Die Mitte der Tora

Masoretische Beobachtungen X
Was ist eigentlich das Zentrum – die Mitte der Tora? Am besten wussten das die Leute, die den ganzen Text mit der Hand kopiert, punktiert und mit der Masora versehen hatten.
Beginnen wir daher mit Lev 8,8. Im Codex Leningradensis sieht der Vers so aus. 1

Lev 8,8 im WLC
Etwas besser kann man das in der Zweiten Rabbiner Bibel von Bomberg lesen, hier in der Ausgabe von 1524. 2

Lev 8,8 Rabbinerbibel Bomberg
Was hier in der kleinen Masora steht, gibt die BHS so wieder:

חצי התורה בפסוקֹ

»Die Mitte der Tora (gezählt) nach Versen.«
Doch man kann die Mitte auch anders bestimmen, das zeigt die kleine Masora zu Lev 10,16: 3

Lev 10,16 im Codex Leningradensis

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

BHS liest das so:

חצי התורה בתיבות

»Die Mitte der Tora (gezählt) nach Worten.«

Aber es geht noch feiner, wie die Masora zu Lev 11,42 zeigt: 4

Lev 11,42 im Codex Leningradensis

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Hier ist zu lesen:

חצי אותיות בתורֹ

»Die Mitte der Buchstaben in der Tora.«

In der Ausgabe der Biblia Hebraica von Kittel ist (wie in der BHS) dieser Buchstabe hervorgehoben: es ist das vergrößerte Wav, das sich laut kritischem Apparat der BHS in vielen Handschriften findet.

Lev 11,42 in der BHK

Doch wie konnten die Abschreiber diese Stellen so genau benennen? Werfen wir dazu einen Blick in die Schluss-Masora der Tora und es wird gleich verständlicher werden.

Die Endabrechnung

Hier der betreffende Abschnitt im WLC nach dem Ende von Deuteronomium 5, es ist der Text mit den beiden »Dreiecken« in der mittleren Spalte:

Aus der Schlussmasora des Dtn im WLC
Der Reihe nach:

סכום הפסוקים של ספר
תשע מאות
וחמשים וחמשה

Die Anzahl der Verse des Buches (= Dtn.)
ist neun hundert
und fünfzig und fünf.
(955)

סכום הפסוקים של תורה
חמשת אלפים
ושמונה מאות
וארבעים
וחמשה
הֹףֹ
מֹה

Die Anzahl der Verse der Tora
ist fünf tausend
und acht hundert
und vierzig
und fünf.
5800
45
(5845)

סכום התיבות של תורה
תשעה ושבעים אלף
ושמונה מאות
וחמשים
וששה

Die Anzahl der Worte der Tora
ist neun und siebzig tausend
und acht hundert
und fünfzig
und sechs.
(79 856)

סכום האותיות של תורה ארבע מאות אלף
ותשע מאות וארבעים וחמשה

Die Anzahl der Buchstaben der Tora ist vier hundert tausend
und neun hundert und vierzig und fünf.
(400 945)

Die letztgenannte Zahl dürfte für unsere heutige Zählweise viel zu hoch sein, woher sie kommt, wurde offensichtlich schon untersucht, aber ich kenne die Erklärung noch nicht.

8 Gedanken zu „Die Mitte der Tora“

  1. Sehr geehrter Herr Achilles,
    Sie bringen in Ihren masoretischen Betrachtungen einen Carmen von Alkuin. Halten Sie seinen Hinweis auf Doppelpunkt, Beistrich und Punkte für einen masoretischen Hinweis oder ist er nur die Aufforderung, in Texten mit Satzzeichen die Lesbarkeit und Verständlichkeit zu steigern?
    Mit freundlichen Grüßen
    hi

    1. Sehr geehrter Herr Illig,
      Ihr Kommentar bezieht sich auf diesen Beitrag.
      Ich sehe eine gewisse Analogie zwischen der Arbeit der Masoreten und dem, was Alkuin beschreibt.
      Da die Texte ursprünglich ohne Satzzeichen überliefert wurden, ist deren Einfügung bereits Interpretation (ich denke nur an das berüchtigte antisemitische Komma zwischen 1 Thess 2,14 und 15).
      Aber hat Alkuin Ihrer Meinung nach überhaupt existiert? 😉
      Oliver Achilles

  2. Sehr geehrter Herr Achilles,
    mein Alkuin hat unter anderem Namen nach 1000 gelebt und hat keine Masorethen gekannt. Vielmehr hat er sich mit „Doppelpunkt und Beistrich“ auf die Textgestaltung des hl. Hieronymus bezogen:
    „Bei der Textgliederung Per cola et commata begann man jeden Sinnabschnitt mit einer neuen Zeile. Diese antike Tradition wurde von dem Kirchenlehrer Hieronymus für seine Revision des lateinischen Bibeltextes der Vulgata angewendet und wirkte so im Mittelalter nach.“ [Irmgard Fees]
    Sie haben mich dazu animiert, die masorethischen Texte wahrzunehmen, und ich habe keinen vor 911 (meine Zeitenwende) gefunden.
    Danke für diese wertvolle Anregung.
    hi

      1. Gut gekontert, aber nicht up to date:
        „Im Zuge des Hebrew University Bible Project (Malachi Beit-Arie et al., 1997) ist für den Codex Cairensis eine Datierung ins 11. Jahrhundert wahrscheinlich gemacht worden; damit ist der Pe-tersburger Prophetenkodex von 916 n. Chr. älter“
        So bei Wikipedia: „Codex Cairensis“. Beim entsprechenden Artikel über: „Masoretischer Text“ ist das noch nicht berücksichtigt.
        hi

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