Diese Frage stellt sich bei einer sorgfältigen Lektüre der Synoptiker, denn bei Mk und Lk zieht Jesus auf dem Jungtier (πῶλος) eines Esels in Jerusalem ein1, bei Mt auf einer Eselin (ὄνος) und ihrem Jungtier2. Auch bei Joh sitzt Jesus auf dem Jungtier einer Eselin (Joh 12,14-15). Der Grund für diese unterschiedliche Darstellung der Evangelisten liegt meiner Meinung nach in der hebräischen Grammatik begründet.
Mt und Joh geben beide zu erkennen, dass die Szene auf einem Schriftzitat beruht: Joh führt es mit den Worten ein καθώς ἐστιν γεγραμμένον· – so wie geschrieben ist – allerdings ohne zu sagen, woher das Zitat kommt. Mt ist da etwas hilfreicher, denn bei ihm handelt es sich um eines der von ihm so gerne gebrauchten Erfüllungszitate, das er mit den Worten einleitet: τοῦτο δὲ γέγονεν ἵνα πληρωθῇ τὸ ῥηθὲν διὰ τοῦ προφήτου λέγοντος· – das ist geschehen, damit das durch den Propheten Gesprochene erfüllt wird, der sagt. Auch Mt sagt nicht, welcher Prophet gemeint ist, aber aus dem Text, den beide Evangelisten bieten, geht dann hervor, dass es sich im wesentlichen um Sach 9,9 handelt.
Zitat bei Matthäus | Zitat bei Johannes |
εἴπατε τῇ θυγατρὶ Σιών· | μὴ φοβοῦ, θυγάτηρ Σιών· |
ἰδοὺ ὁ βασιλεύς σου ἔρχεταί σοι | ἰδοὺ ὁ βασιλεύς σου ἔρχεται, |
πραῢς καὶ ἐπιβεβηκὼς ἐπὶ ὄνον | |
καὶ ἐπὶ πῶλον υἱὸν ὑποζυγίου. | καθήμενος ἐπὶ πῶλον ὄνου. |
(Mt 21,5; NA 28) | (Joh 12,15; NA 28) |
Sprecht zur Tochter Zion: | Fürchte dich nicht, Tochter Zion: |
Siehe, dein König kommt zu dir | Siehe, dein König kommt, |
sanft und aufgestiegen auf eine Eselin, | |
und auf das Jungtier, das Junge eines Zugtieres. | sitzend auf einem Jungtier eines Esels. |
Deutlich erkennbar ist, dass beide unterschiedlich zitieren. Wie sieht der Vers in der hebräischen Bibel aus?
גִּילִי מְאֹד בַּת־צִיּוֹן הָרִיעִי בַּת יְרוּשָׁלִַם הִנֵּה מַלְכֵּךְ יָבוֹא לָךְ צַדִּיק וְנוֹשָׁע הוּא עָנִי וְרֹכֵב עַל־חֲמוֹר וְעַל־עַיִר בֶּן־אֲתֹנֽוֹת׃
Jauchze sehr, Tochter Zion,
rufe laut, Tochter Jerusalem!
Siehe, dein König wird zu dir kommen,
gerecht und ein Retter ist er,
demütig und reitend auf einem Esel,
und zwar auf einem jungen Esel, einem Jungen einer Eselin.
Was man hier erlebt, ist der für die hebräische Bibel so typische Parallelismus membrorum: eine Aussage wird mit anderen Worten wiederholt, um sie besser einzuprägen. So adressiert der Anfang des Verses
Jauchze sehr, Tochter Zion / rufe laut, Tochter Jerusalem!
nicht zwei unterschiedliche Gruppierungen – gemeint ist in beiden Fällen die Bevölkerung Jerusalems. Diese Eigenart des Hebräischen ist besonders aus den Sprichwörtern bekannt:
Wer eine Grube gräbt, fällt selbst hinein, / wer einen Stein hochwälzt, auf den rollt er zurück. (Spr 26,27; REÜ)
Auch hier handelt es sich nicht um zwei verschiedene Aussagen, sondern um eine Lebenserfahrung, die doppelt formuliert wird.3 Ebenso verhält es sich mit der Aussage über den Esel in Sach 9,9: es handelt sich nicht um zwei Esel, sondern um einen, der doppelt beschrieben wird.
Als Matthäus die griechische Übersetzung des Sacharja-Zitats verwendete, ignorierte er den Parallelismus:
Χαῖρε σφόδρα, θύγατερ Σιων· κήρυσσε, θύγατερ Ιερουσαλημ· ἰδοὺ ὁ βασιλεύς σου ἔρχεταί σοι, δίκαιος καὶ σῴζων αὐτός, πραῢς καὶ ἐπιβεβηκὼς ἐπὶ ὑποζύγιον καὶ πῶλον νέον. (Sach 9,9 LXX)
Freue dich sehr, Tochter Sion, verkündige, Tochter Jerusalem! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Retter (ist) er, sanftmütig und reitend auf einem Lasttier, und zwar (auf) einem jungen Füllen. (Sach 9,9; LXX deutsch)
Den letzten Satzteil καὶ πῶλον νέον – und auf einem neuen Jungtier – verstand Matthäus also nicht als ergänzende Wiederholung, sondern wörtlich als Hinzufügung – daher kommen bei ihm zwei Esel vor.
Aber warum unterscheiden sich das Sacharja-Zitat bei Mt und bei Joh so stark (Mt und Mk lassen es beide aus)? Der Grund liegt in den unterschiedlichen Rezensionen des griechischen Textes. Ein Blick in die Hexapla des Origenes zeigt uns, dass Mt die Übersetzung der 70 bietet, während Johannes die Doppelungen innerhalb des Verses weglässt und nach einer Fassung zitiert, die weder der LXX (Ο‘), Aquila (Ἀ), Symmachus (Σ), Theodotion (Θ) oder der anonymen fünften Spalte, der Quinta (Ε‘) entspricht. Aber das ist eine andere Geschichte …
- Mk 11,1-7; Lk 19,28-35↩
- Mt 21,1-7↩
- James Kugel hat ein faszinierendes Buch über den Jahrtausende lang anhaltenden vergeblichen Versuch geschrieben, aus dem Parallelismus membrorum das Kennzeichen einer hebräischen Poesie zu entwickeln: The Idea of Biblical Poetry. Parallelism and its History (Johns Hopkins University Press 1998).↩
Danke für den lesenswerten Beitrag!