Wann beginnt menschliches Leben?

Dass die Auslegung uralter Texte mitten in die Fragen der Gegenwart führt, ist die Grundannahme dieses Blogs – sehr oft bin ich selbst überrascht von den Verästelungen, die es da zu entdecken gibt. Ein prägnantes Beispiel gibt heute wieder einmal die Übersetzung der Hebräischen Bibel ins Griechische.

Die Tora

In Ex 21,22-23 regelt die Tora, was geschehen soll, wenn Männer eine schwangere Frau verletzen (über die grundlegende Thematik des ganzen Abschnitts habe ich schon einmal hier geschrieben). Die hebräische Bibel führt dazu aus:

»Wenn Männer miteinander raufen und dabei eine schwangere Frau treffen, sodass sie eine Fehlgeburt hat, ohne dass ein weiterer Schaden entsteht, dann soll der Täter eine Buße zahlen, die ihm der Ehemann der Frau auferlegt; er kann die Zahlung nach dem Urteil von Schiedsrichtern leisten. Ist weiterer Schaden entstanden, dann musst du geben: Leben für Leben« ()

Die Septuaginta

Was aber hat die Septuaginta aus dem Text gemacht? Hier ist zu lesen: »Wenn aber zwei Männer raufen und eine schwangere Frau stoßen und dabei ihr noch nicht ebenbildliches Kind abgeht, so soll er mit einer Geldstrafe bestraft werden; was der Mann der Frau (ihm) auferlegt, soll er nach rechtlicher Festlegung geben. Wenn es aber ausgebildet ist, so soll er Leben für Leben geben.« (Ü: Septuaginta Deutsch)

Augustinus

Augustinus las in seiner Vetus Latina Übersetzung, die sich ja auf die LXX stützt, daher von einem infans nondum formatus, einem noch nicht gestalteten oder ausgebildetem Kind. In seinen Untersuchungen zu den ersten Sieben Büchern der Bibel (griechisch: Heptateuch) schreibt er zu diesen Versen: »Hier wird gewöhnlich die Frage der Seele erörtert, ob das, was nicht ausgebildet ist, überhaupt als beseelt verstanden werden kann und es deshalb kein Mord sei, weil es nicht als überprüft behauptet werden kann, ob es bis jetzt keine Seele gehabt hat.“ (2. Buch, 80. MÜ) 1

Hugo de St. Victor

Sein geistiger Schüler Hugo von St. Victor († 1141) zitiert im Zusammenhang mit der Frage nach der Seele diese Exodus Stelle ebenfalls nach der LXX. Ihn interessiert, wann der Mensch seine Seele bekommt – und Hugo zieht aus den ihm vorliegenden biblischen Bestimmungen folgende Konsequenz:

»Wenn also nur bei einer gestalteten Fehlgeburt befohlen wird, die Seele für die Seele herzugeben, was wird dadurch anderes gezeigt, als dass in dem, was noch nicht gestaltet ist, die Seele noch nicht ist?« (De Sacramentis Christianae Fidei VII, 30; Ü: Peter Knauer). Auf die Rückfrage, wie ein unbeseelter Körper denn im Mutterleib leben könne, verweist Hugo auf die Pflanzen …

Thomas von Aquin

Thomas von Aquin († 1274) wird diesen Gedanken aufgreifen. Er sagt in seiner Summa theologica: »Die Leibesfrucht [=der Embryo] hat zuerst eine Seele, die nur sinnlich ist [wie eine Pflanze]. Wenn diese abgelegt ist, kommt eine vollkommenere Seele, die zugleich sinnlich und verstandesbegabt ist.« (ST 76,3 zu 2). An anderer Stelle spricht Thomas davon, dass der menschliche Embryo zuerst ein pflanzlich/vegetatives und dann ein tierisches Stadium durchlaufe, bevor ihm die Vernunftseele eingesenkt werde (SCG 89).

Papst Innozenz XI.

In der Neuzeit wurden diese – auf der LXX-Übersetzung und antiken Vorstellungen zur Entwicklung des Kindes im Mutterleib beruhenden – Überlegungen zu einem Problem. Papst Innozenz XI. verurteilte 1679 die Auffassung, man könne bei einer Abtreibung wegen der noch nicht erfolgten „Beseelung“ des Fötus nicht von Tötung menschlichen Lebens sprechen (DH 2134+2135).

Der Papst scheint geahnt zu haben, was kommen würde – und damit sind wir in der Gegenwart: Am 24. August 2008 argumentierte Nancy Pelosi, die damalige Sprecherin des nordamerikanischen Repräsentantenhauses – die in der Abtreibungsfrage als Katholikin eine »pro choice« Haltung einnimmt – dahingehend, dass die kirchliche Tradition in der Frage nach dem Beginn des menschlichen Lebens nicht eindeutig sei.

Nancy Pelosi

Auf wütende Proteste der nordamerikanischen Bischöfe hin berief sich Frau Pelosi dann auf Augustinus und seine Auslegung der LXX-Fassung von Ex 20,21-22. Der Theologe Joseph A. Komonchak hat in seinem Blogbeitrag zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass sich dieser Augustinus Text nicht wirklich als Zeuge eignet, denn der Kirchenvater führt an gleicher Stelle aus:

»Denn die so wichtige Frage nach der Seele darf nicht überstürzt behandelt werden durch die Unbesonnenheit einer nicht ausdiskutierten Meinung.« (MÜ) 2

Und auch Hugo ist bei seinen Spekulationen vorsichtig, er schließt den Abschnitt mit den Worten: »Aber wenn wir nun die verborgenen Urteile Gottes mit der Vernunft nicht begreifen können, dürfen wir doch zur Lösung von Zweifeln keine anderen zweifelhaften Dinge behaupten.«

Und jetzt?

Aus der Perspektive der biblischen Auslegung heraus bevorzuge ich ein Menschenbild, das nicht darauf besteht, dass die Ebenbildlichkeit des Menschen auf seiner Vernunftseele beruhe. »Zu sagen: Ich habe eine Seele, heißt: Gott hat mich nicht nur als Wesen, sondern als Person geschaffen und in eine nicht mehr endende Beziehung zu ihm gerufen.« (Youcat, Nr. 63). Daher ist für mich »die Seele« unsterblich, weil Gott diese personale Beziehung mit meinem Tod nicht aufgibt (darauf hoffe ich!).

Aber wann beginnt diese Beziehung? Ich denke, dass es gute Gründe für die katholische Position gibt: Von Anfang an.

Fortsetzung

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  1. Hic de anima quaestio solet agitari, utrum quod formatum non est, ne animatum quidem possit intellegi, et ideo non sit homicidium, quia nec examinatum dici potest, si adhuc animam non habebat.
  2. quoniam magna de anima quaestio non est praecipitanda indiscussae temeritate sententiae

2 Gedanken zu „Wann beginnt menschliches Leben?“

  1. Von Anfang an? Das bedeutet eine Zeugung zu Dritt. Das bedeutet weiter einen Schöpfungs-Automatismus. Mit der Konzeption fügt Gott automatisch eine Seele hinzu, egal ob eine Nidation stattfindet oder nicht. Ich halte diesen Automatismus für eine magische Vorstellung. Da ist Thomas v. Aquin einleuchtender.
    Es gibt keine biblische Offenbarung zu dieser Frage. Niemand hat Gott dazu befragen können. Das erstaunt umsomehr, als es sich doch um einen zentralen Aspekt der Schöpfung handelt. Nach Matth. 18,18 „men, ich sage euch: Alles, was ihr auf Erden binden werdet, das wird auch im Himmel gebunden sein, und alles, was ihr auf Erden lösen werdet, das wird auch im Himmel gelöst sein.“ ist es in unsere Hand gelegt, wann Gott dem Fötus die Seele einstiftet.
    Das „von Anfang an“ scheint mir dem Bestreben geschuldet zu sein, auf jeden Fall auf der sicheren Seite zu liegen – also eine Form der „Gottesangst“.

    1. Mt 18,18 wird von Ihnen in einem Sinn ausgelegt, den der Text nicht hergibt. Es geht vom Kontext her um den Umgang mit Schuld in der Gemeinde, nicht um die theologische Festlegung biologischer Aussagen. Wieso ist es Ausdruck von Gottesangst, wenn ein Mensch sich vom Anfang seiner Existenz her als von Gott gewollt versteht? „Größenwahn“ würde ich ja verstehen – aber Angst?

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