Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr hindurchgeht …

Ein Bildwort Jesu ruft bis heute Verwirrung und Unverständnis hervor – das Kamel, das durch ein Nadelöhr gehen soll. Ich stelle zunächst den Text vor, dann die Lösungsversuche, die ich abschließend einer kritischen Würdigung unterziehe.

Hier einmal das Logion bei den drei Synoptikern:

πάλιν δὲ λέγω ὑμῖν, εὐκοπώτερόν ἐστιν κάμηλον διὰ τρυπήματος ῥαφίδος διελθεῖν ἢ πλούσιον εἰσελθεῖν εἰς τὴν βασιλείαν τοῦ θεοῦ. (Mt 19,24; NA XXVIII) Wieder sage ich euch aber: Müheloser ist es, daß ein Kamel durch (das) Loch einer Nadel hindurchgeht, als daß ein Reicher hineingehe in das Reich Gottes. (Ü: Münchener NT)
εὐκοπώτερόν ἐστιν κάμηλον διὰ [τῆς] τρυμαλιᾶς [τῆς] ῥαφίδος διελθεῖν ἢ πλούσιον εἰς τὴν βασιλείαν τοῦ θεοῦ εἰσελθεῖν. (Mk 10,25; NA XXVIII) Müheloser ist es, daß ein Kamel durch [das] Loch [der] Nadel hindurchgeht, als daß ein Reicher ins Königtum Gottes hineingeht. (Ü: Münchener NT)
εὐκοπώτερον γάρ ἐστιν κάμηλον διὰ τρήματος βελόνης εἰσελθεῖν ἢ πλούσιον εἰς τὴν βασιλείαν τοῦ θεοῦ εἰσελθεῖν. (Lk 18,25; NA XXVIII) Denn müheloser ist es, daß ein Kamel durch (die) Öffnung einer Nadel hineingeht, als daß ein Reicher ins Königtum Gottes hineingeht. (Ü: Münchener NT)

Die verwendeten Ausdrücke sind:

Begriff Matthäus Markus Lukas
durch τρύπημα τρυμαλιά τρῆμα
durch das Gebohrte das Loch die Öffnung
Verb διέρχομαι εἰσέρχομαι διέρχομαι
Verb durchgehen hineingehen durchgehen
Gegenstand ῥαφίς ῥαφίς βελόνη
Gegenstand Nadel Nadel Spitze/Nadel

Das Wort ist im großen und ganzen einheitlich überliefert und die Frage bleibt: Wie kann ein Kamel durch ein Nadelöhr gehen? War das wirklich so gemeint?

Erster Lösungsversuch: das Kamel ist kein Kamel sondern …

… ein dickes Seil.
Demnach hätten die Kopierer des Textes sich verschrieben und statt dem ursprünglichen kámilos – was „dickes Seil“ bedeute – das Wort kámēlos geschrieben, eben das bekannte Tier. Der Satz: Eher geht ein dickes Seil durch ein Nadelöhr, als ein Reicher in das Himmelreich, ergebe ein passenderen Sinn. Der kritische Apparat zu Mt 19,24 nennt als Textzeugen für diese Lesart eine griechische Handschrift aus dem 13. Jh. und eine aus dem 9./10. Jh., sowie armenische Handschriften. Das ist nicht wirklich ein starkes Argument für diese Lesart. Existiert das Wort überhaupt auf Griechisch?

Suda

Der Eintrag der Suda, der mittelalterlichen byzantinischen Enzyklopädie zum Stichwort Kamel sieht so aus:

Κάμηλ. Τὸ ζῷον.
Ἀριστοφάνης·
Πῶς ἄνευ καμήλου
Μῆδος ὢν ἐσέπτατο;
ἐπεὶ διὰ καμήλων ἦλθον οἱ Μῆδοι εἱς τὴν Ἑλλάδα.
καὶ Καμηλίτης βοῦς οὔτω καλούμενος.
Κάμιλος δὲ τὸ παχὺ σχοινίον.

Kamel. Das Tier.
Aristophánēs:
„Wie denn ohne Kamel geflogen
kommt als Meder er daher?“ (Die Vögel, 278; Ü: Johann Heinrich Voss)
Denn die Meder kamen auf Kamelen nach Griechenland.
Und Kameltreiber – auf diese Weise wird der Ochse bezeichnet.
Kámilos aber [ist] das dicke Seil.

In der Fußnote verweist das Lexikon zum Ausdruck kámilos auf den Kirchenvater Theophylact und seinen Kommentar zu Mt 19,24.

Theophylact

Der entsprechende Text des bulgarischen Bischofs findet sich in der Patrologia Graeca CXXIII, 356 d:

Τινὲς δὲ κάμηλον, οὐ τὸ ζῶόν φασιν, ἀλλὰ τὸ παχὺ σχοινίον, ᾧ χρῶνται οἱ ναῦται πρὸς τὸ ῥίπτειν τὰς ἀγκύρας.

„Manche aber behaupten, dass Kamel nicht das Tier [sei], sondern das dicke Seil, das die Seeleute für das Werfen des Ankers verwenden.“

Scholion 1035 zu den Wespen des Aristophanes<\h3>

Der Eintrag findet sich hier.
Der zu erklärende Vers bei Aristophanes lautet:
φώκης δ᾽ ὀσμήν, Λαμίας ὄρχεις ἀπλύτους, πρωκτὸν δὲ καμήλου. (Quelle)
„Und der Robbe Gedünst, und der Lamia Schooss, ungespült und den Arsch des Kameeles“. (Ü: Johann Heinrich Voss, der den Vers als 1045 angibt).

Das Scholion führt dazu aus:
πρωκτὸν δὲ καμήλου: Θερμόπρωκτος γὰρ ἡ κάμηλος καὶ λάγνος. κάμιλος δὲ τὸ παχὺ σχοινίον διὰ τοῦ ι.
„Arsch des Kameles“: denn das Kamel ist lüstern und und geil. Kámilos aber ist wegen des i das dicke Seil.

Auf Grund dieser Bezeugung im Scholien schlussfolgert Walter Bauer in seinem Wörterbuch zum Neuen Testament:

Das Wort, das nur von Suidas (…) und dem Scholiasten des Aristophanes (…) bezeugt ist (…), mag alt sein, ins Neue Testament gehört es nicht.1

Zurückweisung dieser „Lösung“

Die angebliche Verschreibung des Wortes Kamel steht textgeschichtlich auf tönernen Füßen und ist so schwach und spät bezeugt, dass sie mich nicht überzeugt. Dazu kommt, dass es einen paganen griechischen Autor des 2. Jahrhunderts gibt, der den sprichwörtlichen Gebrauch des Kamels zu Bezeichnung eines Reichen bezeugt.

Lukian von Samosata

Lukian von Samosata (2. Jh. n. Chr.) schreibt in seinen saturnalischen Briefen:

Ἐγὼ Κρόνῳ χαίρειν. ἐγεγράφειν μὲν ἤδη σοι καὶ πρότερον δηλῶν ἐν οἷς εἴην καὶ ὡς ὑπὸ πενίας κινδυνεύοιμι μόνος ἄμοιρος εἶναι τῆς ἑορτῆς, ἣν ἐπήγγελκας, ἔτι καὶ τοῦτο προσθεὶς — μέμνημαι γάρ — ἀλογώτατον εἶναι τοὺς μὲν ἡμῶν ὑπερπλουτεῖν καὶ τρυφᾶν δὐ κοινωνοῦντας ὧν ἔχουσι τοῖς πενεστέροις, τοὺς δὲ λιμῷ διαφθείρεσθαι, καὶ ταῦτα Κρονίων ἐνεστώτων: ἐπεὶ δέ μοι τότε οὐδὲν ἀντεπέστειλας, ἡγησάμην δεῖν αὖθις ἀναμνῆσαί σε τῶν αὐτῶν. ἐχρῆν γάρ σε, ὦ ἄριστε Κρόνε, τὸ ἄνισον τοῦτο ἀφελόντα καὶ τὰ ἀγαθὰ ἐς τὸ μέσον ἅπασι καταθέντα ἔπειτα κελεύειν ἑορτάζειν. ὡς δὲ νῦν ἔχομεν, μύρμηξ ἢ κάμηλος, ὡς ἡ παροιμία φησί. μᾶλλον δὲ τραγικὸν ὑποκριτὴν ἐννόησον θατέρῳ μὲν τοῖν ποδοῖν ἐφ᾽ ὑψηλοῦ βεβηκότα, οἷοί εἰσι τραγικοὶ ἐμβάται, ὁ δ᾽ ἕτερος ἀνυπόδητος ἔστω. εἰ τοίνυν βαδίζοι οὕτως ἔχων, ὁρᾷς ὅτι ἀναγκαῖον αὐτῷ ἄρτι μὲν ὑψηλῷ, ἄρτι δὲ ταπεινῷ γενέσθαι, καθ᾽ ὁπότερον ἂν πόδα προβαίνῃ. τοσοῦτον κἀν τῷ βίῳ ἡμῶν τὸ ἄνισον: καὶ οἱ μὲν ὑποδησάμενοι ἐμβάτας τῆς τύχης χορηγούσης ἐντραγῳδοῦσιν ἡμῖν, οἱ πολλοὶ δὲ πεζῇ καὶ χαμαὶ βαδίζομεν δυνάμενοι ἄν, εὖ ἴσθι, μὴ χεῖρον αὐτῶν ὑποκρίνεσθαι καὶ διαβαίνειν, εἴ τις καὶ ἡμᾶς ἐνεσκεύασε παραπλησίως ἐκείνοις. (Saturnalische Briefe 1,19 in: Luciani Samosatensis Opera III, (1876) S. 311 f.)

Hier die klassische deutsche Übersetzung von Christoph Martin Wieland aus dem Jahr 1788 (in ihrer ursprünglichen, wunderbaren Rechtschreibung):

Ich an den Saturnus. Meinen Gruß zuvor. Ich habe mir bereits die Freyheit genommen dir meine Umstände schriftlich zu entdecken, und zu berichten, wie daß ich vor lauter Armuth in Gefahr bin, bey dem Feste das du uns angekündigt hast, völlig leer auszugehen; mit dem Beyfügen, es sey doch ganz widersinnisch, daß einige von uns übermäßig reich sind und sich in Ueppigkeit und Wolust wälzen, ohne sich im geringsten um die Armen zu bekümmern; diese hingegen, denen mit einem kleinen Theil von ihrem Ueberfluß geholfen wäre, vor Hunger verschmachten sollen, und das im Angesichte der Saturnalien! Dir, bester Saturn, läge nun ob, vor allen Dingen diese Ungleichheit aufzuheben. Wäre dieß erst geschehen, dann könntest du dein Fest ansagen lassen wenn du wolltest; wie die Sachen aber jetzt stehen, sind wir entweder Ameise oder Kameel, wie man im Sprüchwort sagt. Denke dir einen tragischen Schauspieler, der mit dem einen Fuß in einem hohen Kothurn2 stünde, während er am anderen baarfuß wäre, und also, wenn er in diesem Aufzuge gehen wollte, nothwendig bald ein Riese bald ein Zwerg scheinen müßte, je nachdem er mit dem einen oder mit dem anderen Fuß aufträte: dieser Schauspieler ist das Bild der Ungleichheit im menschlichen Leben. Die einen schreiten in den Kothurnen, die ihnen das Glück angeschnallt hat, über uns andere weg, oder treten uns vielmehr zu Boden, da wir doch eben so gut wie sie hoch einhersteigen und Halbgötter vorstellen könnten, wenn man uns mit den Erfordernissen dazu versehen wollte. (Lucians von Samosata Sämtliche Werke, Dritter Theil (1788) S. 25 f.)

Der entscheidende Satz für unsere Frage ist: μύρμηξ ἢ κάμηλος, ὡς ἡ παροιμία φησί – „Ameise oder Kamel, wie das Sprichtwort sagt“. Es gibt also keinen Grund, an der ursprünglichen Lesart mit einem Kamel zu zweifeln. Dazu kommt noch der Satz aus Mt 23,24: ὁδηγοὶ τυφλοί, οἱ διϋλίζοντες τὸν κώνωπα, τὴν δὲ κάμηλον καταπίνοντες. „Ihr blinden Führer, die ihr die Mücke seiht, das Kamel aber verschluckt!“ Natürlich kann man ein Kamel nicht schlucken, aber gerade die unmäßige Größe bringt das Bild auf den Punkt. (Dazu siehe weiter unten)

Zweiter Lösungsversuch: das Nadelöhr ist kein Nadelöhr, sondern …

… ein als solches bezeichnetes Stadttor in Jerusalem.
Diese These entwickelte sich langsam aus der alexandrinischen Schrifterklärung heraus und verbreitete sich im Lauf der Jahrhunderte.

Origenes

Origenes kommt auf das Wort „Nadelöhr“ in seinem Werk gegen Celsus zu sprechen. Der hatte behauptet, Jesus habe damit eine Aussage Platos verunstaltet. In seiner Widerlegung führt Adamantius aus:

εἰ δὲ μὴ μετὰ τοῦ μισεῖν καὶ ἀπεχθάνεσθαι ἐντυχὼν τοῖς εὐαγγελίοις φιλαλήθης ἦν ὁ Κέλσος, ἐπέστησεν ἄν, τί δή ποτε παρελήφθη κάμηλος, τὸ τῶν ζῴων ὅσον ἐπὶ τῇ κατασκευῇ σκολιόν, παραβαλλόμενον τῷ πλουσίῳ, καὶ τί αὐτῷ ἐβούλετο ἡ στενὴ „τῆς ῥαφίδος“ τρυμαλιά, στενὴν φάσκοντι εἶναι καὶ τεθλιμμένην <τὴν ὁδὸν> τὴν ἀπάγουσαν „εἰς τὴν ζωήν“. (GCS III S. 87)

Hätte Celsus nicht mit gehässiger und feindseliger Gesinnung, sondern von Wahrheitsliebe durchdrungen die Evangelien gelesen, so hätte er erwogen, warum wohl das Kamel, dieses durch einen Höcker verunstaltete Tier, [von Jesus] zum Abbild des Reichen gewählt wurde, und was er mit dem engen „Nadelöhr“ sagen wollte, da er lehrte, „der Weg, der zum Leben führe, sei eng und schmal“ (Mt 7,14). Contra Celsum VI,16 (BKV)

Origenes verbindet also das Hineingehen in das Reich Gottes mit dem engen und schmalen Weg in das Leben. Diese Verbindung wurde schon bei Clemens von Alexandria angedeutet und sie sollte weiter ausgebaut und vertieft werden.

Eusebius von Caesarea

In seinem Kommentar zu Jes 60,6-7 schreibt der Kirchenvater:

καὶ ἥξουσί σοι ἀγέλαι καμήλων, καὶ καλύψουσί σε κάμηλοι Μαδιὰμ καὶ Γεφάρ· πάντες ἐκ Βασὰν ἥξουσι φέροντες χρυσίον καὶ λίβανον οἴσουσιν· αἰνίττεσθαι δὲ οἶμαι διὰ τούτων τοὺς ἐν τῇ ἐκκλησίᾳ εὐπόρους καὶ πλούτῳ πολλῷ περιρρεομένους. οὕτω γοῦν καὶ ὁ σωτὴρ >τὸν πλούσιον καμήλῳ< παραβάλλων ἔλεγεν· »εὐκοπώτερόν ἐστι κάμηλον διὰ τρυμαλιᾶς ῥαφίδος διελθεῖν ἢ πλούσιον εἰς τὴν βασιλείαν τῶν οὐρανῶν«. πλὴν ἀλλὰ τὸ θαῦμα τοῦτ` ἦν, ὅτι »τὸ παρ` ἀνθρώποις ἀδύνατον τοῦτο δυνατὸν γίνεται τῷ θεῷ«. διὸ καὶ ἐξίσταται ἡ Ἰερουσαλὴμ διὰ τοῦ χαρᾶς πληροῦσθαι καμήλοις παραβεβλημένας ψυχὰς θεωμένη μεταβαλλούσας καὶ ὡσπερεὶ »διὰ τρυμαλιᾶς ῥαφίδος« διὰ >τῆς στενῆς καὶ τεθλιμμένης ὁδοῦ εἰς τὴν αἰώνιον ζωὴν εἰσιούσας<. (GCS Eusebius IX (1975) S. 372 – der Text bei Migne findet sich hier: MPG XXIV,492)

Und es werden Herden von Kamelen zu Dir kommen und Kamele von Midian und Gaiphar werden dich bedecken: alle werden von Basan kommen, Gold tragend und Weihrauch bringen sie herbei. (Jes 60,6) Ich vermute, dass durch diese [Worte] auf die Wohlhabenden in der Kirche angespielt wird, die auch durch viel Reichtum im Überfluss leben. Der Erlöser allerdings vergleicht auf diese Weise den Reichen mit einem Kamel, wenn er sagt: Müheloser ist es, dass ein Kamel durch (das) Loch einer Nadel hindurchgeht, als ein Reicher in das Reich der Himmel (Mt 19,24). Gleichwohl aber war dies ein Wunder, denn das bei Menschen unmögliche, das kann durch Gott geschehen (vgl. Mt 19,26). Weswegen auch Jerusalem außer sich gerät, dadurch dass es mit Freude erfüllt wird, wenn es sieht, dass die Seelen mit Kamelen verglichen werden, die umkehren und gleichwie durch das Loch der Nadel (Mk 10,25) durch den engen und zusammengedrängten Weg, der in das ewige Leben hineingeht (vgl. Mt 7,14).

Bei Eusebius wird das Bild vom Nadelöhr und das Bild vom engen Weg bzw. Tor mit dem Begriff „Jerusalem“ ergänzt. Alle Elemente dieser „Lösung“ liegen also vor.

Eusebius Hieronymus

Der lateinische Kirchenvater dürfte mit dieser griechischen Auslegungstradition vertraut gewesen sein, denn er schreibt in seinem Jesaja-Kommentar:

Sed si legamus Isaiam, quomodo cameli Madian et Epha veniant Jerusalem cum donis atque muneribus (Isa. LX,6): et qui prius curvi erant, et vitiorum pravitate distorti, ingrediantur portas Jerusalem, videbimus quomodo et isti cameli, quibus divites comparantur, cum deposuerint gravem sarcinam peccatorum, et totius corporis pravitatem, intrare possint per angustam portam, et arctam viam, quae ducit ad vitam (Matth. VII,14) (MPL XXVI,143-144)

„Aber wenn wir Jesaja lesen, wie die Kamele Midians und Efas mit Gaben und Geschenken nach Jerusalem kommen (Jes 60,6): Und die, die zuvor gebeugt und von der Schlechtigkeit der Laster verdreht waren, die Tore Jerusalems durchschreiten, dann werden wir sehen, wie auch diese Kamele, mit denen die Reichen verglichen werden, durch die enge Pforte und auf den schmalen Pfad treten können, der zum Leben führt (Mt 7,14), wenn sie die schwere Last der Sünden und die Schlechtigkeit des ganzen Leibes abgelegt haben werden.“ (Kommentar zu Mt 19,24)

Hieronymus brachte die entscheidenden drei Begriffe Kamel – Jerusalem – enge Pforte in den lateinischen Westen. Der nächste Schritt war dann die Vorstellung, dass es in Jerusalem eine enge Pforte für Kamele gegeben habe, durch die die Tiere nur nach Ablegen ihrer Lasten hindurch kommen konnten.

Catena aurea

Die Catena Aurea des Thomas von Aquin (gestorben 1274) zitiert eine Glosse Anselm von Laons (gestorben 1117) zu unserer Frage:

Inkunabel der Catena aurea zu Mt 19,14 von 1482
Inkunabel der Catena aurea zu Mt 19,14 von 1482

Aliter dicitur, quia Hierosolymis quaedam porta erat, quae foramen acus dicebatur, per quam camelus, nisi deposito onere et flexis genibus, transire non poterat: per quod significatur, divites non posse transire viam arctam quae ducit ad vitam, nisi sordibus peccatorum et divitiis depositis, saltem non amando. (Inkunabel von 1482)

„Anderweitig wird gesagt, dass Jerusalem ein bestimmtes Tor hatte, das „Nadelöhr“ genannt wurde, durch das ein Kamel nicht hindurchgelangen konnte, außer durch das Ablegen der Last und das Beugen der Knie: dadurch sollte angedeutet werden, dass Reiche nicht auf den schmalen Pfad gelangen können, der zu Leben führt, außer durch das Ablegen von Habgier der Sünden und von Reichtümern, [was bedeutet] sie zumindest nicht zu lieben.“ (Catena Aurea zu Mt 19,24).

Abweisung dieser „Lösung“

Diese Erklärung ist eindeutig aus der alexandrinischen Deutung dieser schwierigen Stelle heraus fantasiert worden. Weder schriftlich noch archäologisch ist die Existenz eines solchen Tores bezeugt. Schon Nikolaus von Lyra (gestorben 1349) wußte in seiner Postilla zu Glossa ordniaria:

Postilla des Nikolaus von Lyra zur Glossa Ordinaria von Mat 19,24
Postilla des Nikolaus von Lyra zur Glossa Ordinaria von Mat 19,24

Sed quia hoc de scriptura non habet auctoritatem, ideo eadem facilitate contemnitur qua probatur. Non enim invenitur scriptum in aliqua scriptura authentica quod in Ierusalem fuerit aliqua porta sic nominata.

„Aber weil das keine Autorität von der Schrift her hat, wird es daher mit der selben Leichtigkeit zurückgewiesen, mit der der es für gut gehalten wird. Denn in keiner authentischen Schrift wird geschrieben gefunden, dass es in Jerusalem irgendein so genanntes Tor gegeben habe.“

Mit anderen Worten: die Erklärung des Nadelöhrs als Tor in Jerusalem ist reine Fiktion.

Dritte Lösung: die Evangelisten haben das ursprünglich von Jesus gebrauchte Wort nicht verstanden, weil …

… die Muttersprache Jesu aramäisch war und die Evangelisten griechisch schrieben. Schon 1908 beschritt Georg Aicher in seiner Studie „Kamel und Nadelöhr“ diesen Weg und berief sich dabei auf eine Verschreibung des angeblich ursprünglichen Textes3. Demnach habe die Aussage Jesu eigentlich gelautet: „Wiederum sage ich euch: es ist leichter durch einen Raum so klein wie ein Nadelöhr hineinzugehen, als ins Himmelreich einzugehen.4“ Das Kamel mußte also unbedingt aus dem Text hinaus.

Abweisung auch dieser „Lösung“

Die Behauptung, die Evangelisten hätten Jesus einfach falsch verstanden und die sich anschließende „Korrektur“ mit einer Rückübersetzung ins Aramäische oder Hebräische ist ein hermeneutischer Salto rückwärts aus dem Stand in die jeweilige Vorliebe des entsprechenden Autors. In unserem vorliegend Fall erweist sie sich zudem als überflüssig, weil die Sprichwörtlichkeit des Vergleichs von einem Reichen und einem Kamel durch Lukian von Samosata erwiesen ist. Operationen mit angeblichen und nirgendwo belegten semitischen Vorstufen sind schlichtweg überflüssig. Es gilt hier, was Morna Hooker 1991 in ihrem Kommentar zum Markus-Evangelium geschrieben hat:

Nur die außerordentliche Unfähigkeit der Kommentatoren, die Übertreibung und den Humor dieser Schilderung wertzuschätzen, hat sie zu dem Vorschlag geführt, das Kamel (κάμηλος) auf die Größe eines Seils zu verkleinern (κάμιλος – eine Lesart, die in einigen wenigen späten Handschriften übernommen wurde), oder das Nadelöhr zu einem imaginären Tor in der Mauer von Jerusalem zu vergrößern. Jesus wollte seine Zuhörer zum Nachdenken bringen, als er ihnen das absurde Bild des größten Tieres, das versucht durch die kleinste Öffnung zu gehen, präsentierte. (The Gospel according to Mark, S. 243)

Dem ist nichts hinzuzufügen.

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  1. Walter Bauer: Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments (1971) 794; Ich habe die von ihm abgekürzten Wörter ausgeschrieben.
  2. Laut Duden: (im antiken Trauerspiel) Bühnenschuh der Schauspieler mit hoher Sohle
  3. Auch wenn ich Aichers „Lösung“ glatt ablehne, gestehe ich ihm gerne zu,was er 1908 im Vorwort schrieb: „Der Verfasser gibt sich der Hoffnung hin, selbst solchen, die derartiger Arbeit skeptisch gegenüberstehen, nicht bloß durch Zusammenstellung der teilweise entlegenen und disparaten Literatur, sondern auch durch Darbietung mehrerer neuer Beobachtungen einen Dienst erwiesen zu haben.“ (Kamel und Nadelöhr. Eine kritisch-exegetische Studie über Mt 19, 24 und Parallelen (1908), S. VI)
  4. S. 52, a.a.o.

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