς ἀκαθαρσίας τὰς γινομένας ἐπὶ τῆς γῆς ἐξάλειψον <καὶ ἔσονται πάντες οἱ υἱοὶ τῶν ἀνθρώπων δίκαιοι> ²¹ καὶ ἔσονται πάντες λατρεύοντες οἱ λαοὶ καὶ εὐλογοῦντες πάντες ἐμοὶ καὶ προςκυνοῦντες. ²² καὶ καθαρισθήσεται πᾶσα ἡ γῆ ἀπὸ παντὸς μιάσματος καὶ ἀπὸ πάσης ἀκαθαρσίας καὶ ὀργῆς καὶ μάστιγος καὶ οὐκέτι πέμψω ἐπ` αὐτούς εἰς πάσας τὰς γενεὰς τοῦ αἰῶνος.

(Hen 10,20-22; S. 34 a.a.o.)

²⁰ Und du reinige die Erde von aller Unreinheit und von jeder Ungerechtigkeit und von <je>der Sünde und Gottlosigkeit, und vertilge alle die Unreinheiten, die auf der Erde geschehen <und alle die Menschenkinder werden gerecht sein> ²¹ und die Völker werden alle Verehrer sein und mich alle preisen und sich niederwerfen. ²² Und die Erde wird von aller Befleckung gereinigt werden und von jeder Unreinheit, weder Zorn noch Plage werde ich mehr auf sie herabsenden in allen Generationen bis in Ewigkeit. (MÜ)

Diese Reinigung der Erde geschieht durch die Flut – so wie das Land der Gerasener durch das Wasser des Sees gereinigt wird. So zeigt sich abschließend, dass Markus mit Motiven aus dem Henoch-Buch arbeitet, um die apokalyptische Reinigung des Landes durch den Kyrios Jesus zu verdeutlichen, dies vor dem Hintergrund des Asasel-Ritus am Jom Kippur.

Fußnoten

  1. Ich zitiere hier den vollständigeren Text nach einem Zitat bei Synkellos, vgl. S. 13 der GCS-Ausgabe, a.a.o.
  2. Jared oder Jered ist in der Genealogie der Patriarchen ein Vertreter der fünften Generation nach Adam und der Vater des Henoch (Gen 5,15-20).
  3. Zu den sonstigen geografischen Ungereimtheiten vergleiche den Artikel meines verehrten akademischen Lehrers Helmut Merklein: Die Heilung des Besessenen von Gerasa (Mk 5,1-20) in: The four Gospels. FS Frans Neyrynck, Band III, Leuven 1992, S. 1022-1024.
  4. The Gerasene Exorcism and Jesus’ Eschatological Expulsion of Cosmic Powers: Echoes of Second Temple Scapegoat Traditions in Mark 5.1-20, in: Journal for the Study of the New Testament 41(3) S. 372
  5. Zu diesem Strick und seiner Farbe vgl. Abraham Geiger: Lesestücke aus der Mischna; Breslau 1845; S. 18 f.

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