Die Abschreiber der biblischen Texte – bloße Kopierer?

Masoretische Beobachtungen II

An mittelalterlichen Texten kann man sehr schön zeigen, dass die Arbeit des Kopisten weit über ein mechanisches Abschreiben hinausging. Der Codex Leningradensis ist hier keine Ausnahme.  Auch ohne jede Hebräischkenntniss ist ein Blick auf die erste Seite des Buches Exodus aufschlussreich. Es fehlt so ziemlich alles, was der moderne Leser/die moderne Leserin erwarten würde. Es gibt keine Buchüberschrift in unserem Sinne, keine Kapiteleinteilung 1 und auch keine Verszählung.

Beginn des Buches Exodus im Codex Leningradensis
Beginn des Buches Exodus im Codex Leningradensis

Und doch hat der Schreiber erheblich mehr getan, als den Text auf drei Spalten einzutragen. Nach dem Buchbeginn in der mittleren Spalte beginnt mit der letzte Zeile dieser Spalte ein neuer Sinnabschnitt. Es handelt sich um Ex 1,8: »Und es kam ein neuer König über Ägypten …« Den vorhergehenden Abschnitt beendet er mit einem Punkt, also dem Zeichen ׃

Mit diesen unspektakulären Eigenheiten beginnt schon die Auslegung des Textes. Wie sehr man sich dessen im Mittelalter bewusst war, zeigt dieses Lied, dass Alkuin (um 730-804 n. Chr.) geschrieben hat.

Alkuins Lied über die Scriptores

Der aus England stammende theologische Berater von Karl dem Großen, der 804 n. Chr. als Abt von St. Martin in Tours starb, schrieb:

Hier sollen sie sitzen, die die Worte des heiligen Gesetzes aufschreiben
Und die frommen Sprüche der heiligen Väter.

Hier mögen sie sich vorsehen, unter die (heiligen) Worte ihre nichtigen zu fügen,
Und ihre Hand soll sich nicht der Nichtigkeit(en) wegen irren;

Nach sorgfältig verbesserten Büchlein sollen sie trachten,
Auf geradem Pfad, auf dem die Feder des Vogels dahineilt.

Durch Doppelpunkt und Beistrich sollen sie die wesentlichen Gedanken gliedern,
Und Punkte sollen sie setzen, alle nach ihrer Ordnung,

Damit nichts Falsches lese oder überraschend und plötzlich schweige
Vor den frommen Brüdern der Lektor in der Kirche.

Ausgezeichnete Arbeit ist es, die heiligen Bücher vollends (ab)zuschreiben,
Und seinen Lohn entbehrt dabei nicht der Schreiber.

(Denn) Bücher zu schreiben ist besser als Weinstöcke umzugraben,
Dieser wird seinem Bauch dienen, jener seiner Seele.

Neues und Altes wird der Meister (Lehrer) hervorbringen können 2,
Das Meiste (aber) jeder, der die heiligen Worte der Väter liest.

(Alkuin, Alcuini Carmina XCIV, zitiert nach Poetae Latini Aevi Carolini I, 320; Ü: Dr. Veronika Brandstätter)

Hier noch der lateinische Text:

Hic sedeant sacrae scribentes famina legis,
Nec non sanctorum dicta sacrata patrum;

Hic interserere caveant sua frivola verbis,
Frivola nec propter erret et ipsa manus,

Correctosque sibi quaerant studiose libellos,
Tramite quo recto penna volantis eat.

Per cola distinguant proprios et commata sensus,
Et punctos ponant ordine quosque suo,

Ne vel falsa legat, taceat vel forte repente,
Ante pios fratres lector in ecclesia.

Est opus egregium sacros iam scribere libros,
Nec mercede sua scriptor et ipse caret.

Fodere quam vites melius est scribere libros,
Ille suo ventri serviet, iste animae.

Vel nova vel vetera poterit proferre magister
Plurima, quisque legit dicta sacrata patrum.

Fortsetzung

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  1. Das große Samech neben dem Buchbeginn bedeutet, dass an dieser Stelle ein geschlossener Sinnabschnitt (parascha sətuma) beginnt.
  2. Mt 13,52: Da sagte er zu ihnen: Jeder Schriftgelehrte also, der ein Jünger des Himmelreichs geworden ist, gleicht einem Hausherrn, der aus seinem reichen Vorrat Neues und Altes hervorholt.

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