Der Begriff des nómos im Römerbrief

Ein zentraler Begriff des Römerbriefes ist das griechische Wort νόμος (nómos), das allein in diesem Brief 61 Mal vorkommt. Ein einzelner Vers (Röm 2,14) kommt dabei auf vier Vorkommen, ein weiterer (Röm 7,7) auf drei. Aber was ist mit diesem Wort gemeint?

Eine rein biblische Bedeutung?

Die naheliegende Vermutung, dass Paulus mit diesem Begriff die Torah bezeichnet, trifft nicht zu. Denn in Röm 3,19 bezeichnet der Apostel „eine Komposition aus Psalter- und Prophetenstellen“1 als nómos. Darüber hinaus stimmt es aber auch nicht, dass er grundsätzlich biblische Aussagen damit meint. Das Paradebeispiel ist der Vers Röm 3,21:

²¹ Νυνὶ δὲ χωρὶς νόμου δικαιοσύνη θεοῦ πεφανέρωται μαρτυρουμένη ὑπὸ τοῦ νόμου καὶ τῶν προφητῶν,

„Jetzt aber ist ohne Gesetz Gerechtigkeit Gottes offenbart worden, bezeugt von dem Gesetz und den Propheten“. (MÜ)

Schon Origenes war aufgefallen, dass der Begriff nómos in diesem Vers mehrdeutig ist:

Καὶ μὴ θαυμάσῃς εἰ δύο σημαινόμενα τοῦ ἑνὸς ὀνόματος τοῦ νόμου ἐν τῷ αὐτῷ παρείληπται τόπῳ. 2

„Und du sollst dich nicht wundern, wenn zwei Wortbedeutungen des einen Ausdrucks an derselben Stelle überliefert wurden.“ (MÜ)

Origenes fährt dann fort:

Ἐΐποιμεν δ‘ ἂν πρὸς τοὺς ἔτι ὀκνοῦντας παραδέξασθαι τὸ διττὸν σημαινόμενον τοῦ νόμου, ὅτι εἴπερ ὁ αὐτὸς νόμος παρείληπται ἔν τε τῷ »Νυνὶ δὲ χωρὶς νόμου δικαιοσύνη Θεοῦ πεφανέρωται« καὶ ἐv τῷ »Μαρτυρουμένη ὑπὸ τοῦ νόμου καὶ τῶν προφητῶν«· εἰ μὲν χωρὶς νόμου πεφανέρωται, οὐχ ὑπὸ νόμου μαρτυρεῖται· εἰ δὲ ὑπὸ τοῦ νόμου μαρτυρεῖται οὐ χωρὶς τοῦ νόμου πεφανέρωται.3

„Wir könnten zu denen, die immer noch zögern, die doppelte Bedeutung des Begriffs Gesetz anzunehmen, sagen: Wenn dasselbe Gesetz gemeint ist in dem Satz: „Jetzt ist die Gerechtigkeit Gottes unabhängig vom Gesetz geoffenbart worden“, und in dem anderen: „Sie wird bezeugt vom Gesetz und den Propheten“, dann paßt das doch nicht zusammen. Wenn sie unabhängig vom Gesetz geoffenbart wurde, wird sie nicht vom Gesetz bezeugt; wenn sie aber vom Gesetz bezeugt wird, ist sie nicht unabhängig vom Gesetz geoffenbart worden.“ 4

In einem nur in der lateinischen Übersetzung des Rufin von Aquilea überlieferten Abschnitt seines Römerbriefkommentars macht Origenes darauf aufmerksam, dass nómos in diesem Vers sowohl bestimmt als auch unbestimmt vorkommt:

Est praeterea et illa apud apostolum de hoc sermone, si quis diligentius observet, mira distinctio. Moris est apud Graecos nominibus ἄρθρα praeponi, quae apud nos possunt articuli nominari. Si quando igitur Moysi legem nominat, solitum nomini praemittit articulum; si quando vero naturalem vult intelligi, sine articulo nominat legem. Et hoc ergo in loco, ubi dicit: „Nunc sine lege iustitia Dei manifestata est“, articulum non habet; in sequenti vero, ubi dicit: „testificata a lege et prophetis“, secundo in loco legem cum articulo posuit.5

„Für den aufmerksamen Beobachter macht der Apostel bei diesem Wort außerdem noch eine erstaunliche Unterscheidung. Im Griechischen werden den Substantiven gewöhnlich ἄρθρα vorangestellt, die man bei uns Artikel nennen kann. Wenn Paulus daher vom Gesetz des Mose spricht, setzt er gewöhnlich den Artikel davor; wenn er aber das natürliche Gesetz verstanden wissen will, spricht er von „Gesetz“ ohne Artikel. An dieser Stelle also, wo er sagt: „Jetzt ist ohne Gesetz Gottes Gerechtigkeit offenbart worden“, hat das Wort „Gesetz“ keinen Artikel. Im Folgenden aber, wo er sagt: „bezeugt von dem Gesetz und den Propheten“, hat er bei der zweiten Zitation das Wort „Gesetz“ mit Artikel gebraucht.“6

Könnte das ein Schlüssel für das Verständnis des nómos bei Paulus sein? Die Antwort lautet wiederum nein, denn in Röm 13,8-10 zitiert der Apostel ausdrücklich die Torah7 und verwendet trotzdem keinen Artikel für den Begriff des nómos.

Parallelen in der paganen Umwelt?

Verkompliziert wird das Ganze noch dadurch, dass Paulus bei der Behandlung des nómos pagane Parallelen aufgreift, wie an dem folgenden Vers deutlich zu machen ist.

¹⁴ ὅταν γὰρ ἔθνη τὰ μὴ νόμον ἔχοντα φύσει τὰ τοῦ νόμου ποιῶσιν, οὗτοι νόμον μὴ ἔχοντες ἑαυτοῖς εἰσιν νόμος· ¹⁵ οἵτινες ἐνδείκνυνται τὸ ἔργον τοῦ νόμου γραπτὸν ἐν ταῖς καρδίαις αὐτῶν, συμμαρτυρούσης αὐτῶν τῆς συνειδήσεως καὶ μεταξὺ ἀλλήλων τῶν λογισμῶν κατηγορούντων ἢ καὶ ἀπολογουμένων, ¹⁶ ἐν ἡμέρᾳ ὅτε κρίνει ὁ θεὸς τὰ κρυπτὰ τῶν ἀνθρώπων κατὰ τὸ εὐαγγέλιόν μου διὰ Χριστοῦ Ἰησοῦ. (Röm 2,14-15; NA XXVIII)

„¹⁴ Denn wann (die) Heiden, die (das) Gesetz nicht haben, von Natur das des Gesetzes tun, sind diese, (das) Gesetz nicht habend, sich selbst Gesetz; ¹⁵ diese weisen auf das Werk des Gesetzes, geschrieben in ihren Herzen, (was) mitbezeugt ihr Gewissen und (ihre) sich untereinander anklagenden oder auch sich verteidigenden Gedanken, ¹⁶ an (dem) Tag, da Gott richtet das Verborgene der Menschen gemäß meinem Evangelium durch Christos Jesus.“ (Röm 2,14-16; MNT)

Bereits Johann Jakob Wettstein hat auf einen ganz ähnlichen Gedanken bei Plutarch hingewiesen und zwar in dessen Ad Principem ineruditum 3:

Τίς οὖν ἄρξει τοῦ ἄρχοντος; ὁ ‚νόμος ὁ πάντων βασιλεὺς θνατῶν τε καὶ ἀθανάτων‘ ὡς ἔφη Πίνδαρος, οὐκ ἐν βιβλίοις ἔξω γεγραμμένος οὐδέ τισι ξύλοις, ἀλλ` ἔμψυχος ὤν ἐν αὐτῷ λόγος, ἀεὶ συνοικῶν καὶ παραφυλάττων καὶ μηδέποτε τὴν ψυχὴν ἐῶν ἔρημον ἡγεμονίας.8

„Wer wird nun den Herrscher beherrschen? Der
’nómos, der König von allem,
Sterblichen und Unsterblichen‘
wie Pindar sagte, nicht außerhalb in Büchlein geschrieben und auch nicht auf irgendwelchen hölzernen Tafeln, sondern in ihm als lebendiges Wort anwesend, stets zusammen wohnend und wachend und niemals seine Seele der Führung entblößt.“ (MÜ)

Der Gedanke selbst ist alt und findet sich bereits in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles IV,8,14 1128a:

ὃ δὴ χαρίεις καὶ ἐλευθέριος οὕτως ἕξει, οἷον νόμος ὢν ἑαυτῷ.

„Der Liebenswürdige und Vornehme wird sich dementsprechend verhalten und gewissermaßen für sich selbst Gesetz sein.“ (Ü: Olof Gigon)

Ich meine daher, dass Charles Harold Dodd recht hatte, als er über Röm 2,14 f. schrieb:

Die Begriffe von Natur und Gewissen und die Vorstellung eines inneren Gerichtes sind derartig stoisch gefärbt, dass uns das Werk des Gesetzes, geschrieben in ihren Herzen weniger an die bei Jeremiah auf das Herz geschriebene Torah erinnert9, sondern an stoische Empfindungen wie bei Plutarch …10

Zusammenfassung

Die unsystematische Ausdrucksweise des Apostels in Verbindung mit den weitgespannten religionsgeschichtlichen Hintergründen macht es wohl notwendig, jedes Vorkommen von nómos im Römerbrief eigens zu betrachten. Es ist alles andere als selbsterklärend, was Paulus meint, wenn er von dem nómos der Sünde und des Todes spricht (Röm 8,2). Und welchen nómos meint er, der über einen Menschen herrscht, solange er lebt (Röm 7,1)?

Es braucht keine besonderen mantischen Fähigkeiten um vorauszusagen, dass weiter Kommentare zum Römerbrief erscheinen werden … müssen.


  1. So Walter Bauer in seinem Wörterbuch über Röm 3,12-18. Zitiert werden dort Ps 14,1-3; Ps 5,10; Ps 140,4; Ps 10,7; Jes 59,7-8;Ps 36,2.↩︎
  2. Zitiert nach Theresia Heither: Origenes. Römerbriefkommentar VI (Fragmente) (Fontes Christiani Band 2/6 1999) S. 94↩︎
  3. S. 96 a.a.o.↩︎
  4. S. 97 a.a.o. Ü: Theresia Heither.↩︎
  5. Zitiert nach: Theresia Heither: Origenes. Römerbriefkommentar. Drittes und viertes Buch. (1992, Fontes Christiani Band 2/2), S. 104 + 106↩︎
  6. S. 105 + 107 a.a.o.↩︎
  7. Ex 20,13-17; Lev 19,18↩︎
  8. Quelle↩︎
  9. Vgl. Jer 31,33↩︎
  10. Charles Harold Dodd: The Bible and the Greeks (1935) S. 36. Meine Übersetzung. Zitat und Schlüsselwörter bei Dodd auf Griechisch. Fun fact: In Rudolf Bultmanns „Theologie des Neuen Testaments“, erstmals 1948 erschienen, wird Dodd im Abschnitt über das Gesetz bei Paulus nicht rezipiert (S. 260) und scheint auch nicht in der von Otto Merk in der 9. Auflage ergänzten Literatur (S. 682-683) auf.

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