Und führe uns nicht in Versuchung?

Papst Franziskus hat in einem Interview ausdrücklich die deutsche Übersetzung der sechsten Bitte des Vater-unser kritisiert, weil Gott niemanden in Versuchung führe. Ich werfe daher einen genaueren Blick in die biblischen Aussagen zum Thema.

Das in der Logienquelle Q überlieferte Vater-unser enthält sowohl bei Matthäus als auch bei Lukas diese Bitte:

καὶ μὴ εἰσενέγκῃς ἡμᾶς εἰς πειρασμόν, ἀλλὰ ῥῦσαι ἡμᾶς ἀπὸ τοῦ πονηροῦ. (Mt 6,13; NA XXVIII)
καὶ μὴ εἰσενέγκῃς ἡμᾶς εἰς πειρασμόν. (Lk 11,4; NA XVIII)

Zu deutsch:

Und nicht führe/bringe uns hinein in den peirasmós, sondern bewahre/errette uns vor dem Bösen. (Mt)
Und nicht führe/bringe uns hinein in den peirasmós. (Lk)

Textkritischer Befund

Der Matthäus Text ist ohne Auffälligkeiten überliefert, etwas anders sieht es bei Lukas aus. Marcion las statt des ihm anstößigen Textes μὴ ἀφῇς ἡμᾶς εἰσενεχθῆναι (εἰς πειρασμόν) – lass nicht zu, dass wir (in den peirasmós) geführt werden. Der erste große Irrlehrer der Kirchengeschichte empfand die Formulierung also als anstößig, aber seine Version ist sicher sekundär. Die zweite Vershälfte ’sondern bewahre uns vor dem Bösen‘ aus der Matthäusfassung wird von etlichen Textzeugen nachgetragen, aber »verschiedene exzellente Textzeugen (…) widerstanden der Versuchung«1 dieser Anpassung.

Was bedeutet peirasmós?

Das ist die entscheidende Frage, und sie bedarf eines genaueren Blickes. Der Ausdruck πειρασμός (peirasmós) leitet sich von dem Verb πειράζω (peirázō) her, und dieses Verb bedeutet2: versuchen, experimentieren, einen Versuch machen, sich einer Überprüfung unterziehen, testen, erproben, versuchen – jemand zu verderben oder zu verführen.
Passiv: Getestet werden, Gegenstand eines Experimentes werden, versucht werden, Anlass einer Versuchung sein, (von einer Krankheit) angegriffen werden.

In diesem Sinne wird der Teufel mittels eines substantivierten Partizips in 1 Thess 3,5 als ὁ πειράζων (ho peirázon) – der, der auf die Probe stellt bezeichnet.

Peirasmós selbst bedeutet analog Test, Erfahrung, Experiment, Prüfung, Versuchung, Sorge, Bedenken. Mit anderen Worten, eindeutig ist das Wort von seiner Bedeutung her nicht.

Innerbiblische Parallelen

Ich nenne hier nur Stellen, in denen das Wort πειρασμός (peirasmós) ebenfalls vorkommt:

εἰ κτᾶσαι φίλον, ἐν πειρασμῷ κτῆσαι αὐτὸν καὶ μὴ ταχὺ ἐμπιστεύσῃς αὐτῷ. (Sir 6,7)
Wenn du einen Freund gewinnst, gewinne ihn durch Prüfung, und nicht schnell vertraue dich ihm an. (Sir 6,7; Ü: LXX deutsch)
Anmerkung: Hier ergäbe die Übersetzung »Versuchung« keinen Sinn.

ῷ φοβουμένῳ κύριον οὐκ ἀπαντήσει κακόν, ἀλλ᾽ ἐν πειρασμῷ καὶ πάλιν ἐξελεῖται. (Sir 33,1)
Wer den Herrn fürchtet, den wird kein Unheil treffen, selbst in einer Prüfung wird er wieder gerettet. (Sir 33,1; REÜ)

ὅτι παραγίνεται ἐνύπνιον ἐν πλήθει περισπασμοῦ καὶ φωνὴ ἄφρονος ἐν πλήθει λόγων. (Koh 5,2 LXX)
Denn es stellt sich ein Traum bei viel Beschäftigung ein und eine Torenstimme bei vielen Worten. (Koh 5,2: LXX deutsch)
Das Wort περισπασμοῦ (perispasmū) wird von vielen Handschriften als unser Wort πειρασμοῦ gelesen. Perispasmū würde ich im Unterschied zu der genannten Übersetzung als Zerstreuung bzw. Störung wiedergeben3.

Lukas, der das Wort ja ebenfalls in der Vaterunser-Bitte gebraucht hat, bringt es nochmals in der Apostelgeschichte, in der Abschiedsrede des Paulus in Milet
¹⁸ ὑμεῖς ἐπίστασθε, ἀπὸ πρώτης ἡμέρας ἀφ’ ἧς ἐπέβην εἰς τὴν Ἀσίαν, πῶς μεθ’ ὑμῶν τὸν πάντα χρόνον ἐγενόμην, ¹⁹ δουλεύων τῷ κυρίῳ μετὰ πάσης ταπεινοφροσύνης καὶ δακρύων καὶ πειρασμῶν τῶν συμβάντων μοι ἐν ταῖς ἐπιβουλαῖς τῶν Ἰουδαίων (Apg 20,18-19; NA XXVIII)
¹⁸ Ihr wisst, wie ich mich vom ersten Tag an, als ich in die Provinz Asia gekommen bin, die ganze Zeit bei euch verhalten habe, ¹⁹ wie ich dem Herrn gedient habe in aller Demut und mit Tränen und unter Anfechtungen, die mir durch die Nachstellungen der Juden widerfahren sind. (Apg 20,18-19; Ü: Luther 2017)

Der gleiche Ausdruck findet sich bei Lukas auch am Anfang seines Evangeliums:

καὶ ἀποκριθεὶς εἶπεν αὐτῷ ὁ Ἰησοῦς ὅτι εἴρηται· οὐκ ἐκπειράσεις κύριον τὸν θεόν σου.* Καὶ συντελέσας πάντα πειρασμὸν ὁ διάβολος ἀπέστη ἀπ’ αὐτοῦ ἄχρι καιροῦ. (Lk 4,12-13; NA XXVIII)
Und Jesus antwortete und sagte zu ihm, dass [in der Schrift ] gesagt wird: Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht auf die Probe stellen [Dtn 6,16 LXX] Und als der Teufel (ho diábolos) die ganze Erprobung beendet hatte, ließ er von ihm ab, bis zu (gelegener) Zeit. (Lk 4,12-13; MÜ)

Das hier gebotene Zitat aus Dtn 6,16 ist im Hebräischen ein Wortspiel:

לֹא תְנַסּוּ אֶת־יְהוָה אֱלֹהֵיכֶם כַּאֲשֶׁר נִסִּיתֶם בַּמַּסָּֽה׃

Du sollst/wirst nicht den HERRN, deinen Gott, auf die Probe stellen, so wie ihr ihn in Massah auf die Probe gestellt habt. (MÜ)
Das Wort מסה (Massah) wird dabei offensichtlich von dem Verb נסה abgeleitet4.

Μακάριος ἀνὴρ ὃς ὑπομένει πειρασμόν, ὅτι δόκιμος γενόμενος λήμψεται τὸν στέφανον τῆς ζωῆς ὃν ἐπηγγείλατο τοῖς ἀγαπῶσιν αὐτόν. μηδεὶς πειραζόμενος λεγέτω ὅτι ἀπὸ θεοῦ πειράζομαι· ὁ γὰρ θεὸς ἀπείραστός ἐστιν κακῶν, πειράζει δὲ αὐτὸς οὐδένα. ἕκαστος δὲ πειράζεται ὑπὸ τῆς ἰδίας ἐπιθυμίας ἐξελκόμενος καὶ δελεαζόμενος (Jak 1,12-14; NA VIII)
Glücklich ist, wer die Bewährungsproben besteht. Denn wer sich bewährt, wird den Siegeskranz des Lebens erhalten, den Gott denen versprochen hat, die Gott lieben. Wer eine Bewährungsprobe durchzustehen hat, behaupte nicht, diese Probe komme von Gott. Denn so wie Gott selbst nicht vom Bösen erprobt wird, so setzt Gott auch keinen Menschen einer Bewährungsprobe aus. Alle, die eine Bewährungsprobe bestehen müssen, haben es vielmehr mit ihren eigenen schlechten Antrieben zu tun. Diese sind es, die sie locken und ködern, damit sie versagen. (Jak 1,12-14; BigS)

Ἀγαπητοί, μὴ ξενίζεσθε τῇ ἐν ὑμῖν πυρώσει πρὸς πειρασμὸν ὑμῖν γινομένῃ ὡς ξένου ὑμῖν συμβαίνοντος (1 Petr 4,12; NA XVIII)
Geliebte, lasst euch durch das Feuer der Verfolgung unter euch, das euch zur Prüfung geschieht, nicht befremden, als begegne euch etwas Fremdes; (1 Petr 4,12; Ü: Elberfelder)

Fazit

Ich denke nach diesem kurzen Überblick, dass »Versuchung« wirklich eine schlechte Übersetzung für peirasmós ist. Weiters denke ich, dass der Papst sich mit seiner eingangs verlinkten Aussage auf 1 Thess 3,5 und vor allem auf Jak 1,12-14 berufen kann – allein in diesem Abschnitt kommt unser Wort (inklusive Verbform) sechs mal vor!

Wenn ich zudem das at-liche Bedeutungsfeld dazunehme, in dem das Wort sehr stark in Richtung auf die Probe stellen geht, komme ich zu dem Schluss: der Papst hat recht.

Wie wäre die Vater-unser-Bitte dann angemessen zu übersetzen?
Ich denke in Richtung: »und führe uns nicht in (=erspare uns) eine Bewährungsprobe«. Worin diese Erprobung besteht, sagt die Weiterführung der Bitte bei Matthäus: »sondern befreie uns von dem Bösen«. Vielleicht nicht wirklich befriedigend, aber möglicherweise ein Anlass, über diesen so vertrauten Text noch einmal nachzudenken.

Fortsetzung

Fußnoten:

1

Bruce M. Metzger: A Textual Commentary On The Greek New Testament², S. 132

2

Nach Franco Montanari: The Brill Dictionary of Ancient Greek (Brill 2015) S. 1603

3

Die gleiche Variante findet sich auch in Koh 3,10 LXX

4

Das selbe Verb wird in Gen 22,1 verwendet!

5 Gedanken zu „Und führe uns nicht in Versuchung?“

  1. Das Vaterunser bete ich schon lange:
    …und fuehre uns aus der Versuchung und bewahre uns vor dem Boesen…

    So hab ich das schon lange ( fuer mich persoenlich) abgewandelt und freue mich ueber die Worte unseres Papst Franziskus.

  2. Während ich Ihren Beitrag wie immer mit viel Gewinn gelesen habe, scheinen mir die Standpunkte auf den ersten Blick aber doch nicht ganz gleich zu sein. Der Vorschlag von Papst Franziskus scheint doch eher das „εἰσενέγκῃς ἡμᾶς εἰς“ zu betreffen? Ihre Lösung wirkt da etwas eleganter, da es am „εἰς“ wohl wenig zu deuteln gibt.

    1. Danke für Ihren Kommentar.
      Sie haben grundsätzlich recht, ich habe mich mehr auf das Bedeutungsspektrum von πειρασμός konzentriert.
      Aber am grundsätzlichen Befund ändert es nichts – dass die gängige deutsche Fassung nicht wirklich ideal ist …

  3. die Übersetzung „und führe uns nicht in Versuchung“ halte ich für äußerst unglücklich.
    Der Papst hat Recht und ich weiß nicht, weshalb die Bischöfe diese Worte nicht korrigieren wollen.
    Ich bete schon jahrelang:“ und führe uns in der Versuchung“. Das macht meines erachtens Sinn.

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