Konsonantenkontinuum und Kürbispflanzen

Unter diesem Titel zunächst rätselhaften Titel habe ich beim Basiskurs Altes Testament eine Einheit gestaltet, die auf zwei wesentliche Eigenheiten des Bibeltextes aufmerksam will.  Erstens: der Text der Hebräischen Bibel wurde ursprünglich als reines Konsonantenkontinuum überliefert, das bedeutet: ohne Vokale, ohne Satzzeichen und in den ältesten Textzeugen sogar ohne Abstände zwischen den Wörtern. Mit anderen Worten: der heutige Text der „Biblica Hebraica Stuttgartensia“ ist nicht der Urtext, sondern bereits Interpretation. Im Bavli wird das schön bei der Auslegung von Neh 8,8 zum Ausdruck gebracht.

In Neh 8 geht es um die Verlesung der Tora durch Esra und die Leviten vor dem gesamten Volk. Die Rabbinen dazu: »Rabbi Iqa b. Abin sagte nämlich im Namen Rabbi Hananéls im Namen Rabhs: Es heisst: »Und sie lasen in dem Buch in der Tora G*ttes, deutlich, und sie gaben den Sinn und sie brachten sie dazu, das Gelesene zu verstehen« (Neh 8,8). Und sie lasen in dem Buch in der Tora G*ttes, das bedeutet den geschriebenen Text; deutlich, das ist das Targum [Übersetzung]; und sie gaben den Sinn, das hat Bezug zu der Einteilung in Verse; und sie brachten sie dazu, das Gelesene zu verstehen; das bedeutet die Punktations-Zeichen, und manche Rabbis sagen, das ist der Masoret [also die Angaben über die Schreib- und Lesarten des Bibeltextes – der masoretische Text]. (bNedarim, 37 B)

Zweitens: zwischen der Septuaginta und dem hebräischen Text der Bibel gibt es signifikante Unterschiede. Ein fast dramatisches Beispiel hat der Briefwechsel zwischen Hieronymus und Augustinus bewahrt. Augustinus war gegen die neue Übersetzung des Hieronymus aus dem Hebräischen, da das NT nur die Septuaginta zitiere (siehe diesen Beitrag). Was in der alten Kirche passieren konnte, wenn ein Bischof in seiner Gemeinde statt der gewohnten Vetus Latina (der alten lateinischen Übersetzung) die damals neue Vulgata des Hieronymus verwendete, beschrieb Augustinus so:

»Als zum Beispiel einer unserer bischöflichen Mitbrüder den Gebrauch deiner Übersetzung in der ihm unterstellten Kirche eingeführt hatte, da stiess man sich an einer Stelle im Propheten Jona, die von dir ganz anders gegeben war, als sie sich in den Sinn und das Gedächtnis aller eingegraben hatte und als sie so viele Zeiten hindurch gesungen worden war. Es entstand ein grosser Aufruhr unter dem Volke, besonders da die Griechen Einsprache erhoben und verleumderisch über Fälschung schrieen; daher sah sich der Bischof — es war in der Stadt Oea [=Tripolis] — gezwungen, die in der Stadt wohnenden Juden zum Zeugnisse aufzufordern. Sie aber antworteten aus Unwissenheit oder Bosheit, in den hebräischen Handschriften finde sich das gleiche, was auch die griechischen und lateinischen enthielten und aussprächen. Was weiter? Der Mann war gezwungen, sich zu verbessern, als hätte er einen Fehler begangen, da er, einer grossen Gefahr entgangen, nicht ohne Volk bleiben wollte«. (Brief 71 an Hieronymus)

Aus dem Antwortschreiben des Hieronymus wissen wir, worum es ging: sass Jona am Ende seines Buches unter einer Kürbisstaude (so las die Septuaginta und daher auch die Vetus Latina in Jon 4,6 ff.) oder unter einem Efeu – so hatte Hieronymus in seiner Vulgata verdolmetscht. Mit anderen Worten: hier ging es nicht nur um die Frage, ob die Übersetzung einer Übersetzung (also die Vetus Latina) besser sein konnte als die Neuübersetzung der Vulgata. Diese Problematik hatte (und hat) auch eine eminent pastorale Dimension.

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