Die Entwicklung des römisch-katholischen Eherechts ist komplex, was auch damit zusammenhängt, dass es in den ersten Jahrhunderten keine eigene kirchliche Eheschließung gab.
Im Diogenet-Brief (spätes 2. Jh.) heißt es:
Χριστιανοὶ γὰρ οὔτε γῇ οὔτε φωνῇ οὔτε ἔθεσι διακεκριμένοι τῶν λοιπῶν εἰσιν ἀνθρώπων. οὔτε γάρ που πόλεις ἰδίας κατοικοῦσι οὔτε διαλέκτῳ τινὶ παρηλλαγμένῃ χρῶνται οὔτε βίον παράσημον ἀκοῦσιν. (…) γαμοῦσιν ὡς πάντες, τεκνογονοῦσιν· ἀλλ’ οὐ ῥίπτουσι τὰ γεννώμενα. (Brief an Diogenet V,1-2.6)
»Denn die Christen sind weder durch Heimat noch durch Sprache und Sitten von den übrigen Menschen verschieden. Sie bewohnen nirgendwo eigene Städte, bedienen sich keiner abweichenden Sprache und führen auch kein absonderliches Leben. (…) Sie heiraten wie alle andern und zeugen Kinder, setzen aber die geborenen nicht aus.« (Ü: Gerhard Rauschen, BKV)
Johannes Chrysostomos
Johannes Chrysostomos (344/354-407) wehrte sich sogar vehement gegen die Auffassung, dass die Ehe ein Vertrag sei, und lehnte eine schriftliche Fixierung der Eheschließung dezidiert ab. So schreibt er in seiner Auslegung zu Mt 23,26:
Τίς μέλλων γαμεῖν, τρόπον ἐξήτασε καὶ ἀνατροφὴν κόρης; Οὐδείς· ἀλλὰ χρήματα εὐθέως καὶ κτήματα, καὶ μέτρα οὐσίας ποικίλης καὶ διαφόρου, καθάπερ τι πρίασθαι μέλλων, ἢ συνάλλαγμά τι κοινὸν ἐπιτελεῖν. ∆ιὰ τοῦτο καὶ οὕτω καλοῦσι τὸν γάμον. Πολλῶν γὰρ ἤκουσα λεγόντων· Συνήλλαξεν ὁ δεῖνα τῇ δεῖνι, τουτέστιν, Ἔγημε. Καὶ εἰς τὰς τοῦ Θεοῦ δωρεὰς ἐνυβρίζουσι, καὶ ὥσπερ ὠνούμενοι καὶ πωλοῦντες, οὕτω γαμοῦσι καὶ γαμοῦνται. Καὶ γραμματεῖα πλείονος ἀσφαλείας δεόμενα, ἢ τὰ περὶ πράσεως καὶ ἀγορασίας. Μάθετε πῶς οἱ παλαιοὶ ἐγάμουν, καὶ ζηλώσατε. Πῶς οὖν ἐγάμουν ἐκεῖνοι; Τρόπους ἐζήτουν καὶ ἤθη, καὶ ψυχῆς ἀρετήν. ∆ιὰ τοῦτο γραμμάτων αὐτοῖς οὐκ ἔδει, οὐδὲ τῆς ἀπὸ χάρτου καὶ μέλανος ἀσφαλείας· ἤρκει γὰρ ἀντὶ πάντων αὐτοῖς ὁ τῆς νύμφης τρόπος. (MPG LVIII, 677-678)
»Wer, der die Absicht hat zu heiraten, hat den Charakter und die Erziehung des Mädchens geprüft? Niemand: sondern geradewegs das Vermögen und die Kostbarkeiten, und das Ausmaß des vielfältigen Besitzes und der persönlichen Angelegenheiten, ganz so wie einer, der die Absicht hat, einen Kauf zu tätigen, oder einen gewöhnlichen Vertrag abzuschließen. Deshalb bezeichnen sie auch die Ehe auf diese Weise. Denn ich habe von vielen gehört, die sagen: der und der hat mir der und der etwas abgeschlossen, das bedeutet: er hat geheiratet. Und sie freveln gegen Gottes Gaben und so wie sie kaufen und verkaufen, so heiraten sie und werden verheiratet. Und sie verlangen Dokumente von höherer Sicherheit als bei Käufen und Verkäufen. Lernt, wie die Alten geheiratet haben und eifert ihnen nach. Wie haben sie denn geheiratet? Sie untersuchten den Charakter und die Denkweise, auch die Tugend der Seele. Deshalb hatten sie keine Dokumente nötig, genauso wenig wie die Sicherheit von Papier und Tinte. Denn es genügte ihnen an Stelle all dessen der Charakter der Braut.« (Predigt über das Matthäusevangelium 73,4; MÜ)
Von einem Ehesakrament konnte zu dieser Zeit noch keine Rede sein, 1 da es eine entsprechende kirchliche Feier noch gar nicht gab. 2
Das römische Recht
Was es gab, war das römische Recht, das in den Digesten Justinians (um 482 – 565) gesammelt wurde. Hier steht in XXXV,1.15 der berühmte Satz: nuptiam enim non concubitus, sed consensus facit. »Nicht der Beischlaf, sondern die gemeinsame Zustimmung (= der Konsens) macht die Ehe«.
Allerdings ist zu beachten: es wird nicht gesagt, wessen Konsens vorliegen muss. Von Braut und Bräutigam? Seitens der Familie von Braut oder Bräutigam? Müssen der Vater, Vormund oder Fürst einer heiratswilligen Person oder beider Brautleute zustimmen?
Wiederum in den Digesten findet sich dazu die Regelung:
In sponsalibus etiam consensus eorum exigendus est, quorum in nuptiis desideratur. intelligi tamen semper filiae patrem consentire, nisi euidenter dissentiat. (XIII,1.7.1)
»Auch bei Verlobungen ist der Konsens derer zu erheben, die nach den Hochzeitsfeierlichkeiten verlangen. Es ist dennoch immer festzustellen, dass der Vater der Tochter zustimmt, wenn er nicht ersichtlich widersprechen sollte.« (MÜ)
Hier wurde also die ausdrückliche Zustimmung des Brautvaters verlangt. Beide Regelungen des römischen Rechtes, das Konsensprinzip und die notwendige Zustimmung des Vaters wurde von den Bischöfen für die kirchliche Praxis übernommen.
Ambrosius von Mailand
In seiner Schrift »De institutione virginis« 3 kommt Ambrosius (etwa 339-397) auf den Konsens als den entscheidenden Faktor bei einer Eheschließung zu sprechen. Das ist nicht wirklich überraschend, schließlich wurde er als nicht getaufter (!) Provinzstatthalter – also als hoher römischer Verwaltungsjurist – 374 zum Bischof von Mailand gewählt. 4
Ausgehend von dem Vers Mt 1,24 Quia Joseph accepit conjugem suam, et profectus est in Ægyptum – denn Josef nahm seine Frau an und brach nach Ägypten auf 5 schreibt der Mailänder Bischof:
Desponsata enim viro conjugis nomen accepit. Cum enim initiatur conjugium, tunc conjugii nomen adsciscitur; non enim defloratio virginitatis facit conjugium, sed pactio conjugalis. Denique cum jungitur puella, conjugium est, non cum virili admixtione cognoscitur. (MPL XVI, 316)
»Denn die Verlobte empfängt durch den Mann die Benennung als Ehefrau. Denn nachdem die Ehe begonnen hat, dann erst wird die Benennung als Ehefrau gebilligt. Denn nicht die Wegnahme der Jungfräulichkeit bringt die Ehe zustande, sondern die eheliche Übereinkunft. Schließlich ist die Ehe da, wenn das Mädchen sich verbindet, nicht dadurch dass sie durch die männliche Beimischung erkannt wird.« (De institu. Virg. VI, 41; MÜ)
Diese Aussage des Kirchenvaters hatte über das Sentenzwerk des Petrus Lombardus (etwa 1096 – 1160) eine enorme Wirkungsgeschichte: dieses maßgebliche theologische Werk des Mittelalters – jeder angehende Theologe musste es kommentieren – zitierte sie. Sie sehen hier den entsprechenden Abschnitt aus dem vierten Buch der Sentenzen des Lombardus, Dist. 27 D in der Ausgabe von 1525:
Basilius der Große
In seinem Brief 199 beantwortet Basilius von Caesarea (etwa 330–379), der Zeitgenosse des Ambrosius, die Fragen seines Amtsbruders Amphilochius von Ikonium 6 zu mehreren Kanones, darunter vor allem solche, die die Ehe betreffen. Er schreibt:
ΛΗʹ. Αἱ κόραι, αἱ παρὰ γνώμην πατρὸς ἀκολουθήσασαι, πορνεύουσι· διαλλαγέντων δὲ τῶν γονέων, δοκεῖ θεραπείαν λαμβάνειν τὸ γεγονός· οὐκ εὐθὺς δὲ εἰς τὴν κοινωνίαν, ἀλλ‘ ἐπιτιμηθήσονται τρία ἔτη. (MPG XXXII, 728)
»38. Die Mädchen, die sich gegen den Willen des Vaters jemand angeschlossen haben, begehen Unzucht: werden aber die Eltern ausgesöhnt, scheint es möglich zu sein, in einen Zustand zu gelangen, dass Heilung eintritt: sie kehren aber nicht sofort in die Gemeinschaft zurück, sondern es werden ihnen drei Jahre auferlegt.« (Brief 199; MÜ)
Μ”. Ἡ παρὰ γνώμην τοῦ δεσπότου ἀνδρὶ ἑαυτὴν ἐκδιδοῦσα, ἐπόρνευσεν· ἡ δὲ μετὰ ταῦτα πεπαρρησιασμένῳ γάμῳ χρησαμένη ἐγήματο. Ὥστε ἐκεῖνο μὲν πορνεία, τοῦτο δὲ γάμος. Αἱ γὰρ συνθῆκαι τῶν ὑπεξουσίων οὐδὲν ἔχουσι βέβαιον. (MPG XXXII, 728-729)
»40. Die sich selbst gegen den Willen des Besitzers einem Mann preisgibt, hat Unzucht begangen. Hat man ihr aber danach die Freiheit zur Ehe geschenkt, ist sie als verheiratet zu behandeln. Insofern ist das eine Unzucht, das (andere) aber eine Ehe. Denn die Verträge der Unfreien haben keinen Bestand.« (MÜ)
Nach antiker Rechtsauffassung waren Sklaven nicht fähig, zu heiraten. Da die Ehe nach römischem Recht als Vertrag verstanden wurde – Unfreie aber keine Rechtspersönlichkeit hatten – konnten sie auch keine Verträge eingehen. Basilius übernimmt das, ohne es zu hinterfragen. Das sollt sich erst im Decretum Gratiani ändern. Übrigens: Noch 1857 spielte diese Vorstellung bei einem verhängnisvollen Urteil des US-Amerikanischen Supreme-Court eine Rolle.
Die weitere Entwicklung werde ich demnächst skizzieren.