Wo ist das Reich Gottes?

Im Sondergut des Lukas-Evangeliums bekommt Jesus einmal die Frage gestellt, wann die Königsherrschaft Gottes komme. Seine Antwort ist kryptisch: »Das Königtum Gottes kommt nicht in beobachtbarer Erscheinung. Auch wird man nicht sagen: Da – hier ist es! Oder – dort ist es! Das Königtum Gottes ist entos hymon.« (Lk 17,20-21; Ü. nach Fridolin Stier).

Ich habe die Pointe dieser Aussage bewusst erst einmal nicht übersetzt, sondern die Umschrift des griechischen Ausdrucks wiedergegeben. Was bedeutet dieses entos hymon?

1 Die traditionelle Antwort

In der Glossa ordinaria wird die Aussage Jesus so paraphrasiert:

Non poterit observari, quia regnum meum non est corporale, ut putatis, sed spirituale, quod fide iam incepit. (GO V, S. 932)

Man wird es nicht beobachten können, denn mein Königreich ist nicht äußerlich, wie ihr meint, sondern geistlich, zumal es durch den Glauben seinen Anfang nimmt. (MÜ)

In diesem Sinne bringt Thomas von Aquin (1225-1274) in seiner Catena aurea folgende Auslegungen zur Sprache:

Gregorius Nazianzenus. Vel forsitan regnum nobis insitum dicit inditam animabus nostris laetitiam per spiritum sanctum: ea enim est velut imago et arrha perennis laetitiae, qua in futuro saeculo sanctorum animae gaudent. Beda. Vel regnum Dei seipsum dicit intra illos positum, hoc est in cordibus eorum per fidem regnantem.

Gregor von Nanzianz (ca. 330-390): Oder vielleicht, das Königreich in uns besagt, dass Freude in unsere Seelen durch den Heiligen Geist eingepflanzt ist: denn die ist wie ein Bild und Unterpfand der immerwährenden Freude, die in der kommenden Welt die Seelen der Heiligen erfreuen wird. Beda Venerabilis (672-735): Oder er nennt sich selbst das Königreich Gottes, das sich unter ihnen befindet, das bedeutet, dass es in den Herzen durch den Glauben herrscht.

Dieser spirituellen Deutung folgt auch Martin Luther (1483-1546) in seinem Neuen Testament von 1522, wenn er verdeutscht: »das reych Gottis ist ynnwendig ynn euch.« Er liegt damit auf einer Linie mit der moralischen Auslegung des Nikolaus von Lyra (gestorben 1349) – quia donum gratiae est in mente – und der wirkmächtigen King James Version (1611), die »behold, the kingdom of God is within you« bietet.

Stützen kann sich diese Übersetzung vielleicht auf Mt 23,26, wo ein Pharisäer aufgefordert wird, das entos seines Trinkgefässes zu reinigen, damit auch sein Äußeres rein wird. Und doch finde ich diese verinnerlichte Spiritualisierung des Ausdrucks nicht wirklich überzeugend. Ist das Reich Gottes wirklich nur eine seelische Realität?

2 Neuzeitliche Übersetzungen

Ein Blick in gängige deutsche Übersetzungen zeigt eine erstaunliche Übereinstimmung: Das Reich Gottes ist …

Übersetzung entos hymon bedeutet:
REÜ mitten unter euch
Hoffnung für alle mitten unter euch
Luther 2017 mitten unter euch
Elberfelder mitten unter euch
Zürcher mitten unter euch
BigS mitten unter euch

Hier ist die individualistische und verinnerlichte Bedeutung aufgegeben, gleichzeitig bleibt aber weiterhin eher unklar, was Jesus bei Lukas denn wirklich damit sagen wollte. Oder ist diese Unklarheit vielleicht sogar gewollt?

Was für mich gegen diese einhellige Übersetzung spricht, ist, dass Lukas für den Ausdruck mitten unter jemand sein sonst einen ganz anderen Audruck verwendet. So heißt es über den Zwölfjährigen Jesus im Tempel, dass ihn seine Eltern en mésō der Lehrer fanden (Lk 2,46) – der Ausdruck entos wird von ihm hier nicht verwendet.

3 Antikes Verständnis

Exegetisches Bemühen wird es immer zum Ziel haben, das Verständnis des Ausdrucks entos hymon zur Abfassungszeit des Lukas-Evangeliums zu bestimmen. Hier kann uns ein Papyrus weiterhelfen, der in Oxyrhynchos/Ägypten gefunden wurde und dessen Abfassung sich auf Grund der am Anfang und am Ende des Schreibens genannten Angaben auf den Tag genau bestimmen läßt: 16. März 102. Das ist zwar eine Generation nach Lukas, aber zeitlich auf jeden Fall in der gleichen Epoche.

In dem Papyrus geht es um die Klage des Weingroßhändlers Apion gegen Berenike, die Witwe seines verstorbenen Geschäftspartners Pasion. Der für unsere Zwecke entscheidende Satz lautet:

ἥδε ἔχουσα τὸ φορτίον τοῦ οἴνου ἐντὸς αὑτῆς (P. Oxy. 2342; Zeile 7-8).

»Diese hat eine Ladung Wein entos autēs « – was sicher nicht bedeutet, dass dieser Wein in ihr oder unter ihr war. Es bedeutet, dass sie den Wein zu ihrer Verfügung hatte.1

Diese auf den ersten Blick ungewohnte Bedeutung wird von antiken Bibelauslegern unterstützt, die ich hier zu Wort kommen lassen will.

3.1 Origenes (185-253)

In seinem Kommentar zum Johannes-Evangelium kommt der große Alexandriner auf diese Aussage Jesu bei Lukas zu sprechen:

»ἀλλὰ τί λέγει ἡ γραφή; Ἐγγύς σου τὸ ῥῆμα σφόδρα ἐν τῷ στόματί σου, καὶ ἐν τῇ καρδίᾳ σου.« Τούτοις δὲ φιλανθρώπως ὁ Σωτὴρ ὑποδείκνυσι καὶ τὰ περὶ τῆς τοῦ θεοῦ βασιλείας, ἵνα μὴ ζητῶσιν αὐτὴν ἔξω ἑαυτῶν μηδὲ λέγωσιν· »᾿Ιδοὺ ὧδε, ἢ ἰδοὺ ἐκεῖ«· φησὶ γὰρ αὐτοῖς· »῾Η βασιλεία τοῦ θεοῦ ἐντὸς ὑμῶν ἐστίν«. καὶ ὅσον γε σώζομεν τὰ ἐνσπαρέντα ἡμῶν τῇ ψυχῇ τῆς ἀληθείας σπέρματα, καὶ τὰς ἀρχὰς αὐτῆς, οὐδέπω ἀπελήλυθεν ἀφ᾿ ἡμῶν ὁ λόγος. (Johannes-Kommentar XIX,3, 294; MPG XIV, 548)

»Sondern was sagt die Schrift? Sehr nahe ist dir das Wort in deinem Mund und in deinem Herzen«. (Paulus zitiert in Röm 10,8 die Tora: Dtn 30,14) Damit wollte der menschenfreundliche Erlöser auch auf die hinweisen, die zur Königsherrschaft Gottes gehören, dass sie sie nicht außerhalb von sich selbst suchen noch sagen sollen: »Siehe, hier (ist sie), oder siehe dort (ist sie)«; denn er erklärt ihnen: »Die Königsherrschaft Gottes steht euch zur Verfügung.« Und so lange wir die Samen der Wahrheit und ihre Prinzipien bewahren, die in unsere Seele ausgesät wurden, ist der Logos noch nicht von uns weggegangen. (MÜ)

Für Origenes ist das Reich Gottes uns anvertraut, so wie der Samen dem Acker zur Verfügung gestellt wurde. Er bringt die Aussage aus Lk 17,20-21 in Verbindung mit der berühmten Passage aus Dtn 30:

כִּי הַמִּצְוָה הַזֹּאת אֲשֶׁר אָנֹכִי מְצַוְּךָ הַיּוֹם לֹֽא־נִפְלֵאת הִוא מִמְּךָ וְלֹא רְחֹקָה הִֽוא׃

לֹא בַשָּׁמַיִם הִוא לֵאמֹר מִי יַעֲלֶה־לָּנוּ הַשָּׁמַיְמָה וְיִקָּחֶהָ לָּנוּ וְיַשְׁמִעֵנוּ אֹתָהּ וְנַעֲשֶֽׂנָּה׃

וְלֹֽא־מֵעֵבֶר לַיָּם הִוא לֵאמֹר מִי יַעֲבָר־לָנוּ אֶל־עֵבֶר הַיָּם וְיִקָּחֶהָ לָּנוּ וְיַשְׁמִעֵנוּ אֹתָהּ וְנַעֲשֶֽׂנָּה׃

כִּֽי־קָרוֹב אֵלֶיךָ הַדָּבָר מְאֹד בְּפִיךָ וּבִֽלְבָבְךָ לַעֲשֹׂתֽוֹ׃

Denn dieses Gebot, dass ich dir heute geboten habe, es ist für dich nicht schwer zu vollbringen und es ist nicht schwer zu fassen. Es ist nicht im Himmel, damit man sagen könnte: wer wird für uns in den Himmel hinaufsteigen und wird es uns bringen und wird es uns hören lassen, damit wir es tun? Und es ist auch nicht auf der anderen Seite des Meeres, damit man sagen könnte: wer fährt für uns zu der anderen Seite des Meeres und holt es uns und läßt es uns hören, damit wir es tun? Denn das Wort ist dir ganz nahe, in deinem Mund und in deinem Herzen, um es zu tun. (Dtn 30,11-14; MÜ)

3.2 Tertullian (gestorben ca. 220)

Ganz ähnlich – und ich meine unabhängig von Origenes – legt Tertullian den Ausdruck aus.

Non venit, inquit, regnum dei cum observatione, nec dicunt, Ecce hic, ecce illic: ecce enim regnum dei intra vos est. Quis non ita interpretabitur: Intra vos est, id est in manu, in potestate vestra, si audiatis, si faciatis dei praeceptum? Quodsi in praecepto est dei regnum, propone igitur contra, secundum nostras antitheses, Moysen, et una sententia est. Praeceptum, inquit, excelsum non est, nec longe a te. Non est in caelo, ut dicas, Quis ascendet in caelum et deponet nobis illud, et auditum illud faciemus? nec ultra mare est, ut dicas, Quis transfretabit et sumet illud nobis, et auditum illud faciemus? Prope te est verbum, in ore tuo, et in corde tuo, et in manibus tuis facere illud. Hoc erit, Non hic, nec illic; ecce enim intra vos est regnum dei. (Tertullian, Adv. Marcionem IV, 35)

»Die Königsherrschaft Gottes, sagt er, kommt nicht durch Beobachtung, damit man nicht sagt: siehe hier!, siehe dort! denn siehe, die Königsherrschaft Gottes ist unter euch. (Lk 17,20-21) Wer wird nicht so übersetzen: unter euch, das bedeutet in eurer Hand, in eurer Macht, wenn ihr hört und wenn ihr die Weisung Gottes tut? Wenn also die Königsherrschaft Gottes in der Weisung ist, dann halte dir dagegen – gemäß unseren Antithesen – Moses vor Augen und es ist eine Aussage. Die Weisung, sagt er, ist nicht erhaben, noch weit von dir. Sie ist nicht im Himmel, dass du sagen köntest: Wer steigt für uns in den Himmel hinauf und lässt sie zu uns herabgelangen, und wir werden das Gehörte tun? Noch ist sie jenseits des Meeres, das du sagen könntest: Wer wird für uns übersetzen und sie für uns an sich nehmen, und wir werden das Gehörte tun? Das Wort ist dir nahe, in deinem Ohr, und in deinem Herzen, und in deinen Händen, damit du es tust. (Dtn 30,11-14) Das wird bedeuten: Nicht hier, noch dort; siehe die Königsherrschaft Gottes ist unter euch. (MÜ)

Tertullian versteht das entos hymon also ganz im Sinne des Papyrus aus Oxyrhynchos und von Dtn 30.

3.3 Cyrill von Alexandria (ca. 375-443)

In seinem Lukas-Kommentar legt der Alexandriner den fraglichen Ausdruck so aus:

ἐντὸς γὰρ ὑμῶν ἐστι· τουτέστιν ἐν ταῖς ὑμετέραις προαιρέσεσι καὶ ἐν ἐξουσίᾳ κεῖται τὸ λαβεῖν αὐτήν· ἔξεστι γὰρ ἀνθρώπῳ παντὶ, τὴν εἰς τὸν Χριστὸν δικαίωσιν τὴν διὰ πίστεως δηλονότι καταπλουτήσαντι. (MPG LXXII, 841)

Denn es ist entos hymon: das bedeutet, es liegt in dem euch gehörenden Entschluss und der Freiheit, es zu ergreifen. Denn es ist jedem Menschen möglich, der in Christus gerechtfertigt und der durch den Glauben offenbar reich geworden ist. (MÜ)

Auch für Cyrill steht das Reich Gottes also zur Verfügung.

4 Zusammenfassung

Ich schließe mit einem Zitat von Colin H. Roberts, der bereits 1948 in der Harvard Theological Review schrieb:

Zu fragen, ob das Königreich äußerlich oder innerlich, ein geistiger oder ein gesellschaftlicher Zustand, ein Prozess oder ein katastrophales Ereignis ist, bedeutet (in diesem Zusammenhang), die falsche Frage zu stellen. (HThR XLI,1 S. 8; MÜ)

Ich meine, dass die antiken Ausleger ganz richtig den Zusammenhang mit Dtn 30 erkannt haben – und dass die Übersetzung von entos hymon, die dem zur Abfassungszeit des Lukas herrschenden Verständnis am Nächsten kommt, lautet: »Das Reich Gottes ist nicht da oder dort: es steht euch zur Verfügung – es ist in eurer Reichweite.«

Don’t dream it – do it.

Fußnote:

1

Erstaunlicherweise übersetzte Éva Jakab diesen Satz mit »diese hielt eine Lieferung Wein unter Verschluß« (in: Berenike vor Gericht, Tyche 16 (2001), S. 64). Ansonsten ist der Artikel – unbelastet von bibelgriechischen Diskussionen – eine sehr aufschlußreiche Darstellung der sozialen und juristischen Hintergründe der Auseinandersetzung um eine geschäftstüchtige und wohl auch selbstbewusste Frau aus dem antiken Ägypten.

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