»It was Blasphemy to talk Scripture out of Church.« (Mrs. Adams in Henry Fieldings Joseph Andrews, IV,12,253)
Einleitung
So alt wie die biblischen Texte ist die Frage ihrer Auslegung. Ein kleines, aber kanongeschichtlich gesehen, feines Beispiel, stellt diese Aussage des zweiten Petrusbriefes dar:
Und die Geduld unseres Herrn betrachtet als eure Rettung. Das hat euch auch unser geliebter Bruder Paulus mit der ihm geschenkten Weisheit geschrieben;
es steht in allen seinen Briefen, in denen er davon spricht. In ihnen ist einiges schwer zu verstehen und die Unwissenden, die noch nicht gefestigt sind, werden diese Stellen ebenso verdrehen wie die übrigen Schriften zu ihrem eigenen Verderben. (2 Petr 3,15-16; REÜ)
Interessantwerweise konstantiert der Autor diese Verdrehungen einfach, ohne aber eine Gegenmaßnahme vorzuschlagen. Jeder Mensch, der sich, wie ich, mit Bibelauslegung beschäftigt, wird aber auf Deutungen treffen, die er oder sie als katastrophisch empfindet. Soll man dann darüber diskutieren?
Ich lasse ein paar erfahrene Bibelausleger zu diesem Thema zu Wort kommen.
Diskussionen über Bibelstellen sind sinnlos (Tertullian)
Die Glossa Ordinaria führt zur Auslegung von 2 Petr 3,16 folgende Aussagen Tertullians an:
XVII. Deinde, quoniam nihil proficiat congressio Scripturarum, nisi plane ut stomachi quis ineat eversionem, aut cerebri. Ista haeresis non recipit quasdam Scripturas; et si quas recipit, non recipit integras: adiectionibus et detractionibus ad dispositionem instituti sui intervertit: et si aliquatenus integras praestat, nihilominus diversas expositiones commentata convertit. Tantum veritati obstrepit adulter sensus, quantum et corruptor stylus. Variae praesumptiones necessario nolunt agnoscere ea, per quae revincuntur; his nituntur quae ex falso composuerunt, et quae de ambiguitate ceperunt. Quid promovebis, exercitatissime Scripturarum, cum si quid defenderis, negetur ex diverso, si quid negaveris, defendatur? Et tu quidem nihil perdes, nisi uocem in contentione; nihil consequeris, nisi bilem de blasphematione. (De praescriptione haereticorum XVII,1, zitiert nach MPL II, 30)
»Weiterhin, weil ein feindliches Zusammentreffen wegen der Schriften nichts bringt, außer freilich, dass man sich eine Zerrüttung des Magens oder des Hirns einfängt. Da gibt es eine Hairesis, die einige Schriften nicht annimmt; oder wenn sie sie annimmt, nimmt sie sie nicht vollständig an: sie verändert durch Hinzufügungen und Weglassungen nach dem Bedürfnis ihrer Lehrmeinung den Sinn: und wenn sie sie einigermaßen vollständig beibehält, verändert sie sie nichtsdestoweniger, indem sie verschiedene Auslegungen ersinnt. Eine untreue Deutung ist der Wahrheit ebenso sehr entgegengesetzt, wie ein betrügender Schreibstift. Unterschiedliche Anmaßungen wollen notwendiger Weise nicht das anerkennen, wodurch sie vom Gegenteil überführt werden; sie stützen sich auf das, was sie sich fälschlicherweise ausgedacht und von einer Mehrdeutigkeit ausgesucht haben. Was wirst du ans Licht bringen, du super geübter Schriftausleger, wenn das, was du verteidigst, von der Gegenpartei bestritten wird, und das, was du verneinst, verteidigt wird? Du wirst wenigstens nichts verlieren, außer vor Anstrengung die Stimme; du wirst nichts erreichen, außer Verdruss über die Blasphemien.« (Über die Prozeßeinrede der Häretiker XVII,1; MÜ)
Saloppp formuliert: außer Bauch- und Schädelweh bringen solche Diskussionen gar nichts. Ich habe diese Erfahrung auch schon gemacht, gebe aber zu bedenken, dass der versierte Jurist Tertullian in seiner langen Publikationsliste immer wieder das macht, was er hier als sinnlos verteufelt.
Populäre oder populistische Auslegung? (Arius)
Das waren noch Zeiten, als eine komplette Bevölkerung über Bibelauslegung diskutierte! So geschehen in der Zeit der großen christologischen Kontroversen im dritten und vierten Jahrhundert. Der etwa von 368 bis 425 lebende Kappadozier Philostorgius hat in seiner Kirchengeschichte, die nur durch Fragmente und Auszüge in anderen Werken auf uns gekommen ist, folgendes über den Erfolg der Verkündigung des alexandrinischen Priesters Arius berichtet:
Ὅτι τὸν Ἄρειον ἀποπηδήσαντα τῆς ἐκκλησίας φησὶ ᾄσματά τε ναυτικὰ καὶ ἐπιμύλια καὶ ὁδοιπορικὰ γράψαι, καὶ τοιαῦϑ‘ ἕτερα συντιϑέντα, εἰς μελῳδίας ἐντεῖναι ἃς ἐνόμιζεν ἑκάστοις ἁρμόζειν, διὰ τῆς ἐν ταῖς μελῳδίαις ἡδονῆς ἐκκλέπτων πρὸς τὴν οἰκείαν ἀσέβειαν τοὺς ἀμαϑεστέρους τῶν ἀνϑρώπων. (GCS XXI, S. 13)
»Er (=Philostorgius) sagt, dass der Arius, nachdem er der Kirche untreu geworden war, Lieder 1 für Seefahrer und Müller und Reisende schrieb, und andere so beschaffene komponierte, um (sie) in Melodien zu fassen, die er jeden von ihnen anzupassen gewohnt war. Durch die Freude in den Melodien brachte er die ungebildeteren unter den Menschen heimlich zur persönlichen Gottlosigkeit weg.« (MÜ)
Eine Aussage wie »ἦν ποτε ὅτε οὐκ ἦν« – »es gab eine Zeit, als es ihn nicht gab« in eine mitreißende Melodie zu kleiden – welchem Bibelausleger – mich eingeschlossen – wäre das heute noch möglich? Aber: ist eine erfolgreiche Bibelauslegung auch eine gute?
Intern müssen Diskussionen möglich sein (Raschi)
In seinem Kommentar zu Sach 9,1 zitiert Raschi eine Baraita aus Sifre Dtn. 1,1 (כך ברייתא שנויה בסיפרי): Der Vers, um den es geht, lautet: Ausspruch. Das Wort des HERRN im Land Hadrach! Ja, Damaskus ist seine Ruhestätte! Denn der HERR hat ein Auge auf die Menschen wie auf alle Stämme Israels.
בארץ חדרך. דרש רבי יהודה בר אלעאי זה משיח שהוא חד לעכו“ם ורך לישראל אמר לו רבי יוסי בן דורמסקית יהודה בריבי עד מתי אתה מעוות עלינו את הכתובים מעיד אני עלי שמים וארץ שאני מדמשק ויש מקום ששמו חדרך
»Im Land Chadrach (Sach 9,1). R. Jehuda bar Ilai legte (den Ausdruck so) aus: dass ist der Messias, weil er streng (hebr. chad) zu den Dienern der Sterne und Planeten (עובדי כוכבים ומזלות) ist und sanft (hebr. rach) zu Israel. Das sagt R. Jose, der Sohn einer Frau aus Damaskus, zu ihm: Jehuda, du Schüler von Rabbi (=Jehuda ha-Nasi), wie lange willst du uns die Schriftstellen verdrehen? Ich rufe Himmel und Erde als Zeuge für mich an, dass ich von Damaskus bin, und es gibt (dort) einen Ort, dessen Namen Chadrach ist.« (MÜ)
Ohne auf die komplexen Fragen, die mit diesem Text verbunden sind, näher einzugehen: Es ist intern also möglich und wohl auch notwendig, einem verehrten Lehrer zu widersprechen, wenn er Unsinn redet.2
Welche Argumente zählen eigentlich? (Thomas von Aquin)
Ausgewogen und systematisch wie üblich geht Thomas die Frage an, wie man über die Bibel diskutieren soll und kann. Für die mit seiner Methode nicht so vertrauten Lesenden: erst bringt Thomas, die Position, die er nicht teilt, dazu auch noch ein Argument für diese Position. Dann kommt seine Meinung zur Sprache, die argumentativ entfaltet wird. Am Schluß nimmt er sich dann noch die Gegenargumente vor.
Utrum magister determinando quaestiones theologicas magis debeat uti ratione, vel auctoritate
»Soll ein (akademischer) Lehrer, wenn er theologische Fragen klärt, sich mehr der Vernunft oder der Autorität(sargumente) bedienen?«
Circa tertium sic proceditur: videtur quod magister determinans quaestiones theologicas magis debeat uti auctoritatibus quam rationibus.
»Bezüglich dieser dritten Frage wird so vorgegangen: es scheint, dass ein Lehrer, der theologische Fragen klärt, sich mehr der (Begründung von) Autoritäten als der Vernunft bedienen soll.«
Quia in qualibet scientia quaestiones optime determinantur per prima principia illius scientiae. Sed prima principia scientiae theologicae sunt articuli fidei, qui nobis per auctoritates innotescunt. Ergo maxime quaestiones theologicae sunt determinandae per auctoritates.
»(Argument:) Weil in jeder beliebigen Wissenschaft Fragen am besten gemäß den obersten Gesetzen3 dieser Wissenschaft geklärt werden. Aber die obersten Gesetze der theologischen Wissenschaft sind die Glaubensartikel, die uns durch Autoritäten bekannt geworden sind. Daher müssen theologische Fragen unbedingt durch (die Argumente von) Autoritäten geklärt werden.«
Sed contra, est quod dicitur ad Tit., I, 9: ut sit potens exhortari in doctrina sana, et contradicentes revincere. Sed contradicentes melius revincuntur rationibus quam auctoritatibus. Ergo magis oportet determinare quaestiones per rationes quam per auctoritates.
»Aber dagegen (spricht), was (im Brief) an Titus 1,9 gesagt wird: »damit er fähig ist, in der gesunden Lehre zu ermahnen und Widersprechende zu widerlegen.« Aber Widersprechende werden besser durch Vernunftgründe als durch Autoritäten widerlegt. Also muss man Fragen mehr durch Vernunftgründe als durch (Berufung auf) Autoritäten klären.«
Respondeo. Dicendum, quod quilibet actus exequendus est secundum quod convenit ad suum finem. Disputatio autem ad duplicem finem potest ordinari. Quaedam enim disputatio ordinatur ad removendum dubitationem an ita sit; et in tali disputatione theologica maxime utendum est auctoritatibus, quas recipiunt illi cum quibus disputatur; puta, si cum Iudaeis disputatur, oportet inducere auctoritates veteris testamenti: si cum Manichaeis, qui vetus testamentum respuunt, oportet uti solum auctoritatibus novi testamenti: si autem cum schismaticis, qui recipiunt vetus et novum testamentum, non autem doctrinam sanctorum nostrorum, sicut sunt Graeci, oportet cum eis disputare ex auctoritatibus novi vel veteris testamenti, et illorum doctorum quod ipsi recipiunt. Si autem nullam auctoritatem recipiunt, oportet ad eos convincendos, ad rationes naturales confugere.
Quaedam vero disputatio est magistralis in scholis non ad removendum errorem, sed ad instruendum auditores ut inducantur ad intellectum veritatis quam intendit: et tunc oportet rationibus inniti investigantibus veritatis radicem, et facientibus scire quomodo sit verum quod dicitur: alioquin si nudis auctoritatibus magister quaestionem determinet, certificabitur quidem auditor quod ita est, sed nihil scientiae vel intellectus acquiret et vacuus abscedet.
»Ich antworte (so). Man muss sagen, dass jede Tätigkeit so auszuführen ist, wie es ihrem Ziel entspricht. Eine (wissenschaftliche) Diskussion kann auf ein doppeltes Ziel hingerichtet sein. Eine Diskussion kann nämlich darauf hingerichtet sein, einen Zweifel zu beseitigen, ob es sich (mit einer Sache) so verhält. Und in einer solchen theologischen Diskussion müssen unbedingt (die Argumente von) Autoritäten herangezogen werden, falls sie von denen akzeptiert werden, mit denen diskutiert wird. Wird zum Beispiel mit Juden diskutiert, muss man die Autorität des Alten Testamentes (als Argument) anführen. Wenn mit Manichäern, die das alte Testament verschmähen, muss man allein das Neue Testament als Autorität verwenden. Wenn aber mit Schismatikern, die das Alte und Neue Testament akzeptieren, aber nicht die Lehre unserer Heiligen, wie die Griechen, muss man mit ihnen mittels der Autorität des Alten oder Neuen Testamentes diskutieren, und der ihrer Lehrer, die sie selbst akzeptieren. Wenn sie aber keinerlei Autorität akzeptieren, muss man, um sie zu überzeugen, zu den Gründen der natürlichen Vernunft seine Zuflucht nehmen.
Aber eine (andere) Art von Diskussion ist die lehrhafte an den (universitären) Schulen, (die) nicht auf die Beseitigung eines Irrtums (gerichtet ist), sondern auf die Unterweisung der Zuhörer, damit sie zum Verständnis der Wahrheit geführt werden, auf die man bedacht ist. Und dabei muss man sich auf Vernunftgründe stützen, durch Forschungen die Wurzel der Wahrheit (freilegen), und von den vorgebrachten (Argumenten) wissen, auf welche Weise wahr ist, was (da) gesagt wird. Wenn sonst der Lehrer die Frage bloß durch (Berufung auf die) Autoritäten klärt, wird dem Zuhörer zwar eine Gewissheit vermittelt, dass es sich so verhält, aber er erwirbt weder Wissen noch Verständnis und geht ohne Inhalt davon.«
(Quodlibet IV Quaestio 9 Artikel 3; MÜ)
Interessant ist für mich besonders der letzte Abschnitt, da er perfekt das Selbstverständnis meiner jetzigen Arbeitsstätte wiedergibt, aber auch die Beobachtung, dass es sinnlos ist, gegenüber einem Gesprächspartner, für den die Bibel kein heiliger Text ist, sich auf sie als Argument zu berufen.
Will man wirklich alle mitreden lassen? (Dr. Martin Luther)
Dr. Martin Luther kommt hier nur indirekt zu Wort. Ich lasse Johannes Cochlaeus den Vortritt, einem der katholischen Widersacher Luthers. Dass er allenfalls als Epigone des großen Wittenbergers bekannt ist, zeigt ziemlich klar sein Problem.
»Bevor aber die Arbeit Emsers erschien, wurde auf wundersame Weise durch den Buchdruck das Neue Testament Luthers vervielfältigt, so dass sogar Schuster und Frauen und jeder beliebige Unwissende, die so gut es eben ging deutsche Buchstaben erlernt hatten, dieses Neue Testament wie die Quelle aller Wahrheit begierigst lasen, (also) alle die, die Lutheraner waren. Sie vertrauten das Gelesene oft dem Gedächtnis an, so dass sie das Buch (gleichsam) in der Brust mit sich trugen. Daraufhin maßten sie sich nach wenigen Monaten an, so gelehrt zu sein, dass sie sich nicht schämten, nicht nur mit Laien der katholischen Seite, sondern auch mit Priestern, Mönchen, ja sogar mit Magistern und Doktoren der heiligen Theologie über Glauben und Evangelium zu disputieren.« (Commentaria Ioannis Cochlaei, de actis et scriptis Martini Lutheri Saxonis, chronographice, ex ordine ab anno Domini 1517 usque ad annum 1546 (Ausgabe 1549, S. 55; MÜ)
Der Schock sitzt tief – auf einmal glauben alle, dass sie mitreden können. Das Internet hat diese Chance und dieses Problem noch einmal verstärkt. Jeder hat eine Meinung, aber nicht alle eine Ahnung. Dass es ein Problem ist, soll ein Wort Goethes aus seinem letzten Gespräch mit Eckermann – 11 Tage vor seinem Tod – belegen, das seinen Anfang mit einer Diskussion über den Bibelkanon nimmt, ein stolzes Bekenntnis Goethes zum Erbe der Reformation bringt und sich am Ende zur Frage der Religion generell weitet. Dabei sagt der Dichter:
»Auch das leidige protestantische Sektenwesen wird aufhören und mit ihm Haß und feindliches Ansehen zwischen Vater und Sohn, zwischen Bruder und Schwester.« (Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe, 11. März 1832)
Fazit
Diskussionen über Bibelauslegung sind noch am ehesten in einem internen Forum möglich und notwendig. Sollten die Diskussionspartner weltanschaulich unterschiedlichen Lagern entstammen, ist die entscheidende Frage, ob rationales Für und wider möglich ist? Sehr häufig wird Tertullian aber recht behalten:
Du wirst wenigstens nichts verlieren, außer vor Anstrengung die Stimme; du wirst nichts erreichen, außer Verdruss.
Fußnoten
1 Asma – das ist auch der griechische Titel Hohelieds in der LXX
2 Abraham Geiger war allerdings sehr skeptisch, was die Tragweite dieses Widerspruchs angeht. (Wiss. Zeitschrift für jüdische Theologie, 1844/2 S. 237 f.). Moritz Rahmer hat seinerseits Geiger den Ausspruch R. Joses am Ende seiner gegen Geiger gerichteten ‚Antikritik‘ vorgehalten (Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums, Heft 1869/11, S. 529.) Ob ihm bewußt war, dass er Geiger damit implizit zum בריבי adelte?
3 Die deutsche Thomas-Ausgabe übersetzt den Ausdruck prima pricipia als ‚oberste Denkgesetze‘, führt aber im Kommentar aus: »Wir haben im Deutschen keinen vollentsprechenden Ausdruck, der die Weite des lateinischen principium (= Anfang, Ursprung, Ausgang, oberstes Denk- und Seinsgesetz, Grundsatz usw.) wiedergibt. (Die deutsche Thomas Ausgabe, STh Band 1, S. 328)