Urgeschichte I

Angesichts der Schöpfungserzählungen der Bibel – sie hat gleich zu Beginn zwei Versionen zu bieten – stellt sich für den modernen Menschen die Frage: Schöpfung oder Evolution? Ein genauerer Blick auf den biblischen Text macht deutlich, dass diese Alternative ungefähr so sinnvoll ist, wie wenn ich den Fahrer eines Elektrofahrzeuges vor die Wahl stelle: Benzin oder Diesel? Gen 1 hat einen ganz anderen Antrieb.

Die schönste Erklärung dieses Textes habe ich bei Norbert Lohfink gefunden. Er sieht den Schlüssel zum Verständnis in dem Bild des Tempels, der hier errichtet wird. In der Antike ist der Tempel ein Abbild des Kosmos – und Gen 1 schildert detailliert, wie in das dunkle Chaos des Anfangs Licht gebracht wird (1. Tag). In diese Urflut setzt Gott am zweite Tag einen rakija – der Ausdruck leitet sich von einer Verbwurzel ab, die für eine Schmiedetechnik gebraucht wird, bei der Metallplatten breit getrieben werden (vgl. Ex 39,2;  Num 17,4). Zunz übersetzt ihn mit »Ausdehnung«, die Vulgata hat »firmamentum«. Am besten stellt man sich diesen rakija als Dach des Hauses vor, das hier gebaut wird.

Am dritten Tag wird der Boden des Hauses trocken gelegt und mit fruchtbringenden Pflanzen geschmückt. Erst  am vierten Tag werden Sonne, Mond und Sterne an der Decke des Hauses angebracht – spätestens jetzt sollte klar sein, dass wir es nicht mit einer naturwissenschaftlichen Beschreibung zu tun haben, denn das Licht wurde bereits am ersten Tag erschaffen.

Am fünften Tag wird das Wasser und der Himmel mit Leben erfüllt, am sechsten Tag der Boden. Mit anderen Worten: das Haus wird eingerichtet und geschmückt. Was ihm fehlt, um ein vollständiger Tempel zu sein, ist sein tsælæm – seine Gottesstatue, also der Kultgegenstand, der auf die Gegenwart des Gottes im Tempel verweist. Und dieser tsælæm, den der Erbauer des Tempels bereitstellt, ist der MenschWörtlich übersetze ich den entsprechenden Vers so: »Und es schuf Gott (elohim) den Menschen (ha’adam) zu seinem Bild (tsælæm) – zum Bild Gottes schuf er ihn. Männlich und weiblich schuf er sie.« (Gen 1,27)

Am Ende dieser Erzählung steht als eigentlich angezielter Höhepunkt die Ruhe des Schabbat – Gen 2,1-3. Bemerkenswert: die Erzählung von der Erschaffung des Menschen differenziert noch nicht zwischen Mann und Frau (im Sinne von Adam und Eva), davon wird erst der zweite, nun folgende Abschnitt erzählen. Den Menschen gibt es hier als männlich und weiblich – nicht als Mann und Frau – und so übersetzten es auch LXX und Vulgata (masculum et feminam creavit eos), und so wird die Stelle von Jesus und Paulus zitiert (Mt 19,4; Gal 3,28; die EÜ übersetzt konsequent falsch: Mann und Frau).

Eine weitere Konsequenz dieser Lesart: die Gottesebenbildlichkeit wird in diesem Kontext ganz anders zu verstehen sein. Der Mensch sieht eben nicht aus wie Gott – aber jeder Mensch verweist über sich hinaus auf den, der ihn geschaffen hat.

Fortsetzung

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