N.T. Wright on Paul

And history is what this book is basically about. (S. 1414)

Ich beginne diese Rezension nicht ohne Stolz: Ich habe tatsächlich die beiden Bände von „Paul and the faithfulness of God“ (2013) mit insgesamt über 1500 Seiten Text und hunderten Fußnoten von vorne bis hinten gelesen – wer kann das da draußen noch von sich sagen? Wright indes fand mit diesem Umfang nicht das Auslangen. Aus dem geplanten Vorwort zu seinem Opus Magnum entwickelte sich ein weiterer Band: „Paul and his recent Interpreters“ (2015), das sich mit 260 Seiten begnügt, aber hier ebenfalls mit einbezogen werden muss, um einen Eindruck zu gewinnen. (Und Wright hat in Wahrheit noch viel mehr über Paulus geschrieben, aber ich beschränke mich auf diese beiden Werke.)

Ist der Umfang denn gerechtfertigt? Bei den „Interpreters“ auf jeden Fall, beim Doppelband ergeben sich schon ziemliche Redundanzen. Zentrale Aussagen Wright’s über Paulus werden mantraartig wiederholt und wiederholt, das hat beim Lesen stellenweise eine gewisse Unlust aufkommen lassen. Und dann hat der Autor Lieblingsausdrücke, die fast schon inflationär wiederholt werden. Dass die Theologie des Paulus „breathtaking“ und „radically new“ ist, wird dem Leser Dutzende male eingeschärft. Und damit bin ich gleich beim Hauptproblem dieses Werkes angekommen: Wright ist so hingerissen von Paulus und seiner Theologie, dass es sich vollständig mit ihr und mit ihm identifiziert und vorgibt, gleichsam jeden Gedanken des Apostels vollständig nachvollziehen zu können. Das führt so weit, dass W. sogar zu wissen vorgibt, wann Paulus einen Ausdruck in kursiv geschrieben hätte (S. 478 FN 64).

Ich fand so die Beobachtung Lukas Bormanns eindrucksvoll bestätigt, der in seiner „Theologie des Neuen Testaments“ 2017 geschrieben hatte:

Wright scheut sich auch nicht, in seinen Publikationen den Stil der neutestamentlichen Schriften zu imitieren und die eigenen Aussagen mit diesen auf eine Weise zu verschmelzen, die zu der Suggestion führt, dass durch Wright zumindest Paulus, wenn nicht gar Gott selbst spricht. (S. 34)

Das schlägt sich auch in einem eigenartigen Tick des Autors wieder, bei seiner Übersetzung von Paulus-Texten aus dem Griechischen ständig ein „you see“ einzufügen, das nirgendwo im Text steht.

Die Kehrseite dieser „Verschmelzung“ ist die völlige Abwesenheit eines kritischen Gedankens zu Theologie des Paulus. Alles ist einleuchtend, überwältigend logisch, bis zum Ende durchdacht. Ein Paradebeispiel ist die sehr eigenwillige Auslegung des לא בשמים היא (sie = die Torah ist nicht im Himmel) aus Dtn 30,11-14 durch Paulus in Röm 10,5-9. Nicht einmal sein Freund Richard Hays, dem Wright seinen Doppelband gewidmet hat, vermag Paulus bei seiner Auslegung zu folgen (S. 1167 FN 489), die mit dem Literalsinn des Textes nicht das Geringste zu tun hat. Der Autor beharrt: „The exegesis is neither capricious, wild, nor disingenuous“. (ebenda)

Nicht überzeugend empfinde ich auch die Grundannahme W.s., Israel habe sich zur Zeit des zweiten Tempels „im Exil“ befunden, was erst durch die Rückkehr JHWH’s in seinem Messias zum Jerusalemer Tempel eine Wendung genommen habe (Mal 3,1 LXX). Für Wright der Schlüssel zur Christologie und zu Paulus überhaupt (S. 654). Hier haben Klügere und Wissendere als ich ihm nicht folgen können.

Im vollen Vertrauen auf seinen Zugang kritisiert W. immer wieder neuzeitliche Theologen, die Paulus ihre moderne Sichtweise gleichsam „unterjubeln“ wollen:

This is not what most exegetes in the modern western tradition have wanted to hear. But it is what Paul wanted to say. (S. 1245)

Und hier wird dann die eigentliche Problematik seines Zugangs deutlich sichtbar. Sie kommt bei den Themen „Israel“ und „Torah“ zum Tragen. Was macht man mit einem „Israel“, das in großen Teilen Jesus nicht folgen wollte? W. wählt einen doppelten Zugang: Er identifiziert das wahre Israel mit Jesus (S. 408: ein gekreuzigter Jesus bedeutet ein gekreuzigtes Israel; S. 536: der Messias ist das wahre Israel; S. 735: Jesus ist „the single bearer of Israel’s destiny“). Von Israel bleibt eigentlich nichts übrig, denn

Jesus, as Messiah, has drawn together the identity and vocation of Israel upon himself. (S. 825) He (=Jesus) was, in effect, Israel in person (S. 828)

Im Grunde genommen ist die Identität des Gottesvolkes auf den Messias Jesus übergegangen (S. 1024), „in Israel sein“ bedeutet eigentlich „im Messias sein“ (S. 1024). Deshalb fällt W. zweitens auch nichts zum Thema „Israel“ im Sinn des heutigen jüdischen Gottesvolkes ein, außer dass man es weiterhin missionieren sollte (S. 1221) und er messianische Juden bejaht (S. 1201). Theologisch hat sich für ihn seit der Zeit des Paulus nichts geändert, der ganze Lernprozess der Kirche(n) in dieser Frage ist für ihn im Grunde genommen irrelevant.

Ebenso übel ergeht es der Torah, die W. ganz im Sinne des extrem polemischen Galaterbriefes bewertet. „To embrace Torah is to embrace
slavery“ (S. 718).

The divine purpose was, it seems, to allow sin to do its worst in Israel itself, precisely through the Torah. (S. 895)

Dass es Paulus möglicherweise noch nicht gelungen war, den gekreuzigten Messias und die Torah Israels vollständig zusammenzudenken – erkennbar eben an Röm 10,5-9 – dieser Gedanke kommt W. keine Sekunde.

In seinem Buch findet sich das Echo einer harschen Kritik an seinem Zugang zum Thema verus Israel (S. 885 u. S. 1159 FN 472). W. vergleicht sich deswegen sogar mit dem Propheten Elija am Horeb in Röm 11,3: κἀγὼ ὑπελείφθην μόνοςund ich allein wurde übriggelassen. Er ist sich also durchaus bewusst, in der Fachwelt nicht nur auf Zustimmung zu stoßen, was ihn inhaltlich aber nicht wirklich erschüttert.

Die grundlegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse der Exegese zum „Fluch des Gesetztes“ scheint W. übrigens nicht rezipiert zu haben, was ungewöhnlich für sein Werk ist.

Damit komme ich jetzt zu den positiven Aspekten:

W. ist ein Schüler seines Lehrers Caird: Die erhellende Diskussion über den metaphorischen Gebrauch apokalyptischer Sprache (S. 163-175) verdankt sich ihm ebenso, wie die Ausführungen zum komplexen Aufbau von „A midsummer night’s dream“ zur Erklärung des „Story“ Begriffs (S. 468-475). Das ist richtig gut geschrieben.

Eins aber kann ich mit Sicherheit sagen: Es ist erstaunlich, wie viel Literatur W. verarbeitet hat. Dadurch ergibt sich für den Leser ein Zugang zu ganz vielen Aspekten und Strängen der Paulus-Interpretation. Am Meisten kommt das in seinem Werk „Paul and his recent Interpreters“ zum Tragen. Auch wer keine Zeit und Lust hat, sich durch die 1500 Seiten des Doppelbandes zu quälen, ist hier sehr gut bedient und bekommt eine erstaunliche Fülle von An- und Einsichten zur Verfügung gestellt.

Und schließlich: Noch von keinem Werk habe ich so viel allein aus den Fußnoten gelernt, wie bei diesem. Daher bin ich, trotz meiner inhaltlichen Kritik, froh, dieses Werk durchmessen zu haben.

Im Eingangszitat hatte W. ausgeführt, dass es ihm in seinem Buch vor allem um Geschichte gehe. Sein Beitrag ist mit Sicherheit ein wichtiger Baustein in der Geschichte der aktuellen Paulus-Interpretation. Als Wissenschaftler, der den Übergang von der Dominanz der deutschsprachigen Paulus-Exegese zu der angloamerikanischen miterlebt und mitgestaltet hat, ist ihm zuzustimmen, wenn er meint:

We need twenty-first-century answers to first-century questions, not nineteenth-century answers to sixteenth-century questions (S. 1307)

Ich hätte mir gewünscht, dass er wenigstens versucht hätte, zu unterscheiden, welche Antworten des Paulus heute noch tragfähig sind und welche weiter gedacht werden müssen. Der Apostel hatte selbst Scheitern erlebt – dass er eine Reaktion des Petrus und des Barnabas auf den antiochenischen Zwischenfall (Gal 2,11 ff.) nicht schildert, spricht Bände. Oder dass die Jerusalemer seine ihm so wichtige Kollekte einfach nicht annehmen wollten1: Beides kommt bei W. nicht vor. Aber beides mindert nicht die Größe und Bedeutung des Paulus.


  1. Vgl. Markus Öhler: Geschichte des
    frühen Christentums 11.7.3 S. 240 ff.↩︎

 

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