1 Der Bericht des Papias
Auch wenn Papias von Hierapolis kein besonders vertrauenerweckender Zeuge ist, muss ich ihn an dieser Stelle zu Wort kommen lassen. Die folgende Aussage dürfte er um 120 n. Chr. getätigt haben 1, Eusebius hat sie in seiner Kirchengeschichte überliefert.
ἐφ᾿ ἃς τοὺς φιλομαϑεῖς ἀναπέμψαντες, ἀναγκαίως νῦν προσϑήσσομεν ταῖς προεκτεϑείσαις αὐτοῦ φωναῖς παράδοσιν ἣν περὶ Μάρκου τοῦ τὸ εὐαγγέλιον γεγραφότος ἐκτέϑειται διὰ τούτων
>καὶ τοῦϑ᾿ὁ πρεσβύτερος ἒλεγεν· Μάρκος μὲν ἑρμηνευτὴς Πέτρου γενόμενος. ὅσα ἐμνημόνεθσεν, ἀκριβῶς ἔγραψεν. οὐ μέντοι τάξει τὰ ὑπὸ τοῦ κυρίου ἢ λεχϑέντα ἢ πραχϑέντα. οὒτε γὰρ ἢκοθσεν τοῦ κυρίου οὒτε παρηκολούϑησεν αὐτῷ, ὕστερον δέ, ὡς ἔφην, Πέτρῳ· ὃς πρὸς τὰς χρείας ἐποιεῖτο τὰς διδασκαλίας, ἀλλ᾽ οὐχ ὥσπερ σύνταξιν τῶν κυριακῶν ποιούμενος λογίων, ὥστε οὐδὲν ἥμαρτεν Μάρκος οὕτως ἔνια γράφας ὡς ἀπεμνημόνεθσεν. ἑνὸς γὰρ ἐποιήσατο πρόνοιαν, τοῦ μηδὲν ὧν ἤκουσεν παραλιπεῖν ἢ ψεύσασϑαί τι ἐν αὐτοῖς.< (HE III,39,15)2
»Nachdem wir nun die wißbegierigen Leser darauf aufmerksam gemacht haben, halten wir es für unsere Pflicht, außer seinen obigen Bemerkungen nun auch noch die Überlieferung anzuführen, welche er bezüglich Markus, des Verfassers des Evangeliums, aufgezeichnet hat. Er schreibt: „Auch dies lehrte der Presbyter: Markus hat die Worte und Taten des Herrn, an die er sich als Dolmetscher des Petrus erinnerte, genau, allerdings nicht ordnungsgemäß, aufgeschrieben. Denn nicht hatte er den Herrn gehört und begleitet; wohl aber folgte er später, wie gesagt, dem Petrus, welcher seine Lehrvorträge nach den Bedürfnissen einrichtete, nicht aber so, daß er eine zusammenhängende Darstellung der Reden des Herrn gegeben hätte. Es ist daher keineswegs ein Fehler des Markus, wenn er einiges so aufzeichnete, wie es ihm das Gedächtnis eingab. Denn für eines trug er Sorge: nichts von dem, was er gehört hatte, auszulassen oder sich im Berichte keiner Lüge schuldig zu machen.“« (Ü: Philipp Häuser für die BKV)
Wir wissen, dass Irenäus, seit 178 Bischof von Lyon, diese Angabe ebenfalls überliefert hat. Wieder ist Eusebius derjenige, der das entsprechende griechische Fragment bewahrt hat.
ὁ μὲν δὴ Ματϑαῖος ἐν τοῖς Ἑβραίοις τῇ ἰδὶα αὐτῶν διαλέκτῳ καὶ γραφὴν ἐξήνεγκεν εὐαζζελίου, τοῦ Πέτρου καὶ τοῦ Παύλου ἐν Ῥώμῃ εὐαγγελιζομένων καὶ ϑεμελιούντων τὴν ἐκκλησίαν· μετὰ δὲ τὴν τούτων ἔξοδον Μάρκος, ὁ μαϑητὴς καὶ ἑρμηνευτὴς Πέτρου, καὶ αὐτὸς τὰ ὑπὸ Πέτρου κηρυσσόμενα ἐγγράφως ἡμῖν παραδέδωκεν·< (HE, V,8,2) 3
»So hat Matthäus bei den Hebräern in deren Sprache (gepredigt) und außerdem ein Evangelium in schriftlicher Form herausgegeben. Zur selben Zeit predigten Petrus und Paulus in Rom das Evangelium und gründeten die (dortige) Kirche. Nach ihrem Tod hat Markus, der Schüler und Dolmetscher des Petrus, ebenfalls in schriftlicher Form für uns hinterlassen, was Petrus verkündet hat.« (Ü: Norbert Brox) 4
Für die Frage der Historizität der Markus-war-ein-Dolmetscher-des-Petrus Tradition trägt diese Angabe bei Irenäus allerdings nichts ein, nicht nur weil es Irenäus an dieser Stelle mit der geschichtlichen Situation nicht so genau nimmt: Paulus und Petrus haben die Kirche in Rom nicht gegründet. 5 Entscheidend ist vielmehr, dass er von der Papias-Tradition abhängig ist, sie also bloß wiederholt.
Dass ein Markus Begleiter des Petrus war, wußte man aus 1 Petr 5,13.
ἀσπάζεται ὑμᾶς ἡ ἐν Βαβυλῶνι συνεκλεκτὴ καὶ Μᾶρκος ὁ υἱός μου. (NA XXVIII)
Es grüßt euch die mitauserwählte Gemeinde in Babylon und Markus, mein Sohn. (REÜ)
Justin von Rom (gest. 162/168) scheint das Markus-Evangelium ebenfalls dem Wirken des Petrus zuzuschreiben, wie man aus diesem Abschnitt seiner Dialoge rekonstruieren kann:
Καὶ τὸ εἰπεῖν μετωνομακέναι αὐτὸν Πέτρον ἔνα τῶν ἀποστόλων, καὶ γεγράφθαι ἐν τοῖς ἀπομνημονεύμασιν αὐτοῦ γεγενημένον καὶ τοῦτο, μετὰ τοῦ ἄλλους δύο ἀδελφοὺς υἱοὺς Ζεβεδαίου ὄντας μετωωομακέναι ὀνόματι τοῦ Βοανεργὲς, ὅ ἐστιν υἱοὶ βροντῆς. (MPG VI, 724)
»Wenn es heißt, Jesus habe einem der Apostel den Namen Petrus gegeben, und wenn in dessen Denkwürdigkeiten geschrieben steht, daß er außerdem auch noch zwei Brüdern, den Söhnen des Zebedäus, den Namen Boanerges, das ist Donnersöhne, beigelegt habe …« (Ü:Philipp Hauser für die BKV)
Was Justin hier als »Denkwürdigkeiten« des Petrus bezeichnet, ist von einem Zitat aus Mk 3,17 begleitet:
καὶ Ἰάκωβον τὸν τοῦ Ζεβεδαίου καὶ Ἰωάννην τὸν ἀδελφὸν τοῦ Ἰακώβου καὶ ἐπέθηκεν αὐτοῖς ὀνόμα [τα] Βοανηργές, ὅ ἐστιν υἱοὶ βροντῆς· (NA XXVIII)
Jakobus, der Sohn des Zebedäus, und Johannes, der Bruder des Jakobus – ihnen gab er den Beinamen Boanerges, das heißt Donnersöhne. (REÜ)
Ein Blick in eine Synopse zeigt, dass der aramäische Ausdruck Boanerges nur in der Apostelliste des Markus vorkommt. So ergibt sich eine interessante weitere Spur: die nicht eben wenigen aramäischen Lehnwörter im Markus-Evangelium.
2 Aramäische Zitate im Mk Evangelium
Ich bringe die aramäischen Lehnwörter hier in der Reihenfolge ihres Vorkommens bei Mk. Bei ihrer Erklärung folge ich vor allem Wilhelm Kautzsch, der aber auch auf die unterschiedlichen Schreibweisen in der handschriftlichen Überlieferung genauer eingeht. Die griechischen Schreiber des NT waren hier wieder regelmäßig ge- oder überfordert.
2.1 satan (σατανᾶς) – Mk 1,13
Nach Jastrow S. 1554 שָׂתָן, bibel-hebräisch und aramäisch; Kautzsch gibt סָטָנָא an, stat. emph. von סָטָן. (Kautzsch, Grammatik des Biblisch-Aramäischen. Mit einer kritischen Erörterung der aramäischen Wörter im Neuen Testament, Leipzig 1884, S. 9)
2.2 boanerges (βοανεργές) – Mk 3,17
Der große Theodor Nöldeke schrieb: »Das οα in βοανηργές weiß ich auch nicht anders zu deuten als durch die >monströse< Annahme 6, daß jenes ein Versuch sein soll, den unreinen Vokal der galiläischen Aussprache darzustellen, der etwa ein dumpfes kurzes a sein mochte. Die einzig mögliche Erklärung scheint mir immer noch בני רגשׁ »filii tumultus«.« 7
Ganz anders Kautzsch: »Wird Marc. 3,17 durch υἱοὶ βροντῆς erklärt. Das Wort bietet jedoch mehrfache Schwierigkeiten. Dass βοανη unreine Aussprache für בָנֵי sei, welches die ungebildeten Galiläer für בְנֵי gesprochen hätten (…), ist eine monströse Annahme; nicht viel besser steht es mit der Behauptung, die Lightfoot unter Berufung auf Broughton in Curs gesetzt hat (…), die Juden hätten allezeit das Šewā wie oa gesprochen, z.B. noabhyim für נְבִיאִים daher auch Strabo Μοασαδα für Masada [מְצָדָא?] schreibe. Ebenso wenig aber ist רֶגֶשׁ Donner, sondern eine lärmende Volksmenge und auch aram. רְגוֹשׁ und רִגוּשׁ ist Rauschen, Lärm, nicht Donner. Insofern hat Hieron. Recht, wenn er für die Bedeutung „Donnersöhne“ Benereem (בְּנֵי רְעַם, gewöhnlich allerdings רַעַם) fordert. (…) Mir scheint nach alledem das wahrscheinlichste, dass nicht רֶגֶשׁ,sondern vielmehr רְגַז [von רְגִיז] Zorn, zorniger Ungestüm in dem Worte steckt, und es wäre denkbar, dass eben dies durch υἱοὶ βροντῆς ausgedrückt werden sollte.«8
2.3 beelzebul (Βεεζεβούλ) – Mk 3,22
Der aramäische Ausdruck ist nach Kautzsch בְּעֵל זְבוּל – er fährt fort: »Nun ist זְבוּל allerdings nicht = neuhebr. זֶבֶל Mist, sondern nur in der Bedeutung Wohnung zu belegen. Trotzdem (…) ist zebûl sicher eine Umlautung von zebûb (vergl. בַּעַל זְבוּב in 2 Kön 1,2 al.), wenn schon bei dieser Umlautung (…) auch der Gedanke an זבל Mist, זבול das Düngen (aber auch /das Darbringen von Götzenopfern!) mitgewirkt haben mag«. 9
2.4 legion (λεγιών) – Mk 5,9
Nach Kautzsch das lateinische legio, aber wohl erst durch Vermittlung des aram. לִגְיוֹן. Dass das Wort eindeutig aramäisch ist, zeigt auch Samuel Krauss in seinem Werk »Griechische und lateinische Lehnwörter im Talmud, Midrasch und Targum«. 10
2.5 talitha kum (ταλιθα κουμ) – Mk 5,41
Nach Jastrow S. 537 u. 1330 טַלְיְתָא קוּם. Gustav Dalman bemerkt zu dem Ausdruck:
»Zweifellos aramäisch ist der Ruf ταλιϑὰ κοῦμι, aram. ṭaljetā (oder ṭelītā) ḳūmi, womit Jesus in Kapernauum die Tochter des Synagogenvorstehers vom Tode erweckte (Mk 5,41). Die Lesart κουμ setzt den im Syrischen üblichen Abfall des unbetonten Vokals der weiblichen Endung voraus. Diese Kürzung wäre nach Schulthess schon im ersten Jahrhundert nachzuweisen. Aber die galiläische Imperativform mit der weiblichen Endung īn spricht dagegen. ṭaljetā ist echt aramäische Bezeichnung für das Mädchen, das hebräisch jaldā hieße. Dem alttargumischen Dialekt ist es fremd, aber im galiläischen und jerusalemisch-targumischen Dialekt gewöhnlich.« 11
2.6 korban (κορβᾶν) – Mk 7,11
Diesen Ausdruck – der Geschenk/Opfer bedeutet – bringt Kautzsch in seiner Aufstellung gar nicht, vermutlich, weil er bibelhebräisch ist. Doch קָרְבַּן wird nach Jastrow S. 1411 f. auch im Targum gebraucht.
2.7 effata (εφφαθα) – Mk 7,34
Der Ausdruck kommt nach Kautzsch wohl von אֶתְפַתַּח – öffne dich! – einem Ethpa’al von פתח 12.
2.8 geenna (γέεννα) – Mk 9,43
Auch hier lässt Kautzsch aus, da der Ausdruck bibelhebräisch ist: גֵּיא הִנֹּם. Jastrow S. 236 kennt ihn als גֵּיהִינם – das Tal Hinnom südlich von Jerusalem, in dem dem Moloch geopfert wurde.
2.9 rabbuni (ῥαββουνί) – Mk 10,51
Kautzsch: Mein Herr. Die Vocalisation ist befremdlich, denn die sonstige Ueberlieferung kennt nur die Formen רַבָּן und רִבּוֹן. Ist ῥαββουνί auch ein galiläischer Provinzialismus? 13
2.10 abba (Ἀββᾶ) – Mk 14,36
Entspricht nach Kautzsch אַבָּא – Griechisch ὁ πατήρ und bedeutet ‚Vater‘. Zu den Missinterpretationen des Ausdrucks, der in den kanonischen Evangelien ein einziges Mal – nämlich an dieser Stelle – vorkommt, habe ich bereits hier etwas geschrieben.
2.11 golgatha (γολγοϑα) – Mk 15,22
Kautzsch beruft sich auf Levy Neuhebräisches und chaldäisches Wörterbuch, der als übliche Aussprache גֻּלְגַלְתָּא als stat. emphat. von גֻּלְגְּלָא angibt. »Im syrischen gāgultā ist das erste l elidiert und durch Dehnung des Vokals compensiert.« 14 Nach Levy bedeutet der Ausdruck übrigens »Kopf« bzw. »Schädel«. 15
2.12 Ps 22,2 – Mk 15,34
Das Zitat von Ps 22,2 auf aramäisch im Munde Jesu habe ich bereits hier behandelt.
3 Zwischenfazit
Zehn aramäische Ausdrücke und zwei aramäische Sätze (Mk 5,41 u. 15,34) sind für das kürzeste der kanonischen Evangelien eine interessante Bilanz. Diese aramäischen Wörter sind auch ausdrucksstärker als die lateinischen Lehnwörter, die sein Verfasser ebenfalls verwendet. 16 Dies könnte also für einen Übersetzer sprechen, der aus dem aramäischen in den griechischen Sprachraum vermitteln konnte.
Zu denken gibt mir, dass Petrus bei Markus nicht mit seinem aramäischen Namen Kephas (κηφᾶς, nach Kautzsch ist כֵּיפָא stat. emphat. von כֵּיף – Fels) 17 angesprochen wird – bei Paulus, der Petrus ja persönlich kannte, aber immer wieder (Gal 1,18; 2,11; 1 Kor 15,5). Nachdem Petrus dieser Beinnamen von Jesus selbst verliehen worden war (Mk 3,16; Mt 16,18; Joh 1,42) spricht das wohl eher doch gegen die These, dass der Verfasser des Mk der Dolmetscher des Petrus war.
Insgesamt kommt Petrus bei Mk auch nicht besonders gut weg – was natürlich am theologischen Konzept des Evangelisten liegt, der das Unverständnis der Jünger – und insbesondere des Petrus hervorhebt (Mk 8,31-33; 9,6; 14,29-30; 14,37). Da ändert es meiner Meinung nach auch nichts, dass der erste und der letzte Jünger, der bei Mk erwähnt wird (Mk 1,16 und 16,7), eben Petrus ist. 18
Ich komme zum Schluss: Es sprechen Argumente dafür, dass es sich bei Mk um jemand handelt, der als Übersetzer tätig sein konnte. Eine besondere Bindung oder Nähe zu Petrus ist meines Erachtens allerdings nicht auszumachen.
Fußnoten:
1 Vgl. Lukas Borman, Theologie des NT, Göttingen 2017, S. 230
2 Zitiert nach GCS IX, S. 290 u. 292
3 Ebenda, S. 442 u. 444
4 Fontes Christiani 8/3, S. 25
5 »IRENÄUS kannte den Römerbrief des Paulus und muß also gewußt haben, daß dies historisch nicht zutraf. Er bringt ein Klischee.« Norbert Brox, a.a.o.
6 Ein Zitat aus Kautzsch’s Grammatik des biblischen Hebräisch, § 5a S. 9. Ich bringe den Abschnitt in unmittelbarer Folge.
7 Theodor Nöldekes Rezension in: Göttingische gelehrte Anzeigen 26/1884 S. 1022 – 1023
8 Kautzsch, S. 9-10 a.a.o.
9 Kautzsch, S. 9, a.a.o.
10 Er behandelt den Ausdruck auf den Seiten 48,49,51,159,176,210,217 und 219 seines Buches. Der Plural des Ausdrucks lautet dann ganz typisch לגיונותין!
11 Gustaf Dalman: Jesus – Jeschua. Die drei Sprachen Jesu, Leipzig 1922, S. 11
12 siehe Kautzsch, S. 10
13 ebenda
14 ebenda
16 Dabei handelt es sich vor allem um gängige Münzen wie den Denar (Mk 6,27+37) und den Quadrans (Mk 7,4; 12,14+42) sowie den Zenturio beim Kreuz (Mk 15,15+39+44-45). Den Ausdruck Legion sehe ich – wie oben begründet – mehr im aramäischen Sprachklang daherkommen.
17 a.a.o.
18 Vgl. Petr Pokorný/Ulrich Heckel: Einleitung in das NT, Tübingen 2007, S. 347