Wen ließ Lukas das Magnificat sprechen?

»Was soll diese Frage?« – wird wohl die erste Reaktion beim Lesen sein. »Das Magnificat ist der Lobgesang Mariens und wird als solcher tagtäglich in der Liturgie der Kirche beim Abendgebet rezitiert«. Trotzdem lohnt sich die Rückfrage.

Der textkritische Befund:

Werfen wir einen Blick in die kritische Ausgabe des NT, dort findet sich bei Lk 1,46 folgende Angabe:
Καὶ εἶπεν ˹ Μαριάμ·
Und ˹ Maria sprach:

Das Zeichen ˹ bedeutet: »Das nachfolgende Wort wird in einem Teil der Überlieferung durch ein anderes (oder mehrere) ersetzt.« 1 Im kritischen Apparat findet sich dann folgende Erläuterung dazu:
46 ˹ Elisabeth a b l; Irlat Orlat.mss Nic ¦ [- comm cj]
Was bedeutet das?

In Lk 1,46 findet sich statt »Und Maria sprach« die Lesart »Und Elisabeth sprach« in folgenden lateinischen Evangelien-Handschriften: dem Codex aus Vercelli (4. Jh.), dem Codex aus Verona (5. Jh.), sowie einem Codex aus dem 7. Jh., der sich heute in der Berliner Staatsbibliothek befindet.

Zusätzlich findet sich die Lesart »Und Elisabeth sprach« in Lk 1,46 bei lateinischen Ausgaben der griechischen Kirchenväter Irenäus von Lyon (ca. 140 – 200 n. Chr.) und Origenes (gestorben 254 n. Chr.), bei Origenes ist sie sogar in vielen Handschriften bezeugt. Ein weiterer lateinischer Kirchenvater als Textzeuge dieser Lesart ist Nicetas von Remesiana (heute Serbien), gestorben 414 n. Chr.
Über diese antiken Textzeugen hinaus verweist der Apparat dann noch auf moderne Kommentare, die weitere Angaben erschließen (lateinisch: conjecerunt).

Aufgabe

Mit diesen Angaben haben wir einige nützliche Hinweise bekommen, leider sagt der Apparat aber nicht, um welche Texte von Irenäus, Origenes und Nicetas es sich handelt, bzw. welche heutigen Kommentare man denn zur Rate ziehen möge. Diesen Lücken will ich jetzt hier schließen.

Die lateinischen Handschriften

Die genannten lateinischen Evangelien-Handschriften wiegen vom Befund her nicht leicht, immerhin stammt der Codex aus Vercelli aus dem 4. Jh. und ist damit ein sehr alter Textzeuge. Auffällig ist das Fehlen griechischer Evangelien-Handschriften mit Elisabeth als Sprecherin des Magnificats.

Die griechischen Väter

»Neben den Handschriften kommen den Zitaten aus dem Neuen Testament bei den Kirchenvätern, sei es den griechischen, sei es bei denen aus anderen Sprachbereichen, eine besondere, oft unterschätzte, Bedeutung zu.« 2 Beginnen wir mit Irenäus von Lyon (ca. 140 – ca. 200 n. Chr.): in seinem Hauptwerk »Gegen die Häresien« wird zweimal ausgesagt, wer das Magnificat angestimmt hat: in III,10,2 ist es Maria, in IV,7,1 ist es Elisabeth. 3 Harnack hat argumentiert, dass Irenäus das Magnificat Maria zuschrieb, aber der Kopist in IV,7,1 Elisabeth eintrug, weil es die ihm geläufige Textfassung war. 4. Dieses Phänomen ist bei den Belegstellen aus den Kirchenvätern weit verbreitet. 5

Viel besser dokumentiert ist die Lesart bei Origenes (ca. 185 – 254 n. Chr.), bzw. in der lateinischen Übersetzung seiner Homilien zum Lukasevangelium, die ausgerechnet Hieronymus angefertigt hat. 6 Dort lesen wir zu Lk 1,46:

Invenitur beata Maria, sicut in aliquantis exemplaribus repperimus, prophetare. Non enim ignoramus, quod secundum alios codices et haec verba Elizabet vaticinetur. 7
»Wir haben in einer ziemlich großen Menge von Kopien gefunden, dass (dort) Maria als prophetisch sprechend erscheint. Denn wir wissen wohl, dass nach anderen Handschriften Elisabeth diese Worte geweissagt hat.« (MÜ)

Tertullian

Der afrikanische Kirchenvater (ca. 160 -220 n. Chr.) sieht Maria als Sprecherin des Magnificat und schreibt in seinem Buch »De Anima«:
Exsultat Elizabeth, Johannes intus impulerat; glorificat dominum Maria. Christus intus instinxerat.
»Elisabeth frohlockt, von innen hatte Johannes sie veranlasst. Maria preist den Herrn, begeistert hatte sie Christus von innen.« (Tertullia, De Anima XVI, 4; MÜ)

Heutige Kommentare

Heinz Schürmann wiegelt in Herders theologischem Kommentar zum NT ab: »Auf Grund des Zeugnisses einiger Altlateiner ist (…) oft wiederholt und widerlegt worden, im ursprünglichen Text des Luk oder vorluk sei die mit prophetischem Geist erfüllte (vgl. V 41) Elisabeth die Sängerin des Magnificat gewesen.« 8 Seiner Meinung nach »wäre das Lied im Munde der Elisabeth – vgl. bes. V 48b – eine nicht leicht erträgliche Übertreibung«. 9

Vers 48b lautet: ἰδοὺ γὰρ ἀπὸ τοῦ νῦν μακαριοῦσίν με πᾶσαι αἱ γενεαίSiehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter. Dazu ist allerdings zu beachten, dass Lea in Gen 30,13 nach der Geburt Assers in der LXX sagt: καὶ εἶπεν λεια μακαρία ἐγώ ὅτι μακαρίζουσίν με αἱ γυναῖκεςUnd Lea sprach: Ich bin selig, denn die Frauen preisen mich selig. Und dabei hatte sie das Kind nicht einmal selbst geboren …

Schürmann bringt eine Reihe von Argumenten für Maria als ursprüngliche Sängerin des Magnificat bei Lukas, aber keinerlei Erklärung für die doch nicht eben schlecht bezeugte Lesart mit Elisabeth.

François Bovon ist im EKK zum Lukasevangelium hier auskunftsfreudiger: Er schlägt als Erklärung vor, dass das Magnificat vielleicht bei einem sehr alten liturgischen Fest zur Ehren von Zacharias und Elisabeth letzterer zugeschrieben wurde, so dass Zacharias das Benedictus (Lk 1,68-79) und Elisabeth das Magnificat zugewiesen wurde. Er hält Maria als Sängerin des Magnificat für ursprünglich, spricht aber auch von »diesem großen textkritischen Problem«. 10

Fazit

Die Lesart »Elisabeth« ist meiner Meinung nach zu gut bezeugt, um sie einfach zu ignorieren. Die Lesart mit Maria als Sängerin des Magnificat ist aber eindeutig besser belegt. Harnack meinte, dass der Lukastext des Magnificat ursprünglich einfach mit καὶ εἶπεν begann: und sie sprach. Die Zuschreibung an Maria oder Elisabeth sei dann Auslegung gewesen. Wie auch immer: die besser bezeugte Lesart hat es in unsere heutigen Bibelausgaben geschafft.

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  1. Nestle-Aland: Novum Testamentum Graece, Einführung S. 7*
  2. S. 25*, a.a.o.
  3. Norbert Brox meint in seiner Ausgabe dazu: »Möglicherweise beruht die Differenz auf einem Versehen des IRENÄUS.« Fontes Christiani, 8/3, S. 84. Fn. 24. In der Fußnote zu IV, 7, 1 liest man dann aber: »dass die Variante „Elisabeth“ in 4, 7, 1 textgeschichtlich sehr alt ist (die armenische und beide lateinischen Übersetzungen stimmen, obwohl sie unabhängig voneinander sind, in dieser lectio difficilior „Elisabeth“ überein und hatten folglich wohl die dieselbe griechische Vorlage« 8/4 S. 56-57, Fn. 41 a.a.o.
  4. Adolf Harnack: Das Magnificat der Elisabet (Luc. 1, 46—55) nebst einigen Bemerkungen zu Luc. 1 und 2., S. 539-540
  5. »Hier ist im allgemeinen das Lemma – der ausgelegte Text – vorangestellt, spätere Abschreiber pflegen diesen nach den bei ihnen selbst in Gebrauch stehenden Handschriften – und nicht nach der Vorlage – wiederzugeben.« Nestle-Aland, S. 25*
  6. Über die niederen Beweggründe dieser Übersetzung informiert Hermann-Josef Sieben in Fontes Christiani 4/1 S. 34-37; vgl. auch meinen Aufsatz S. 8 f.
  7. Fontes Christiani, 4/1 S. 108
  8. HThKNT, Das Lukasevangelium. Erster Teil S. 72
  9. S. 73, ebenda; vgl. die Stellungnahme der päpstlichen Bibelkommission vom 26.6.1912 – DHS 3571.
  10. François Bovon, EKK III/1, S. 87, Fn 47.

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