Findet sich die Auferstehung der Toten in der Torah?

In gewohnt polemischer Weise hat François-Marie Arouet, genannt Voltaire, diese Frage beantwortet. In seinem 1777 anonym in London gedruckten Buch „Die Bibel endlich verstanden“, schreibt er zu den Versen Dtn 23,13-15:

Der Befehl, den der Herr selbst bezüglich der Weise gibt, wie die Notdurft zu verrichten sei, erschien dem berühmten Colins der göttlichen Majestät unwürdig und er liess sich zu der Aussage hinreißen, dass Gott mehr um die Hinterseite der Israeliten besorgt sei, als um ihre Seelen; dass sich die Worte Unsterblichkeit der Seele an keiner Stelle des Alten Testaments finden würden und dass es richtig tief sei, sich der Art und Weise zuzuwenden, wie man auf die Toilette gehen solle. Das bedeutet, sich recht wenig respektvoll ausdzudrücken. (La Bible enfin expliquée (London 1777) S. 204; MÜ)

Ich vermute, dass sich hinter dem Namen „Colins“ Voltaire selbst verbirgt, der sich nicht nur wenig respektvoll, sondern sehr bösartig äußert. Auf das Zitat folgt dann ein übler antisemitischer Rant gegen das jüdische Volk. Niemand Geringerer als Georg Wilhelm Friedrich Hegel zitierte diese Passage Voltaires in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion (ohne genaue Quellenangabe und nicht ganz wörtlich):

So wird im alten Testament erzählt, daß bei dem Auszuge aus Aegypten rote Zeichen an die Thüren der jüdischen Häuser gemacht wurden, damit der Engel des Herrn sie erkennen konnte; solte dieser Engel nicht ohne das Zeichen die Juden erkannt haben? Dieß Glauben hat kein Interesse für den Geist. Voltaires bitterste Einfälle sind gegen die Forderung eines solchen Glaubens gerichtet. Er sagt unter anderem, es wäre besser gewesen, wenn Gott den Juden Belehrung über die Unsterblichkeit der Seele gegeben hätte, als daß er sie lehrte, auf den Abtritt zu gehen (aller à la selle). Die Latrinen werden so ein Inhalt des Glaubens. (G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion Erster Band; in: Werke Band 11 (Berlin 1832) S. 151)

In der Sache selbst scheint Hegel Voltaire also recht zugeben und es ist vielleicht nicht uninteressant zu erfahren, wie er sich im persönlichen Gespräch zum Thema „Auferstehung“ äußern konnte. Ein junger, in Düsseldorf geborener Student, berichtete dazu:

Ueberhaupt war das Gespräch von Hegel immer eine Art von Monolog, stoßweis hervorgeseufzt mit klangloser Stimme; das Barocke der Ausdrücke frappirte mich oft, und von letztern blieben mir viele im Gedächtniß. Eines schönen hellgestirnten Abends standen wir beide neben einander am Fenster, und ich, ein zweiundzwanzigjähriger junger Mensch, ich hatte eben gut gegessen und Kaffee getrunken, und ich sprach mit Schwärmerei von den Sternen, und nannte sie den Aufenthalt der Seligen. Der Meister aber brümmelte vor sich hin: „Die Sterne, hum! hum! die Sterne sind nur ein leuchtender Aussatz am Himmel.“ Um Gottes willen – rief ich – es gibt also droben kein glückliches Local, um dort die Tugend nach dem Tode zu belohnen? Jener aber, indem er mich mit seinen bleichen Augen stier ansah, sagte schneidend: „Sie wollen also noch ein Trinkgeld dafür haben, daß Sie Ihre kranke Mutter gepflegt und Ihren Herrn Bruder nicht vergiftet haben?“ – Bei diesen Worten sah er sich ängstlich um, doch er schien gleich wieder beruhigt, als er bemerkte, daß nur Heinrich Beer herangetreten war, um ihn zu einer Partie Whist einzuladen. (Vermischte
Schriften von Heinrich Heine. Erster Band (Hamburg 1854) S. 61-62
)

Die Auskunft der rabbinischen Literatur

In der rabbinischen Literatur findet sich dagegen ein breiter Konsens, dass die Auferweckung der Toten in der Torah zu finden sei. In Sifre Devarim 47,2 – einem Midrasch zum Buch Deuteronomium, dessen Endredaktion Günter Stemberger „im späten 3. Jh.“ vermutet1, kommt unser Thema bei der Auslegung von Dtn 11,29 zur Sprache. Der Vers lautet:

לְמַעַן יִרְבּוּ יְמֵיכֶם וִימֵי בְנֵיכֶם עַל הָֽאֲדָמָה אֲשֶׁר נִשְׁבַּע יְהוָה לַאֲבֹתֵיכֶם לָתֵת לָהֶם כִּימֵי הַשָּׁמַיִם עַל־הָאָֽרֶץ׃

„Damit sich vermehren werden eure Tage und die Tage eurer Kinder auf dem Erdboden, den der HERR euren Vätern geschworen hat ihnen zu geben, wie die Tage des Himmels über der Erde.“ (Dtn 11,21; MÜ)

Der Midrasch führt dazu aus:

למען ירבו ימיכם בעולם הזה וימי בניכם לימות המשיח כימי השמים על הארץ לעולם הבא, אשר נשבע ה‘ לאבותיכם לתת לכם אין כתוב כאן אלא לתת להם נמצינו למדים תחיית המתים מן התורה

¹ „Damit sich vermehren werden euere Tage“ – [das bedeutet] in dieser Welt – „und die Tage eurer Kinder“ – [das bedeutet] in den Tagen des Messias. ² „Wie die Tage des Himmels über der Erde“ – [das bedeutet] in der kommenden Welt –, „den der HERR euren Vätern geschworen hat euch zu geben“ wurde hier nicht geschrieben, sondern ihnen zu geben“. Hieraus können wir schließen: Die Auferweckung der Toten ist aus der Torah. (Sifre Devarim 47,2; MÜ)

Die Ausleger folgern aus dem Umstand, dass die Landverheißung den Vätern, also Abraham, Isaak und Jakob gegeben wurde, diese aber schon verstorben sind, sodass Gott sein Versprechen nur in der kommenden Welt, nach der Auferweckung der Toten, erfüllen könne.

Interessant finde ich, dass Voltaire diese Auslegungstradition bekannt war.

Nochmals Voltaire

In seinem Philosophischen Wörterbuch schrieb er zum Stichwort „Auferstehung“:

„Ein Rabbiner Namens Samaï beweist die Auferstehung mit diesem Abschnitt aus dem Buch Exodus: Ich bin Abraham, Isaak und Jakob erschienen und habe ihnen mit einem Eid versprochen, das Land Kanaan zu geben. (Ex 6,4) Und da Gott trotz seines Eids, sagt der große Rabbiner, dieses Land gar nicht gegeben hat, werden sie eines Tages auferstehen, damit der Eid erfüllt werden kann.“ (Dictionnaire Philosophique VIII (Paris 1822) S. 56; MÜ)

Was Voltaire hier ohne Quellenangabe zitiert, stammt aus dem Bavli, bSanh 90b. Der Rabbiner heißt allerdings nicht Samaï, sondern Simai. In der Übersetzung von Lazarus Goldschmidt lautet die Stelle:

Es wird gelehrt: R. Simaj sagte: Wo ist die Auferstehung der Toten in der Gesetzlehre angedeutet? – es heißt: (Ex 6,4) Ich habe mit ihnen sogar ein Abkommen getroffen, daß ich ihnen das Land Kenaân geben werde; es heißt nicht euch, sondern ihnen. Hier ist also die Auferstehung der Toten in der Gesetzlehre angedeutet. (Quelle)

Aus dem Kontext ist ersichtlich, dass Voltaire diese Argumentation für genauso albern hält, wie den Versuch, die Auferstehung mittels eines Vampir-Glaubens zu argumentieren. Mich verblüfft, dass Voltaire dabei ausblendet, dass Jesus von Nazaret genauso argumentiert hat, wie die Rabbinen nach ihm:

²⁶περὶ δὲ τῶν νεκρῶν ὅτι ἐγείρονται οὐκ ἀνέγνωτε ἐν τῇ βίβλῳ Μωϋσέως ἐπὶ τοῦ βάτου πῶς εἶπεν αὐτῷ ὁ θεὸς λέγων· ἐγὼ ὁ θεὸς Ἀβραὰμ καὶ [ὁ] θεὸς Ἰσαὰκ καὶ [ὁ] θεὸς Ἰακώβ; ²⁷ οὐκ ἔστιν θεὸς νεκρῶν ἀλλὰ ζώντων· πολὺ πλανᾶσθε. (Mk 12,26-27; NA XXVIII)

²⁶ Über die Toten aber, daß sie erweckt werden, nicht last ihr im Buch von Moyses beim Dornbusch, wie Gott zu ihm sprach, sagend: ›Ich, der Gott Abrahams und [der] Gott Isaaks und [der] Gott Jakobs?‹ ²⁷ Nicht ist er ein Gott Toter, sondern Lebender; viel irrt ihr. (Mk 12,26-27; MNT)

Offenbarung des Johannes

Ein ebenfalls von den Rabbinen gebrauchtes Argument findet sich bereits in der Offenbarung des Johannes: In dem bereits zitierten Talmud-Traktat bSanh 91b wird der Beginn des Mose-Liedes in Ex 15,1 zitiert:

אָז יָשִֽׁיר־מֹשֶׁה וּבְנֵי יִשְׂרָאֵל אֶת־הַשִּׁירָה הַזֹּאת לַֽיהוָה

Wörtlich übersetzt lautet der Text: „Damals wird Moses und die Kinder Israel dem HERRN dieses Lied singen“. Im Talmud wird dazu ausgeführt: ״שָׁר״ לֹא נֶאֱמַר, אֶלָּא ״יָשִׁיר״ – „’Sang‘ wird nicht gesagt, sondern ‚wird singen‘.“ Da das Verb hier in einer grammatikalischen Form steht, die eine zukünftige Handlung bezeichnet, schlossen die Rabbinen, dass dieses Lied nach der Auferweckung von den Toten gesungen wird. Diese Deutung scheint die neutestamentliche Offenbarung zu kennen, wenn sie über die Auferstandenen sagt:

³ καὶ ᾄδουσιν τὴν ᾠδὴν Μωϋσέως τοῦ δούλου τοῦ
θεοῦ καὶ τὴν ᾠδὴν τοῦ ἀρνίου λέγοντες·
μεγάλα καὶ θαυμαστὰ τὰ ἔργα σου,
κύριε ὁ θεὸς ὁ παντοκράτωρ·
δίκαιαι καὶ ἀληθιναὶ αἱ ὁδοί σου,
ὁ βασιλεὺς τῶν ἐθνῶν·

(Offb 15,3; NA XXVIII)

„Und sie singen das Lied (des) Moyses, des Knechtes Gottes, und das Lied des Lammes, sagend: ›Groß‹ und ›wunderbar (sind) deine Werke, Herr, Gott, der Allherrscher; gerecht und wahr (sind) deine Wege, König der Völker.“ (Offb 15,3; MNT)2

Als Fazit bleibt: Die üble Polemik des Voltaire ist vor allem eines – Ausdruck eines unaufgeklärten, massiven Vorurteils.


  1. Einleitung in Talmud und Midrasch (⁸1992) S. 269↩︎
  2. Der Vers ist zusammengesetzt mit biblischen Ausdrücken
    aus Ps 111(110),2; Ps 139(138),14; Am 3,13; 4,13; Dtn 32,4 und Ps
    145(144),17 und zeigt, wie wichtig dem Verfasser die Übereinstimmung mit
    den heiligen Schriften Israels war.↩︎

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