In der Neuzeit beginnen Bibel-Übersetzer Züchtigungen zu erfinden, die in der Bibel gar nicht vorkommen. Hier dazu ein Beispiel aus der Lukas-Passion, das ich bemerkenswert finde.
In Lukas 23 versucht Pilatus Jesus freizulassen, dabei lässt ihn der Evangelist in Vers 16 sagen:
παιδεύσας οὖν αὐτὸν ἀπολύσω. (Paideúsas oun autòn apolysō).
Das bedeutet: »Nachdem ich [ihn] zurechtgewiesen habe, werde ich ihn freilassen«. Das entscheidende Verb ist παιδεύω (paideúō), das hier im Partizip Aktiv des Aorist steht. Es leitet sich von dem griechischen Wort παῖς (pais) = Kind ab und bedeutet „erziehen, (aus)bilden, unterrichten“1. Wir erkennen es heute noch in unserem Wort Pädagogik.
Erstaunlicherweise übersetzt die revidierte Einheitsübersetzung den Vers so: »Daher will ich ihn auspeitschen lassen und dann freilassen.« Andere gängige deutsche Übersetzungen geben das paideúō mit »züchtigen« wieder (Elberfelder, Luther, Zürcher), sogar die Bibel in gerechter Sprache bietet »Nach ein paar Züchtigungen werde ich ihn gehen lassen.«
Ein paar Verse weiter, in Lk 23,22, kommt das Verb dann nochmals im Mund des Pilatus vor, der dabei seine Aussage aus Vers 16 wörtlich widerholt:
παιδεύσας οὖν αὐτὸν ἀπολύσω. (Paideúsas oun autòn apolysō).
Und wieder wird in den gängigen Übersetzungen daraus auspeitschen (REÜ) bzw. züchtigen (Luther, Elberfelder, Zürcher, BigS). Doch das Problem ist nicht, wie ich ursprünglich dachte, auf den deutschen Sprachraum beschränkt: die King James Version züchtigt ebenfalls (chastise) und die französische Segond 21 peitscht (fouetter). Ich meine den Verantwortlichen dafür ausgemacht zu haben: es war Erasmus von Rotterdam.
Das Neue Testament des Erasmus
Als Erasmus 1516 sein griechisches Neues Testament herausgab, fand sich neben dem griechischen Text noch die Übersetzung der Vulgata. Die bietet in Lk 23,16:
emendatum ergo illum dimittam.
Und in Lk 23,22:
corripiam ergo illum et dimittam.
Das griechische Verb paideúō wird also einmal mit dem PPP von emendare und das andere Mal mit dem Futur der ersten Person Sing. von corripere übertragen. Emendare bedeutet »von Fehlern befreien, verbessern«, corripere »schelten, tadeln, zurechtweisen«. 1519 änderte Erasmus in der lateinischen Fassung seiner Ausgabe des NT zunächst das Verb in Lk 23,16 in castigare: »tadeln, rügen, strafen, züchtigen«. In der Ausgabe von 1527 passte er dann auch das Verb in Lk 23,22 an. Man kann es schön in dieser Ausgabe sehen, die links den griechischen Text, in der Mitte die Übersetzung des Erasmus und rechts die Fassung der Vulgata bietet.
Das NT des Erasmus aber war die Grundlage sowohl für die Übersetzung Dr. Martin Luthers als auch für die King James Version.
Warum war diese Bedeutungsänderung so erfolgreich?
Erasmus hatte mit seiner Veränderung der bis dahin geltenden Übersetzung durchschlagenden Erfolg. Wenn man den Eintrag zum Verb paideúō in The Brill Dictionary of Ancient Greek von Franco Montanari zurate zieht, erfährt man staunend, dass das Verb in der Antike immer im Bedeutungsspektrum von »erziehen« bleibt, mit zwei kleinen Ausnahmen, die allerdings beide seltsamerweise biblisch sind: in Lev 26,18 und Lk 23,16 bedeute das Verb to punish, castigate, was nach heutigem Verständnis bestrafen und geißeln meint.
Der Grund für diesen Erfolg ist wohl dem synoptischen Einfluss zuzuschreiben: nachdem Mk und Mt die Geißelung Jesu in einem Nebensatz erwähnen2, wollte Erasmus wohl vermeiden, dass die Geißelung in der Passion des Lukas gar nicht vorkommt – sie fehlt übrigens auch in der Passion des vierten Evangeliums. Ich meine aber, dass kein Weg daran vorbeiführt, dass Pilatus bei Lukas Jesus nach einer Ermahnung oder Zurechtweisung freilassen wollte. Eine Geißelung Jesu wird in seinem Evangelium nicht erwähnt.
Der zweite Grund gehört vielleicht in den Bereich der Psychologie. Erasmus stammt aus einer Zeit, in der grausame Todesstrafen gang und gäbe waren. Er selbst meint einmal in seiner Auslegung des Sprichworts fumos vendere, nachdem er eine besonders grausame Art der Todesstrafe geschildert hatte: Immane profecto supplicium, sed tamen factis tam pestilentibus dignum. »Sicherlich eine fürchterliche Hinrichtung, aber trotzdem solch verderblichen Taten angemessen.«
Luther selbst wiederum wurde als Kind von seinen Eltern schwer geprügelt. 3 All das macht verständlich, warum ihr Zugang zum Thema »Züchtigung« ein anderer war. Aber warum müssen wir bis heute an dieser Einstellung festhalten – nicht nur in unseren Bibel-Übersetzungen?
Wenn ich mich richtig erinnere, gab es schon einmal in diesem Blog die Behandlung eines ähnlichen Problems mit „Wer seinen Sohn liebt, der züchtigt ihn“. Nur kann ich das leider nicht mehr finden.
Der Artikel findet sich hier.
Ganz im Gegenteil zur finsteren Frühneuzeit setzt Walther von der Vogelweide (um 1200) „Zucht“ keinesfalls in Zusammenhang mit „züchtigen“:
Nieman kan mit gerten
kindes zuht beherten.
den man zêren bringen mac,
dem ist ein wort als ein slac.
In einem philologisch so versierten Blog wundere ich mich über das völlige Fehlen von Hinweisen auf den Bedeutunswandel von ‚züchtigen‘ im Deutschen. Ob Luther im 16. Jh. oder ob die Einheitsübersetzung im 21. Jh. ‚züchtigen‘ als Übersetzung verwendet, ist ein ziemlicher Unterschied. Aus dem Grimm’schen Wörterbuch s.v. lässt sich lernen, dass zu Luthers Zeiten und in Luthers Bibelübersetzung das Wort ‚züchtigen‘ oder ‚zuchtigen‘ keineswegs nur zur Beschreibung körperlicher Strafen angewendet wurde. Luther verwendet ‚züchtigen‘ auch an anderer Stelle als Übersetzung des Partizips von ‚paideuw‘. In der bekannten Stelle über die Gnade Gottes in Titus 2,12 übersetzt Luther 1545 (und schon 1522): „DEnn es ist erschienen die heilsame gnade Gottes allen Menschen / und züchtigt uns /“… Das klingt in unseren Ohren befremlich. Was haben Gottes heilsame Gnade und Züchtigung miteinander zu tun? In der Kirchenpostille 1522 erklärt uns der Herr Professor in seiner Predigt zur Christnacht über den Text dankenswerter Weise, was er damit gemeint hat. Die Gnade Gottes ist etwas völlig Neues, ohne Anknüpfungspunkt im menschlichen Leben (sola gratia lässt grüßen):
„Drumb setzt S. Paul. hie gar ein wacker wort auff kriechiß: Pedsusa. das heyst unterweyßen, wie man die kinder unterweyset, von neweß an, das sie vorhyn nie gehort noch erkennet haben, wilch auch nit nach yhrer vornunfft, ßondern nach dem wort des vatters sich richten, was derselb ihn nutzlich oder schedlich deuttet, das halten sie alßo, glawben und folgen yhm.“
So ist ‚züchtigen‘ für Luther offensichtlich synonym mit ‚unterweisen‘. Letzteres aber hat zu Luthers Zeit laut Grimm s. v. keinerlei Anklänge an Erziehung durch Gewalt, Brutalität oder körperliche Bestrafung, sondern zielt ganz auf die Vermittlung von Wissen. Das ist ein deutlich anderer Bedeutungsumfang als heute.
Damit ist nicht gesagt, dass Luther die Stelle Lukas 23,16 nicht genau in dem Sinn verstanden und übersetzt hat, wie es hier angenommen wird. Nur: Das ist nur eine Annahme. Erhärten ließe sich diese Annahme nur, wenn man eine explizite Erwähnung der Lukasstelle fände, in der Luther eindeutig von einer körperlichen Bestrafung Jesu durch Pilatus spricht.
Kaum der Erwähnung wert: In Titus 2 wird natürlich von keiner mir bekannten Übersetzung aus dem 21. Jh. das Wort ‚züchtigen‘ verwendet.
Nachtrag: Zum Bedeutungsumfang von ‚paideuw‘ im griechischsprechenden Judentum wäre dann neben The Brill Dictionary of Ancient Greek die LXX zu berücksichtigen, in der es vor allem in Jesus Sirach mehrfach im Sinne von strenger oder sehr strenger Erziehung gebraucht wird, vgl. die Zusammenstellung im Artikel ‚Züchtigen‘ unter 2.3 bei Gerlinde Baumann in: https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/zuechtigen/ch/5bea324159e230cb8e8aefb0b89b03be/. Inwieweit bei Jesus Sirach der hebräische Wortgebrauch von ‚jsr‘ im Hintergrund steht, wie der Artikel von Baumann zu implizieren scheint, müsste genauer analysiert werden. Sie ist aber sicher maßgebend in Lev 26:
In Lev 26,18 und V26 ist in jedem Fall ‚züchtigen‘ im heutigen Sinne m. E. die richtige Übersetzung, in V22 gibt es dagegen im heutigen Deutsch kaum ein angemessenes Wort.
Zu Lev 26,18 – da halte ich mich lieber an die Vulgata: sin autem nec sic oboedieritis mihi addam correptiones vestras septuplum propter peccata vestra. „Züchtigen“ hat auch im heutigen Deutsch immer eine Konnotation von Schlägen. Das ist der bleibende Verdienst der Übersetzer.
Ich würde meinen, im Zusammenhang von Lev 26 ist ziemlich eindeutig, was konkret unter diesen „correptiones“ in V 18 zu verstehen ist: „consumetur in cassum labor vester non proferet terra germen nec arbores poma praebebunt.“ (V20) Um den vormetaphorischen Wortsinn von „correptio“ aufzunehmen: Da werden Menschen von Gott schon sehr derb angefasst. Er schlägt sie nicht, aber er hält sie im Schwitzkasten. Heute würde man angesichts des hier beschriebenen Ernteausfalls vielleicht davon sprechen, dass die Dürre das Land fest im Griff hat. Andere sprechen von Schicksalsschlägen, verlagern damit die Erklärung aber auf ein mehr als schwammiges Gegenüber und weichen der Frage: Wer schlägt hier? Wer hat hier wen im Griff? letzten Endes aus. Levitikus ist da deutlicher: Es sind Erziehungsmaßnahmen Gottes, und zwar ziemlich drastische, nämlich für etliche tödliche. Ich persönlich halte solche Aussagen theologisch für brandgefährlich, aber darum geht es ja nicht. Interessant ist, dass die Vulgata auch in V 28 mit corripiam übersetzt, analog zur LXX, die ebenfalls von ‚paideuw‘ spricht: Eine ‚Zurechtweisung‘ Gottes dergestalt, dass er einen so unerträglichen Druck aufbaut, dass es zum Kannibalismus kommt und Gott Leichen auftürmen wird (VV29+30). Da finde ich ‚züchtigen‘ im heutigen Sprachgebrauch, wenn ich noch einmal überlege, deutlich zu schwach.
Damit geraten wir jetzt auf ein weites Feld …
Die Theologie, die sich hier zeigt, halte ich nicht für „brandgefährlich“.
Das wäre sie, wenn daraus konkrete Handlungen oder Verhaltensweisen abgeleitet würden.
Sie findet sich übrigens auch prominent im NT (Mk 13, Offb).
Aber damit sind wir weit vom ursprünglichen Ausgang weggekommen.
Danke auf jeden Fall für Ihre anregenden Einwände.
Danke für Ihren ausführlichen Hinweis, den ich allerdings nicht als Widerspruch zur Aussage meines Artikels sehe. In der von Ihnen zitierten Ausführung Luthers in der Postille fehlt ja interessanterweise das Verb „züchtigen“ – und ich meine, besonders im Hinblick auf sein Verständnis und seine Übersetzung von Heb 12,6-10 und eben Spr 13,24, dass für Luther bei „züchtigen“ immer eine körperliche Bestrafung mitgemeint ist.
(Das Verb μαστιγόω, dass die LXX bei der Übersetzung von Spr 3,12 verwendet – und das der Hebr zitiert, hat keine Entsprechung im Hebräischen: רצה heißt Gefallen haben!)
Um die Sache von meiner Seite abzuschließen:
Ich habe mich offenbar sehr ungeschickt ausgedrückt, wenn Sie keine Differenz zwischen unseren Auffassungen wahrgenommen haben. Ich freue mich, klarstellen zu dürfen: Ich finde Ihren Beitrag sehr anregend, denn dank ihm habe ich wirklich einmal wieder gründlich in BHS, LXX und Vulgata geschaut. Ich stimme allerdings mit kaum etwas überein.
Kurz gesagt:
Sie meinen, Lukas 23 sei ‚paideuw‘ mit ‚zurechtweisen‘ zu übersetzen. Ich halte das ausgehend vom Sprachgebrauch der LXX für sehr unwahrscheinlich.
Sie meinen weiter, ‚züchtigen‘ stehe im Deutschen stets für eine körperliche Bestrafung. Das bestreite ich mit Verweis auf die bei Grimm zusammengetragenen Stellen und den Sprachgebrauch bei Luther.
Ausführlich gesagt:
Ihre erste Annahme, ‚paideuw‘ meine explizit nicht Erziehung durch schwere körperliche Bestrafung, sehe ich angesichts zahlreicher Stellen in der LXX (und genauso bei Paulus) als wenig plausibel an. Insbesondere, wenn man der Vulgata hohen Wert für das Verständnis des griechischen Textes beimisst, ist es m. E. etwas eigenartig zu sagen, in den folgenden Stellen ginge es nicht um körperliche Strafen:
verberabunt illum (paideusousin auton) (Dtn 22,18)
pater meus cecidit (epaideusen) vos flagellis et ego autem caedam (paideusw) scorpionibus (3Kö 12,14)
castigans castigavit (paideuwn epaideusen) me Dominus et morti non tradidit me (Psalm 117,18)
noli subtrahere a puero disciplinam (paideuein) si enim percusseris eum virga non morietur (Prov 23,13)
Interessant wird die Sache, weil es sich in diesen Stellen offensichtlich stets um die gleiche Situation wie in Lukas 23 handelt: Eine Person oder eine Personengruppe, die die Obrigkeit ‚ist‘, ‚erzieht‘ jemanden, indem er körperlich bestraft wird. In den drei Fällen, in denen es um Menschen als ‚Erziehende‘ geht, soll dies durch Hiebe geschehen. Damit bewegt sich ein Verständnis der Sätze des lukanischen Pontius Pilatus, das in Richtung körperlicher Bestrafung, genauer: in Richtung einer Bestrafung durch Hiebe geht, vollständig im Rahmen der Sprache der LXX. Ich würde sagen: Es ist von diesem Bezugsrahmen her das naheliegendste Verständnis.
Als zweites gehen Sie davon aus, bei ‚züchtigen‘ sei im Deutschen stets eine körperliche Bestrafung gemeint (oder zumindest mitgemeint). Auch das halte ich für wenig plausibel und verweise auf Luthers Übersetzung „die heilsame Gnade Gottes … züchtiget uns“ in Titus 2. Ich halte es für absurd anzunehmen, diese Züchtigung durch die Gnade Gottes habe auch nur den Anklang körperlicher Bestrafung. Ich dachte, mein Hinweis auf die Kirchenpostille würde belegen, dass Luther das genauso sieht. Andere Beispiele einer Verwendung von ‚züchtigen‘ und ‚Züchtigung‘, in denen ich ebenfalls keinerlei Gedanken an eine körperliche Bestrafung finden kann, sind in Luthers Bibelübersetzung z. B. in den heilsgeschichtlichen Erinnerungen Dtn 4,36 und Dtn 11,2 zu finden, nicht ganz so positiv aber auch in Prov 29,19, wo die Züchtigung durch Worte explizit von der Züchtigung durch körperliche Bestrafung unterschieden wird.
Ich danke nochmals herzlich für die Stunden intensiver Beschäftigung mit den Originaltexten, die ich Ihrem ursprünglichen Beitrag und Ihren freundlichen Antworten verdanke.
Ich habe schon verstanden, dass Sie die Dinge ganz anders sehen als ich.
So let’s agree not to agree.
Der einzige Punkt, den ich Ihnen zugestehen muss, ist 3 Kön 12,14 – aber auch das müsste ich mir noch einmal ansehen.
In den anderen Punkten bin ich – wie ausgeführt – anderer Meinung, aber das ist ja wohl auch Ursache einer für mich spannenden Diskussion geworden.
Ich wünsche erfreuliche Ostertage
OA
Ich finde den Artikel sehr gut, die Erklärungen sind für mich nachvollziehbar.
Mit παιδεύω / paideúō habe ich kein Problem, was ich nicht weiß ist, wie man den Ausdruck μαστιγόω / mastigóō (Hebr 12,6) verstehen soll.