Der Ausdruck ‚vom Saulus zum Paulus werden‘ ist sprichwörtlich geworden und scheint seinen Ausgang im Neuen Testament genommen zu haben. Das ist aber nicht richtig, denn Apg 13,9 macht unmissverständlich klar, dass der Apostel einen Doppelnamen trug. Wie kam es dann zu der Redewendung? Das lässt sich sehr gut an Origenes (185-253) nachvollziehen, der sich zweimal ausführlicher mit dieser Frage befasst hat.
De Oratione II,24,2
Das erste mal spricht Origenes in seiner Schrift ‚Über das Gebet‘ von der Doppelbezeichnung des Apostels. Paul Koetschau vermutete ‚etwa 233/4‘ als die Entstehungszeit dieser Schrift1. Der Gedankengang bietet die klassische Formulierung der ‚Vom Saulus zum Paulus‘ Vorstellung.
„ὄνομα“ τοίνυν ἐστὶ κεφαλαιώδης προσηγορία τῆς ἰδίας ποιότητος τοῦ ὀνομαζομένου παραστατική· οἷόν ἐστι τὶς ἰδία ποιότης Παύλου τοῦ ἀποστόλου, ἡ μέν τις τῆς ψυχῆς, καϑ᾿ ἣν τοιάδε ἐστὶν, ἡ δέ τις τοῦ νοῦ, καϑ᾿ ἣν τοιῶνδέ ἐστι ϑεωρητικὸς, ἡ δέ τις τοῦ σώματος αὐτοῦ, καϑ᾿ ἣν τοιόνδε ἐστί. τὸ τοίνυν τούτων τῶν ποιοτήτων ἴδιον καὶ ἀσυντρόχαστον πρὸς ἕτερον (ἄλλος γάρ τις ἀπαράλλακτος Παύλου ἐν τοῖς οὖσιν οὐκ ἔστι) δηλοῦται διὰ τῆς „Παῦλος“ ὀνομασίας. ἀλλ᾿ ἐπὶ ἀνθρώπων, οἱονεὶ ἀλλασσομένων τῶν ἰδίων ποιοτήτων, ὑγιῶς κατὰ τὴν γραφὴν ἀλλάσσεται καὶ τὰ ὀνόματα· μεταβαλούσης γὰρ τῆς τοῦ „Ἀβρὰμ“ ποιότητος, ἐκλήθη „Ἀβραὰμ,“ καὶ τῆς τοῦ Σίμωνος, ὁ „Πέτρος“ ὠνομάσθη, καὶ τῆς τοῦ διώκοντος τὸν Ἰησοῦν „Σαοὺλ,“ προσηγορεύϑη ὁ „Παῦλος.“ ἐπὶ δὲ ϑεοῦ, ὅστις αὐτός ἐστιν ἄτρεπτος καὶ ἀναλλοίωτος ἀεὶ τυγχάνων, ἕν ἐστιν ἀεὶ τὸ οἱονεὶ καὶ ἐπ᾿ αὐτοῦ ὄνομα, τὸ „<ὁ> ὢν“ ἐν τῇ Ἐξόδῳ εἰρημένον ἤ τι οὕτως ἂν λεχϑησόμενον. ἐπεὶ οὖν περὶ ϑεοῦ πάντες μὲν ὑπολαμβάνομέν τι, ἐννοοῦντες ἅτινα δή ποτε περὶ αὐτοῦ, οὐ πάντες δὲ ὅ ἐστι (σπάνιοι γὰρ καὶ, εἰ χρὴ λέγειν, τῶν σπανίων σπανιώτεροι οἱ τὴν ἐν πᾶσιν ἁγιότητα καταλαμβάνοντες αὐτοῦ), εὐλόγως διδασκόμεϑα τὴν ἐν ἡμῖν ἔννοιαν περὶ ϑεοῦ ἁγίαν γενέσϑαι, ἵν᾿ ἴδωμεν αὐτοῦ τὴν ἁγιότητα κτίζοντος καὶ προνοοῦντος καὶ κρίνοντος καὶ ἐκλεγομένου καὶ ἐγκαταλείποντος ἀποδεχομένου τε καὶ ἀποστρεφομένου καὶ γέρως ἀξιοῦντος καὶ κολάζοντος ἕκαστον κατὰ τὴν ἀξίαν.
(GCS III, 353-354)
„Name“ ist also eine zusammenfassende Benennung, die die eigenartige Beschaffenheit dessen andeutet, der den Namen trägt. So gibt es z.B. eine gewisse eigenartige Beschaffenheit des Apostels Paulus, teils seiner Seele, nach welcher sie so und so beschaffen ist, teils seines Geistes, nach welcher dieser solche oder solche Betrachtungen anstellt, teils eine gewisse Beschaffenheit seines Leibes, nach welcher dieser von der und der Art ist. Das Eigenartige und einem andern gegenüber Selbständige dieser Beschaffenheiten – denn einen andern, mit Paulus vollkommen übereinstimmenden Menschen gibt es unter den Seienden nicht – wird also durch die Benennung „Paulus“ deutlich gemacht. Aber wenn bei Menschen gleichsam die individuellen Eigenschaften sich wandeln, so wandeln sich vernünftigerweise nach der Schrift bei ihnen auch die Namen; denn als die Beschaffenheit des „Abram“ sich änderte, wurde er „Abraham“ genannt2, desgleichen bei „Simon“, der den Namen „Petrus“ erhielt3, und bei dem Verfolger Jesu, „Saul“, der „Paulus“ angeredet wurde4. Bei Gott aber, der selbst unwandelbar ist und immer unveränderlich bleibt, ist der gleichsam auch ihm beigelegte Name immer nur einer: „[der] Seiende“, so im Exodus5 genannt, oder vielleicht in ähnlicher Weise6 zu benennen. Da wir nun alle von Gott irgendeine Auffassung haben, indem wir über ihn denken, was es auch immer sein mag, nicht alle aber das (bedenken) , was er ist – denn nur wenige und, wenn man so sagen darf, noch weniger als die wenigen sind es, die seine allseitige Heiligkeit erfassen -: so werden wir mit Recht belehrt, dass unsere Auffassung von Gott heilig sein [muß7], damit wir seine „Heiligkeit8“ sehen können, wie er erschafft und vorsorgt und richtet und auserwählt und verläßt und annimmt und verstößt und einen jeden nach seiner Würdigkeit teils durch Ehrenlohn auszeichnet, teils bestraft.
(Ü: Paul Koetschau für die BKV – alle Fussnoten in dieser Übersetzung stammen von Koetschau)
Kommentar zum Römerbrief Vorwort 10
In dem nur durch die komprimierende lateinische Übersetzung Rufins erhalten gebliebenen Römerbrief-Kommentar des großen Alexandriners kommt die m.E. richtige Sichtweise der Namensfrage zu Sprache.Theresia Heither sieht diesen Kommentar als Spätwerk, geschrieben 243-2449. Dort heißt es im Vorwort des Origenes:
Sed quia moris erat binis vel ternis nominibus uti Hebraeos, unius ejusdemque viri diversa singuli vocabula posuere. Secundum hanc ergo consuetudinem videtur nobis et Paulus duplici usus esse vocabulo; et donec quidem genti propriae ministrabat, Saulus esse vocatus, quod et magis appellationi patriae vernaculum videbatur; Paulus autem appellatum esse, cum Graecis et gentibus leges ac praecepta conscripsit. Nam et hoc ipsum quod Scriptura dicit: Saulus autem, qui et Paulus, evidenter non ei tunc primum Pauli nomen ostendit impositum, sed veteris appellationis id fuisse designat. Haec ab ipso auctore operis omissa, nos quia id dissertationis initium videbatur exposcere, puto quod non inconvenienter praemisimus. (MPL XIV, 837-838)
„Sondern weil es Sitte war, dass die Hebräer je zwei oder drei Namen gebrauchten, führte man für ein und denselben einzelnen Mann verschiedene Benennungen an. Gemäß dieser Gewohnheit scheint es uns also, dass auch Paulus eine doppelte Benennung verwendet hat: Während er gerade dem eigenen Volk diente, hieß er Saulus, was als Bezeichnung eher als die Art der Heimat erschien; Paulus aber wurde er jedes mal genannt, wenn er Griechen und (denen aus den) Völkern Gesetze und Vorschriften verfasste. Denn das ist es auch, was die Schrift sagt: Saulus aber, der auch Paulus [heißt] (Apg 13,9); es zeigt offensichtlich, dass ihm damals nicht eben zum ersten Mal der Namen Paulus beigelegt wurde, sondern gibt an, dass das eine alte Bezeichnung war.
Dies ist vom Autor des Werkes selbst unerwähnt gelassen worden, wir haben es, weil dies der Anfang der Erörterung dringend zu verlangen scheint – ich meine nicht unpassend – vorausgeschickt.“ (MÜ)
Wie verlässlich ist die Übersetzung Rufins hier? Er gibt ja selbst zu, dass der Gedankengang nicht aus dem Römerbrief-Kommentar stammt! Heither führt dazu aus:
Es ist unklar, ob der Exkurs über den Doppelnamen des Saulus-Paulus von RUFIN stammt, ob RUFIN ihn aus der Erklärung zu Vers 1 in die praefatio verschoben hat, oder ob ORIGENES an anderer Stelle (…) darüber gesprochen und RUFIN das Fehlende so ergänzt hat.10
Ich tendiere mit Thomas P. Scheck zu der Annahme, dass Rufin diesen Abschnitt aus einem anderen – verloren gegangenen – Werk des Alexandriners übernommen und hier eingesetzt hat.11 Wie auch immer: Es ist für mich die richtige Erklärung, die auch in der heutigen Forschung vertreten wird.12
Fußnoten:
1 GCS I S. LXXVI
2 Vgl. Gen. 17,5.
3 Vgl. Mark. 3,16; Joh. 1,42.
4 Apg. 9,4f.; 13,9.
5 Vgl. Exod. 3,14.
6 Or. II 354,10 schreibe ich: ἤ τοιούτως ἅν λεχθησόμενον.
7 Ich füge Or. II 354,15 ⟨δεῖν⟩ hinter ⟨ἁγίαν⟩ ein.
8 Vgl. Hebr. 12,10.
9 Fontes Christiani 2/1 S. 11
10 ebenda, S. 75 Fn. 12
11 Vgl. Thomas P. Scheck: Origen. Commentary on the epistle to the Romans; Books 1–5; The Catholic University of America Press 2001,
S. 57 Fn. 34 und S. 59 Fn. 53
12 Siehe etwa Ingo Broer in Verbindung mit Hans-Ulrich Weidemann: Einleitung in das Neue Testament; Echter Verlag ³2006, S. 286 (mit ausdrücklicher Berufung auf Origenes); Markus Öhler: Geschichte des frühen Christentums, Vandenhoeck & Ruprecht 2018, S. 182