Ich werfe hier nach der vorherigen Untersuchung einen Blick auf die lateinische Tradition ab dem 4. Jahrhundert, der einen erstaunlichen Befund bietet. Bei allen Autoren habe ich den Zeitpunkt angegeben, zu dem das jeweils zitierte Werk verfasst wurde.
Ambrosius (380-390)
Ambsosius zitiert die sechste Vater-unser Bitte in seinem Werk »De Sacramentis«, einer mit-stenographierten Predigtreihe an Taufkandidaten aus den Jahren 380-3901 mit diesem Wortlaut:
et ne nos patiaris induci in tentationem (V,4,18; MPL XVI, 450)
Zu Deutsch: »und lass es nicht zu, dass wir in Versuchung hineingeführt werden« – eine Fassung, die schon Cyprian von Karthago gebraucht hatte. Wir können also davon ausgehen, dass das Vater-unser im Mailänder Gottesdienst zur Zeit des Ambrosius so gebetet wurde.
Augustinus (392-396)
In seiner Rede über die Bergpredigt, die in der Zeitspanne zwischen 392 und 396 entstanden sein dürfte2, gibt A. die Bitte so wieder: »et ne nos inferas in tentationem, sed libera nos a malo«. (II,4,15) Etwas weiter unten führt er dazu aus:
Sexta petitio est: Et ne nos inferas in tentationem. Nonnulli codices habent inducas, quod tantundem valere arbitror; nam ex uno graeco quod dictum est εἰσενέγκῃς utrumque translatum est. Multi autem in precando ita dicunt: Ne nos patiaris induci in tentationem, exponentes videlicet, quomodo dictum sit inducas. (II,9,30)
»Die sechste Bitte ist: und bringe uns nicht in eine Versuchung. Nicht wenige Handschriften lesen führe, was ich für gleichbedeutend halte; denn beide [Begriffe] sind aus einem griechischen [Ausdruck], der εἰσενέγκῃς heißt, übersetzt worden. Aber viele sagen beim Gebet so: und lass es nicht zu, dass wir in Versuchung hineingeführt werden, womit sie offenbar erklären, was führe [uns nicht in Versuchung] bedeuten solle.« (MÜ)
Augustinus kennt also mehrere Varianten der sechsten Bitte und scheint das in keiner Weise als problematisch zu empfinden.
Hilarius von Poitiers (364-367)
Noch vor Ambrosius und Augustinus schrieb Hilarius von Poitiers in den Jahren 364-367 seinen Psalmen-Kommentar. In seiner Auslegung von Ps 118(119) kommt er bei der Auslegung des Verses Ps 118(119),8 auf die Vater-unser-Bitte zu sprechen:
me derelinquas usquequaque nimis. quod et in dominicae orationis ordine continetur, cum dicitur: non derelinquas nos in temptatione, quam sufferre non possumus. (CSEL XXII, S. 368-369)
» Verlass mich niemals völlig ganz und gar. Das ist in der Abfolge des Herren-Gebetes enthalten, wenn gesagt wird: verlasse uns nicht in einer Versuchung, die wir nicht ertragen können.« (MÜ)
Also wieder eine andere Variante der sechsten Bitte!
Hieronymus (410-416)
In seinem ausführlichen Ezechiel-Kommentar, den er im Zeitraum der Jahre 410-416 vollendet haben dürfte3, zitiert Hieronymus, wie zu seiner Zeit die sechste Vater-unser-Bitte gebetet wurde:
Sed quotidie in oratione dicentes: Ne inducas nos in tentationem, quam ferre non possumus. (Com. in Ezechielem, XIV,48,16; MPL XXV, 485)
»Sondern man sagt täglich beim Gebet: Und führe uns nicht in eine Versuchung, die wir nicht tragen können. « (MÜ)
Hieronymus verwendet also die gleiche Fassung wie Hilarius ein halbes Jahrhundert vor ihm. Diese Fassung ist nicht willkürlich, sondern durch das Apostelwort in 1 Kor 10,13 bedingt:
»Gott ist treu; er wird nicht zulassen, dass ihr über eure Kraft hinaus versucht werdet. Er wird euch mit der Versuchung auch einen Ausweg schaffen, sodass ihr sie bestehen könnt.« (REÜ)
Die Vetus Latina
In welcher Fassung fand sich die Bitte in den Lektionaren, die damals im lateinischen Gottesdienst verwendet wurden? Die Frage lässt sich relativ einfach beantworten, denn vor der Durchsetzung der Vulgata in der Karolinger-Zeit wurde die sog. alte lateinische Übersetzung, die Vetus Latina, gebraucht. Sie liest:
Et ne passus nos fueris induci in tentationem. Sed libera nos a malo.
»Du wirst nicht zulassen, dass wir in Versuchung geführt werden. Sondern befreie uns von dem Bösen.« (MÜ)
Fazit
Wenn heute über die Formulierung der Vater-unser Bitte diskutiert wird, kann man eigentlich in Kenntnis der Tradition mit Kohelet nur sagen: nichts Neues unter der Sonne (Koh 1,9). Dass das Vater-unser in unterschiedlichen Fassungen gebetet wird, war schon in der Antike der Normalfall – und es war auch schon so, bevor Papst Franziskus die Diskussion wieder neu angestossen hat. Bei einem internationalen Taizé-Treffen habe ich erlebt, dass alle in unterschiedlichen Sprachen gemeinsam das Herrengebet sprachen, aber als Franzosen, Spanier, Engländer, Italiener, Kroaten oder Polen aufhörten, beteten die deutschsprachigen Christen weiter: »Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit, in Ewigkeit. Amen.« Niemand nimmt daran im deutschen Sprachraum Anstoß, obwohl diese Erweiterung sicher nicht auf Jesus zurückgeht.
Fußnoten
Vgl. Charles Kannengiesser: Handbook of Patristic Exegesis. The Bible in Ancient Christianity S. 1055
Vgl. Kannengiesser, S. 1173 a.a.O
Vgl. Kannengiesser, S. 1098 a.a.O
Hilarius „von Poitiers“
Danke, ist berichtigt.