Wann beginnt menschliches Leben? II

Nochmals zu der Frage, die ich bereits hier behandelt habe. Ich möchte dabei wieder auf Thomas zurückkommen. In seinem Sentenzenkommentar vertritt der Aquinate die Meinung, dass der menschliche Fötus erst nach 40 Tagen Schwangerschaft eine Vernunftseele empfange, falls es sich um ein männliches Kind handelt (!). Bei einem weiblichen Säugling geht er von einer Frist von bis zu 90 Tagen aus. (Super Sent., lib. 3 d. 3 q. 5 a. 2 co.Wenn man sich nun fragt, wie Thomas auf diese Zeitangaben kommt, so liest man immer wieder als Antwort, er habe das von Aristoteles. Allerdings ist es mir nicht gelungen, eine entsprechende Aussage des griechischen Philosophen auszumachen. Auch die Verweisstelle, die Thomas selbst angibt, hat mir da nicht weitergeholfen.

Ein merkwürdiger Vers

Bemerkenswerter finde ich den Vers, den der doctor angelicus in diesem Zusammenhang zitiert. Er gibt seinen Wissensstand über die Entwicklung des Embryos wieder. Der Dominikaner Joris Vansteenkiste hat nachgewiesen (in diesem Buch auf S. 80), dass er auch von Alexander von Hales und von Albertus Magnus verwendet wurde:

»Sex in lacte dies, tres sunt in sanguine terni
bis seni carnem, ter seni membra figurant.«

»Sechs Tage lang wie Milch, wie Blut drei Tage Mal drei,
Zwei Tage Mal sechs: wie Fleisch; drei Tage Mal sechs formen die Glieder.« (MÜ)

Es ist meiner Ansicht nach ziemlich eindeutig, dass Thomas hier einfach die allgemeine Anschauung seiner Zeit wiedergibt, die unter anderem auch meinte, dass die Zeugung eines weiblichen Kindes am schädlichen Einfluss des trocknenden Südwinds liege (Sth I 99,2 ad 2).

Dogmatische Folgen

Worauf ich eigentlich hinaus will: Diese verquere Anthropologie hat auch Folgen für die Theologie des Thomas, zum Beispiel seine Dogmatik. Denn die von ihm angenommene Beseelung des weiblichen Fötus erst 90 Tage nach der Zeugung ist einer der Gründe, dass Thomas das am 8. Dezember 1854 (also 580 Jahre nach seinem Tod!) definierte Dogma von der ohne Erbschuld empfangenen Jungfrau Maria (DH 2803) ablehnte.

Thomas diskutiert die Frage unter der zu widerlegenden These: »Die selige Jungfrau ist vor der Beseelung geheiligt worden« (Sth III 27,2). Sein entscheidendes Argument bringt er im corpus articuli:

»An eine Heiligung der allerseligsten Jungfrau vor ihrer Beseelung kann aus einem zweifachen Grunde nicht gedacht werden: Erstens, weil die Heiligung, von der wir sprechen, nichts anderes ist als Reinigung von der Erbsünde. (…) Eine Schuld vermag aber nur durch Gnade abgewaschen zu werden, die nur von einem vernunftbegabten Geschöpfe empfangen werden kann. Daher ist die allerseligste Jungfrau vor der Eingießung der Vernunftseele (anima rationale) nicht geheiligt worden.

Zweitens kann sich nur ein vernunftbegabtes Geschöpf eine Schuld zuziehen; denn vor der Eingießung der Vernunftseele verfällt das keimende Leben keiner Schuld. Und so hätte die allerseligste Jungfrau niemals die Makel der Erbsünde zugezogen, wenn sie auf irgendeine Weise vor ihrer Beseelung geheiligt worden wäre. Dann aber hätte sie auch nicht der Erlösung und des Heiles durch Christus bedurft (…). Darum bleibt kein anderer Ausweg, als dass sich die Heiligung der allerseligsten Jungfrau nach ihrer Beseelung vollzog.« (Ü: Deutsche Thomasausgabe)

Mit anderen Worten: Für Thomas war Maria zum Zeitpunkt ihrer Zeugung noch nicht mit einer Vernunftseele ausgestattet – die bekam sie als Mädchen erst neunzig Tage später – daher konnte sich die Heiligung erst im Laufe der weiteren Schwangerschaft ereignen. Wenn man so will: eine unbefleckte Geburt, aber keine unbefleckte Empfängnis.

Übrigens: Ich habe gezeigt, dass die Theologie des Thomas in einer ähnlichen Frage auch stärker sein konnte als seine Anthropologie. Eine aufschlussreiche Aufstellung der (unsystematischen!) Aussagen des Thomas zur Frage der Beseelung des menschlichen Embryos findet sich in diesem Buch von Paul Richter.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert