»Abba – lieber Vater«

Wie hat Jesus eigentlich gebetet? Weit verbreitet ist die Vorstellung, dass er Gott immer als »Abba« angeredet habe. Doch ein Blick in die Bibel bringt einen erstaunlichen Befund zu Tage: Ein einziges Mal (!) gebraucht Jesus in den Evangelien das Wort »Abba«, und das nur bei Markus, in Getsemani (Mk 14,32). Ein Blick in eine beliebige Konkordanz macht das deutlich. Woher kommt dann aber die Eingangs erwähnte Vorstellung?

Sie dürfte etwas mit dem Artikel »Abba« in dem von Gerhard Kittel (1888-1948) ab 1933 herausgegebenen, exegetischen Standardwerk „Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament“ zu tun zu haben. Der Autor des Artikels: ebenfalls Gerhard Kittel.

Er war der Sohn des berühmten Alttestamentlers (und ersten Herausgebers der „Biblica Hebraica Stuttgartensia“) Rudolf Kittel, und ein renommierter Neutestamentler, der von 1939-1943 auch in Wien lehrte. Und: Kittel war ein Nazi.

1933 hatte er einen antisemitischen Aufsatz zur „Judenfrage“ veröffentlicht und war ab 1936 maßgeblicher Mitarbeiter der „Forschungsabteilung Judenfrage“ des „Reichsinstituts für die Geschichte des neuen Deutschlands“. (Nach seiner Entlassung 1945 distanzierte er sich vom Nationalsozialismus.)

In dem genannten Aufsatz im „Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament“ behandelt Kittel die Frage der Anrede Gottes als „Abba“ durch Jesus. Dabei versucht er einen möglichst großen Unterschied zwischen der in den Evangelien bezeugten Gebetsweise Jesu und dem Judentum zu konstruieren. Obwohl Jesus in den Evangelien den Vater nur ein einziges Mal mit »Abba« anredet (s.o.) behauptet Kittel, dass Jesus immer und durchgängig »Abba« gesagt habe, was im Judentum unmöglich gewesen sei und schließt den Artikel mit den Worten:

»Der jüdische Sprachgebrauch zeigt, wie das urchristliche Vater-Kindes-Verhältnis zu Gott alle im Judentum gesetzten Möglichkeiten an Intimität weit übertrifft, vielmehr an deren Stelle etwas Neues setzt.«

In seiner Darstellung bleibt natürlich ausgeblendet, dass das in jedem jüdischen Gottesdienst gesprochene »18-Bitten Gebet« (Schmone esre) Gott permanent als »unser Vater« anredet oder dass die Tora die Israeliten selbstverständlich als »Kinder JHWH‘s« bezeichnet (Dtn 14,1). Wichtig ist offensichtlich nur die beabsichtigte Aussage, dass Jesus an die Stelle des immer als defizitär geltenden Judentums etwas Neues gesetzt habe.

Bis heute ist bei vielen Christen die Vorstellung verbreitet, dass der biblische Gott erst seit Jesus als Vater oder gar als Abba angesprochen worden sei. Auch bei Autoren, die sicherlich keine antisemitischen Tendenzen haben, findet man bis heute die unkritische Wiederholung der von Kittel aufgestellten Thesen.

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