Vertilgen oder bewahren – was macht der gute Hirte mit den fetten Schafen? (Ez 34,16)

Der Revision der Einheitsübersetzung ist im Umgang mit Ez 34,16 ein
besonderes Kunststück gelungen. Während die alte Einheitsübersetzung den Vers mit

Die verloren gegangenen Tiere will ich suchen, die vertriebenen zurückbringen, die verletzten verbinden, die schwachen kräftigen, die fetten und starken behüten. Ich will ihr Hirt sein und für sie sorgen, wie es recht ist. (Ez 34,16; EÜ 1980)

wiedergab, übersetzte die Revision 2016

Das Verlorene werde ich suchen, das Vertriebene werde ich zurückbringen, das Verletzte werde ich verbinden, das Kranke werde ich kräftigen. Doch das Fette und Starke werde ich vertilgen. Ich werde sie weiden wie es recht ist. (Ez 34,16; REÜ 2016)

was schon einen ziemlichen Unterschied macht. Scheinbar erschrocken über diesen drastischen Wechsel, machte das aktuelle Lektionar, das eigentlich der revidierten Fassung folgen sollte, einen Salto rückwärts, so dass deutschsprachige Katholiken am letzten Christkönigstag zu hören bekamen:

Die verloren gegangenen Tiere will ich suchen,
die vertriebenen zurückbringen,
die verletzten verbinden,
die schwachen kräftigen,
die fetten und starken behüten.
Ich will ihr Hirt sein
und für sie sorgen, wie es recht ist.
(Ez 34,16; aktuelles Lektionar)

Ich versuche, etwas Licht in dieses wirre Hin- und her zu bringen.

Die textkritische Situation

Der masoretische Text der Biblia Hebraica liest sich so:

אֶת־הָאֹבֶדֶת אֲבַקֵּשׁ וְאֶת־הַנִּדַּחַת אָשִׁיב וְלַנִּשְׁבֶּרֶת אֶחֱבֹשׁ וְאֶת־הַחֹולָה אֲחַזֵּק וְאֶת־הַשְּׁמֵנָה וְאֶת־הַחֲזָקָה אַשְׁמִיד אֶרְעֶנָּה בְמִשְׁפָּֽט׃

Der kritische Apparat macht – wenn man seine Abkürzungen übersetzt – folgende Angaben: der Ausdruck „das Fette“ fehlt in der LXX und den von ihr anhängigen Versionen. Das Verb „austilgen“ fehlt in einer hebräischen Handschrift; zwei hebräische Handschriften lesen stattdessen „ich werde behüten lassen“. Die LXX (und die Peschitta und die Vulgata)
lesen phyláxō (= „werde ich bewahren“), dies sei auch als eigentliche Hebräische Lesart anzunehmen.

Im Prinzip wird also vorgeschlagen, statt אַשְׁמִיד (= „ich werde vertilgen“) אֶשְׁמׂר zu lesen (= „ich werde bewahren“). Die Septuaginta habe also den ursprünglichen Sinn besser bewahrt als der heutige hebräische Text.

Anmerkung: Problematisch ist natürlich, dass die Biblia Hebraica hier mehrere hebräischen Handschriften erwähnt, ohne allerdings zu sagen, um welche es sich handelt. Eine hebräische Handschrift, die אשמיר (= „ich
werde behüten lassen“) liest, gehörte dem überragenden italienischen Gelehrten Giovanni Bernardo de Rossi, der ihn als cod.
meus 24, primo 789
bezeichnet. Eine genauere Beschreibung dieses Codex hat de Rossi hier hinterlassen. Es handelt sich um eine hebräische Handschrift aus dem 13. Jh. Die hebräische Handschrift, die das Verb „austilgen“ weglässt,
gehörte Benjamin Kennicott, wie seinem Kommentar zu Ezechiel zu entnehmen ist. Der Codex 112 Kennicott dürfte sich heute in der Bodleian Library in Oxford befinden, die bis jetzt aber nur die ersten acht seiner hebräischen Handschriften digitalisiert hat.

Insgesamt sind sich die gewichtigen Textzeugen des masoretischen Textes relativ einig:

Der Codex Aleppo (geschrieben um 920) zeigt die masoretische
Lesart ebenso
, wie der Codex Sassoon aus dem 10. Jh.

Ez 34,16 im Codex Sassoon via archive.org
Ez 34,16 im Codex Sassoon via archive.org

Beim Codex Cairensis aus dem 11. Jh. ist die Stelle so verschmiert, dass sie nicht eindeutig gelesen werden kann.

Ez 34,16 im Codex Cairensis via archive.org
Ez 34,16 im Codex Cairensis via archive.org

Damit hat der masoretische Text ein Problem: Es gibt nur mittelalterliche Handschriften unserer Stelle. Laut Eugene Ulrich1 gibt es vom Toten Meer keine Ezechiel-Handschriften, die unsere Stelle enthält. Exemplarisch kann hier auf eine Ezechiel-Schriftrolle aus der elften Höhle von Qumran verwiesen werden, von der zu sagen ist:

Von 11QEz sind noch ca. 35% erhalten. Wasser, Sand und Bakterien haben die Handschrift jedoch so stark beschädigt, daß es bis heute nicht gelungen ist, sie zu öffnen.2

Immerhin konnten einige Fragmente aus dieser beschädigten Rolle gerettet werden, die uns noch beschäftigen werden.

Die entscheidende Frage ist also: Hat die Septuaginta die ursprüngliche und damit richtige Fassung bewahrt, an der das katholische Lektionar dann festgehalten hat – im Unterschied zur revidierten Fassung? Mit dieser Frage betreten wir ein vermintes Gelände.

Die LXX-Fassung des Ezechiel

Ich kann die komplexe Frage hier nur oberflächlich erörtern.3 Fakt ist, dass es mit dem Papyrus 967 eine
LXX-Handschrift gibt, die gut 700 Jähre älter ist, als die masoretischen Textzeugen des Hebräischen Textes. Leider ist der Papyrus auf mehrere Bibliotheken aufgeteilt worden, und Princeton hat die Seiten mit unserem Text nicht digitalisiert. Ich kann daher hier nur auf den jüngeren Codex Vaticanus verweisen, der aber ebenfalls deutlich älter ist als die hebräischen Handschriften. Er liest

τάδε λέγει κύριος κύριος τὸ ἀπολωλὸς ζητήσω καὶ τὸ πλανώμενον ἐπιστρέψω καὶ τὸ συντετριμμένον καταδήσω καὶ τὸ ἐκλεῖπον ἐνισχύσω καὶ τὸ ἰσχυρὸν φυλάξω καὶ βοσκήσω αὐτὰ μετὰ κρίματος.<\span>

Dies sagt der Herr HERR: Ich werde das Verlorene suchen und das Verirrte zurückführen und das Verletzte verbinden und das Magere stärken und das Kräftige behüten und sie weiden gemäß der gesetzlichen Bestimmung. (Ez 34,16 Codex Vaticanus; MÜ)

Bereits 1886 zog Carl Heinrich Cornill – noch ohne Kenntnis des Papyrus 967 und der Handschriftenfunde vom Toten Meer – aus der Quellenlage den Schluss, dass die LXX-Fassung des Ezechielbuches eine ältere hebräische Vorlage haben müsse, als der spätere, mittelalterliche masoretische Text. Cornill plädierte daher für die Priorität der LXX-Fassung des Ezechiel und damit auch für die entsprechende Lesart unserer Stelle. Die Diskussion, die er angestoßen hat, wird im Prinzip bis heute geführt.4

Doch möchte ich vor voreiligen Schlüssen warnen und damit auf die schon erwähnten Fragmente aus der beschädigten Ezechielrolle aus Qumran zurückkommen. Hector M. Patmore hat meines Erachtens überzeugend dargelegt, dass die hebräischen Fragmente vom toten Meer, die deutlich älter sind als die ältesten LXX Handschriften, einen Text zeigen, der verblüffende Übereinstimmungen mit dem masoretischen Text aufweist. Damit wird die Deutung, die LXX habe eine ältere Vorlage bewahrt, wohl hinfällig. Wahrscheinlicher ist:

It appears that Papyrus 967 and the proto-MT from Masada (and Qumran) demonstrate that at some point two different versions of the Hebrew were in existence at the same time. The ‘longer’ (i.e. Masoretic) and ‘shorter’ (i.e. Greek) texts were in circulation concurrently and in Hebrew for at least 200 years.5

Damit scheidet meiner Meinung nach dieser Weg aus, um zu entscheiden, welche Fassung von Ez 34,16 authentisch ist.

Der Kontext in Ez 34

Kapitel 34 ist eine große Rede über den HERRN als den guten Hirten Israels – die vom vierten Evangelisten in seinem Evangelium aufgegriffen wurde.6 Dabei ergeben sich einige interessante Beobachtungen aus dem Gesamtkontext dieser Rede für die Klärung unserer Frage. JHWH klagt die Verantwortlichen des Volkes an, als Hirten des Volkes versagt zu haben, weshalb ER jetzt diese Aufgabe
übernehmen werde. Dabei kommt es zu einer spannenden antithetischen Struktur zwischen Vers 4 und Vers 167:

Vers 4:
a Die Schwachen habt ihr nicht gestärkt
b und das Kranke nicht geheilt
c und das Gebrochene nicht verbunden
d und das Versprengte nicht zurückgebracht
e und das Verlorene nicht gesucht.
Vers 16:
e Das Verlorene will ich suchen
d und das Versprengte zurückbringen,
c und das Gebrochene will ich verbinden,
b und das Kranke
a will ich stärken.
(Ü: Elberfelder)

Damit scheint für mich klar, dass nach diesem Abschnitt in Vers 16 ein neuer Sinnabschnitt beginnt. Der harsche Umgang mit den fetten und starken Tieren passt gut zum Kontext von V. 20-22:

16b das Fette aber und das Starke werde ich austilgen; mit <meinem> Recht werde ich sie weiden.
(…)
²⁰ Darum, so spricht der Herr, HERR, zu ihnen: Siehe, ich bin es, und ich werde richten zwischen fettem Schaf und magerem Schaf. ²¹ Weil ihr all die Schwachen mit Seite und Schulter verdrängt und mit euren Hörnern stoßt, bis ihr sie nach draußen zerstreut habt, ²² so will ich meine Schafe retten, damit sie nicht mehr zum Raub werden; und ich werde richten zwischen Schaf und Schaf.
(Ü: Elberfelder)

Von daher bin ich der Meinung, dass der masoretische Text durchaus sinnvoll und kohärent zu lesen ist.

Fazit

Alles in allem bleibt die Frage unentscheidbar. Was aber sicher nicht geht, ist die Vorgangsweise der Revidierten Einheitsübersetzung und des neuen katholischen Lektionars, die dem Leser keinen Chance geben, das Problem der Überlieferung dieser Textstelle auch nur wahrzunehmen. Ein Beispiel, wie es nicht sein sollte.


  1. The Biblical Qumran Scrolls. Transcriptions and Textual Variants (2010) S. 589↩︎
  2. Armin Lange: Handbuch der Textfunde vom Toten Meer. Band 1 (2009) S. 326↩︎
  3. Wer Näheres wissen will, sei auf die Einleitung der Universität Louvain verwiesen.↩︎
  4. Vergleiche etwa: Ingrid E. Lilly: Two Books of Ezekiel. Papyrus 967 and the Masoretic Text as Variant Literary Editions (Brill 2012) Timothy P. Mackie in: Expanding Ezekiel The Hermeneutics of Scribal Addition in the Ancient Text Witnesses of the Book of Ezekiel. (Vandenhoeck & Ruprecht 2015) S. 79 argumentiert exakt im Sinne Cornills: „We have in the MT tradition not only an instance of scribal expansion, but also a case of the graphic interchange of a similar letters, resulting in a very different sentence.“ Allerdings beruft er sich auf den Kommentar von Zimmerli.↩︎
  5. Hector M. Patmore: The Shorter and Longer Texts of Ezekiel: The Implications of the Manuscript Finds from Masada and Qumran; in: Journal for the Study of the Old Testament Vol. 32,2 S. 241↩︎
  6. Vgl. William G. Fowler u. Michael Strickland: The Influence of Ezekiel in the Fourth Gospel. Intertextuality and Interpretation (Brill 2018) S. 89 ff.↩︎
  7. Ich folge Daniel I. Block: The Book of Ezechiel. Chapters 25-48. (Eerdman’s 1998) S.
    291↩︎

 

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