Auf zahlreichen Darstellungen trägt Moses eindeutig Hörner, so wie bei der wohl bekanntesten des Michelangelo Buonarotti von vom Beginn des 16. Jahrhunderts in San Pietro in Vincoli in Rom. Warum ist das so? Und was hat das Ganze mit biblischer Auslegung zu tun?
Nun, eine ganze Menge, wie im Folgenden gezeigt werden soll.
Das Motiv selber geht auf die lateinische Übersetzung der hebräischen Bibel durch Eusebius Hieronymus zurück, der sich dabei allerdings auf ältere Übersetzungen stütze. Im hebräischen Text von Ex 34,29 lesen wir heute
וַיְהִ֗י בְּרֶ֤דֶת מֹשֶׁה֙ מֵהַ֣ר סִינַ֔י וּשְׁנֵ֨י לֻחֹ֤ת הָֽעֵדֻת֙ בְּיַד־מֹשֶׁ֔ה בְּרִדְתֹּ֖ו מִן־הָהָ֑ר וּמֹשֶׁ֣ה לֹֽא־יָדַ֗ע כִּ֥י קָרַ֛ן עֹ֥ור פָּנָ֖יו בְּדַבְּרֹ֥ו אִתֹּֽו׃
Und es geschah, als Mose vom Berg Sinai herabstieg — und zwei Tafeln des Zeugnisses waren in der Hand des Mose bei seinem Herabsteigen von dem Berg — da wusste Mose nicht, dass die Haut seines Gesichtes von seinem Sprechen mit ihm strahlte.
Das Verb für „strahlen“ ist קרן — und es wird genauso geschrieben wie das hebräische Wort für „Horn“ = קרן. Ein Blick in das Wörterbuch von Gesenius zeigt eine daraus folgende, naheliegende Erklärung: In der englischen Fassung von 1865 S. 943 schrieb der englische Herausgeber, Edward Robinson:
Aquila und die Vulgata hätten das Verb „absurderweise“ als „gehörnt sein“ übersetzt. „Daher stellen Maler und Bildhauer Moses oft mit Hörnern da.“ Damit scheint der Fall auf den ersten Blick geklärt — Hieronymus habe einfach einen Fehler gemacht bzw. ihn von einer älteren Übersetzung des hebräischen Textes ins Griechische übernommen. Ich möchte jetzt zeigen, dass es sich diese Erklärung zu leicht macht. Warum sollte einem erfahrenen Übersetzer wie Hieronymus ein solcher „absurder“ Fehler unterlaufen? Der oben zitierte Lexikon-Eintrag gibt ja zu verstehen, dass eine Ableitung des Verbs קָרַן (karan — strahlen) von קֶרֶן (kæræn — Horn) sehr wohl gegeben ist.
Zum Gebrauch des Wortes „Horn“ in der Bibel
Katholische Leser, die mit dem Neuen Testament in der Einheitsübersetzung vertraut sind, werden erstaunt sein, ausgerechnet im griechischen Text des Benedictus einem Horn zu begegnen:
⁶⁸ Εὐλογητὸς κύριος ὁ θεὸς τοῦ Ἰσραήλ,
ὅτι ἐπεσκέψατο καὶ ἐποίησεν λύτρωσιν τῷ λαῷ αὐτοῦ,
⁶⁹ καὶ ἤγειρεν κέρας σωτηρίας ἡμῖν
ἐν οἴκῳ Δαυὶδ παιδὸς αὐτοῦ,
(Lk 1,68.69; NA 28)
⁶⁸ Gepriesen (der) Herr, der Gott Israels,
daß er nachschaute und Erlösung wirkte seinem Volk,
⁶⁹ und er erweckte uns ein Horn (der) Rettung
im Haus Davids, seines Knechtes
(Lk 1,68-69; Ü: Münchener NT)
Ein Horn der Rettung? Elberfelder, Luther 2017 und Zürcher übersetzen kéras sōtērías zu Recht so, die REÜ gibt den Ausdruck als „starken Retter“ wieder. Sie hat insofern recht, als es sich bei diesem Wort offensichtlich um einen bildhaften Ausdruck handelt. Der stammt aus dem Sprachgebrauch der hebräischen Bibel und findet dort immer wieder Verwendung. So auch der Sprachgebrauch im Lobgebet der Hannah:
Und Hanna betete und sprach: Mein Herz jauchzt in dem HERRN, mein Horn ist erhöht in dem HERRN. (1 Sam 2,1; Elberfelder)
Damit ist sicher nicht gemeint, dass der dankenden Frau ein Horn aus der Stirn wuchs. Ähnlicher Sprachgebrauch findet sich in allen Teilen der Hebräischen Bibel: In der Tora (Dtn 33,17) und bei den Propheten, wenn Ezechiel die schlechten Hirten des Volkes mit den Worten kritisiert:
Weil ihr all die Schwachen mit Seite und Schulter verdrängt und mit euren Hörnern stoßt, bis ihr sie nach draußen zerstreut habt … (Ez 34,21; Elberfelder)
Wenn der Beter in Psalm 89 sagt:
Denn du bist der Ruhm ihrer Stärke, und durch deine Gnade wirst du unser Horn erhöhen (Ps 89,18; Luther 2017)
dann macht die Einheitsübersetzung aus dem „Horn“, das erhöht wird: „du erhöhst unsre Kraft in deiner Güte“ da sie offenbar befürchtet, die Leser mit der wörtlichen Übersetzung in die Irre zu führen.
Die Bedeutung des Wortes „Horn“ bei Hieronymus
Ich kann nun zeigen, dass Hieronymus dieser bildhafte Sprachgebrauch des Wortes „Horn“ vertraut war und bringe als Beleg einen kurzen Abschnitt aus seiner Auslegung von Ps 98(97),6 LXX. Hier wird der Beter aufgefordert, den Herrn zu loben in tubis ductilibus, et voce tubae corneae, lateinisch für „mit aus Metall getriebenen Trompeten, und mit dem Klang der Trompete aus Horn.“ Hieronymus muss also erklären, warum es dazu zwei verschiedener Trompeten bedarf und was es mit dem aus Horn gefertigten Material auf sich habe.
In scripturis proprie cornu pro regno dicitur, et pro potentia: sicut ibi sccriptum est: Erexit cornu salutis nobis (Luc. 1,69) Et in alio loco scriptum est: In te inimicos nostros ventilabimus cornu (Psl. XLIII,6). Ergo videte hic quid dicat: Duas habetote tubas, et argenteam, et corneam. Argenteam, ut habeatis sermonem: corneam, ut habeatis virtutem. Vultis scire quoniam cornu semper in bonam partem ponitur. Legimus in Levitico Nullum animale offeratur nisi quodcunque cornutum est. (Lev. XI,26) Tria genera animalium offeruntur: bos, qui cornu habet, et aries, qui cornu habet et hircus, qui cornu habet. Sine causa putas dicitur ut nullam offeratur animal, nisi quod cornutum est? Et nos quandiu habemus cornu, meremur victima esse Dei. Si autem cornu nostrum fuerit excussum, quasi debiles sumus, et inter sacerdotes Dei venire non possumus. MPL XXVI, 1188
„In den Schriften steht „Horn“ für Königsherrschaft und für Macht, wenn zum Beispiel dort geschrieben steht: Er hat uns ein Horn des Heils aufgerichtet (Lk 1,69). Und an einer anderen Stelle steht geschrieben: Durch dich werden wir unsere Feinde mit einem Horn niederstoßen (Ps 44(43),6)1 Daher werdet ihr einsehen, was er (=der Psalmist) hier sagen will: Ihr müsst zwei Trompeten haben, sowohl eine silberne, als auch eine aus Horn.2 Eine silberne, damit ihr über Ausdrucksweise, eine aus Horn, damit ihr über Macht verfügt. Ihr wollt wissen, warum das Horn immer in einem positiven Sinn verwendet wird. Wir lesen in Levitikus, dass kein Tier geopfert werden darf, wenn es nicht auf irgendeine Weise gehörnt ist. Drei Arten von Tieren werden geopfert: das Rind, das Hörner hat; der Widder, der Hörner hat und der Ziegenbock, der Hörner hat. Meinst du, es ist ohne Grund, dass gesagt wird, dass kein Tier geopfert werden darf, außer dem, das gehörnt ist? Solange auch wir ein „Horn“ haben, verdienen wir es, ein Schlachtopfer Gottes zu sein. Wenn aber unser „Horn“ abgeschlagen worden ist, sind wir gleichsam gebrechlich und können nicht unter die Priester Gottes gelangen.“ (Auslegung zu Ps 98(97),6; MÜ)
In seiner Auslegung des Propheten Ezechiel kommt der Kirchenvater ebenfalls auf dieses Thema zu sprechen und nutzt das zu einem spannenden Rückblick auf jugendliche Erlebnisse in den christlichen Katakomben Roms:
Dum essem Romae puer et liberalibus studiis erudirer, solebam cum ceteris eiusdem aetatis et propositi, diebus Dominicis sepulcra apostolorum et martyrum circumire, crebroque cryptas ingredi quae, in terrarum profunda defossae, ex utraque parte ingredientem per parietes habent corpora sepultorum, et quia obscura sunt omnia, ut propemodum illud propheticum compleatur: Descendant ad infernum uiuentes, et raro desuper lumen admissum, horrorem temperet tenebrarum, ut non tam fenestram quam foramen dimissi luminis putes, rursumque pedetemptim inceditur et caeca nocte circumdatis illud Vergilianum proponitur:
Horror ubique *animo, simul ipsa silentia terrent.
Hoc mihi dictum sit ut prudens lector intellegat quam habeam sententiam super explanationem templi Domini in Hiezechiel, de quo scriptum est: Nubes et caligo sub pedibus eius, et rursum: Tenebrae latibulum eius; unde et Moyses in nubem ingressus est et caliginem ut possit mysteria Domini contemplari, quae populus longe positus et deorsum manens uidere non poterat; denique post quadraginta dies, uultum Moysi uulgus ignobile caligantibus oculis non uidebat, quia ‚glorificata erat‘, siue, ut in hebraico continetur, ‚cornuta‘ facies Moysi; (In Hiezechielem XII,XI,5/13; CCSL LXXV (1964) S. 556-557)
„Als ich ein Junge war, in Rom in den freien Künsten unterwiesen wurde3, pflegte ich mit anderen gleichen Alters und (gleicher) Lebensweise an den Herrentagen die Gräber der Apostel und Märtyrer zu durchwandern und oft die Grüfte zu betreten, die tief in die Erde gegraben wurden. Auf beiden Seiten enthalten sie beim Betreten in den Wänden die Leiber der Begrabenen und da sie alle finster sind, wird dieses (Zitat) nahezu prophetisch erfüllt: Sie müssen als Lebende in die Unterwelt hinabsteigen (Ps 55(54),16). Nur selten wird von oben her Licht eingelassen, es lindert den Schrecken der Schatten; du glaubst, dass nicht so sehr ein Fenster, als vielmehr eine Öffnung Entsender des Lichtes ist. Und geht man Schritt für Schritt zurück, von finsterer Nacht umgeben, stellt man sich dieses vergilianische [Zitat] vor:
Schrecken ist überall für den Geist, / gleichzeitig fürchten sie selbst die Stille (Publius Vergilius Maro, Aeneis II,755)4
Dies wurde von mir gesagt, damit der verständige Leser verstehen kann, auf welche Weise ich (m)eine Ansicht über die Auslegung des Tempels des Herrn bei Ezechiel gewonnen habe, von dem geschrieben steht: Wolken und Dunkelheit (sind) unter seinen Füßen (vgl. Ps 97(96),2) und wiederum: Finsternisse (sind) sein Versteck (vgl. Ps 18(17),12). Daher ging auch Moses in eine Wolke und Dunkelheit hinein, damit er die Mysterien des Herrn betrachten konnte, die das Volk — weit entfernt und unten bleibend — nicht sehen konnte. Zuletzt, nach vierzig Tagen, sah das niedrige Volk mit verdunkelten Augen nicht das Angesicht des Mose, weil es „verherrlicht“ war5, beziehungsweise „gehörnt“, wie es im Hebräischen enthalten ist.“ (Ezechiel Kommentar, XII,11,5/13; MÜ)
Ruth Mellinkoff hat zu Recht schon vor einem halben Jahrhundert geschrieben:
Bislang habe ich in den Schriften des Hieronymus keinen Hinweis darauf gefunden, dass er glaubte, Moses sei mit massiven Hörnern auf der Stirn vom Berg Sinai herabgestiegen. Ganz im Gegenteil.6
Und Christoph Dohmen schrieb im Anschluss an Mellinkoff:
Was oft als Ubersetzungsfehler gewertet wurde, geht aber auf eine bewusste Entscheidung des Hieronymus zurück. 7
Der gehörnte Altar
Ein letzter Aspekt sei noch hervorgehoben. Hieronymus kommt in den beiden von mir oben übersetzten Kommentaren auf Gottesdienst und Tempel zu sprechen, wenn er die Bedeutung des Wortes „Horn“ erklärt. Das ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass Hörner im kultischen Bereich eine Rolle gespielt haben. Ich meine damit das Phänomen des Hörneraltars, dessen Funktion Wolfgang Zwickel im Wibilex erklärt hat.
Warum ist das in diesem Zusammenhang wichtig? Weil es einen weiteren Aspekt der biblischen Erzählung beleuchtet. In den vierzig Tagen, in denen Moses sich auf dem Berg Sinai befindet, ereignet sich die Geschichte vom goldenen Kalb (Ex 32). Der „gehörnte“ Moses zeigt an, wie die Gottesbegegnung des Volkes stattfinden kann: Nicht durch ein selbst fabriziertes Heiligtum, sondern durch das, was Moses über und von Gott zu sagen hat8.
Die Folgen
Die Intelligenteren unter den Auslegern verstanden die Erscheinung am Gesicht des Mose weiterhin nicht als physische Beschreibung, sondern als bildhaften Ausdruck. Beispielhaft sei hier Nicolaus von Lyra genannt, der in seiner Postilla zur Glossa Ordinaria schrieb:
Ignorabat, &c. Erant enim quidam radii meri splendoris procedentes in altum ad modum cornuum, quos Apostolus vocat gloriam vultus Moysi 2. Corin. 3. Unde in Hebraeo habetur, et non cognovit quod cornuta esset lux faciei suae. Sed quare non habuit ante, cum locutus fuisset cum domino diu in monte. Dicunt aliqui quod non habuit tunc ita limpidam cognitionem de Deo sicut postea, ad quod denotandum apparuerunt tales radii. Alii dicunt quod hoc fatum est ut populus qui per idolatriam peccaverat, magis eum timeret et haberet in reverentia. Rabbi Salomo dicit quod hoc fuit ex hoc quod dominus posuit manum suam super faciem ut habetur in fine precedentis capituli.
„Er wusste nicht (dass sein Gesicht gehörnt war) usw. Denn es waren gewissermaßen nur Strahlen eines Glanzes, die nach oben gingen nach der Art von Hörnern, welche der Apostel Herrlichkeit des Angesichtes des Moses nennt (2 Kor 3,7). Daher steht im Hebräischen, und er erkannte nicht, dass das Licht seines Angesichtes gehörnt war. Aber warum hatte er [sie] nicht vorher, als er so lange mit dem Herrn auf dem Berg gesprochen hatte? Einige sagen, dass er da [noch] nicht eine solch klare Erkenntnis von Gott hatte, so wie später; um dies zu bezeichnen, kamen solche Strahlen zum Vorschein. Andere sagen, dass dies geschehen ist, damit das Volk, das durch Götzendienst gesündigt hatte, ihn mehr fürchten und in Ehrfurcht halten sollte. Rabbi Salomo sagt, dass dies dadurch geschah, dass der Herr seine Hand über sein Gesicht hielt, wie am Ende des vorhergehenden Kapitels steht.“
Der Franziskaner wußte also ebenfalls deutlich um die Symbolik der „Hörner“ des Moses. Er zitiert dann — wie so häufig — den Kommentar von Raschi, der zur Stelle sagte:
כי קרן. לשון קרנים, שהאור מבהיק ובולט כמין קרן; ומהיכן זכה משה לקרני ההוד? רבותינו אמרו מן המערה, שנתן הקדוש ברוך הוא ידו על פניו, שנאמר ושכתי כפי (תנחומא)׃
Dass strahlte. קרן ist ein Ausdruck von קרנים — Hörnern. [Er bedeutet], dass das Licht stahlte, hervortretend nach der Art eines Horns. Und von wann an wurde Mose für würdig befunden, mit Herrlichkeit gehörnt zu werden? Unsere Lehrer sagen: Von der Höhle an, als der Heilige, gepriesen sei er, seine Hand über sein Gesicht gab , denn es ist gesagt: und ich breite meine Hand aus [über dich, bis ich vorüber gegangen bin] (Ex 33,22). (Quelle: Midrasch Tanchuma Ki Tisa 37; MÜ)
Ein schönes Beispiel für dieses Verständnis bietet das Bild aus dem Speculum humanae salvationis deutsch von 1492. Hier wurde die übertragene Bedeutung offensichtlich noch verstanden. Anders sieht es in diesem flämischen Psalter von 1465 aus: Hier sind die Hörner des Moses nicht mehr symbolisch, sondern naturalistisch verstanden.
Moses steht neben Myriam und Aaron, der lateinische Text liest:
Cantemus Domino gloriose enim magnificatus est: equum et ascensorem deiecit in mare.
Fortitudo mea et laus mea dominus: et factus est mihi in salutem
„Lasst uns dem Herrn singen, denn ruhmvoll ist er erhöht worden: Pferd und Reiter hat er in das Meer hinabgeworfen.
Meine Stärke und mein Lob [ist] der Herr: und er ist mir zur Rettung geworden.“ (Ex 15,1-2 Vulgata)
Diese Darstellung griff weit um sich und trug dazu bei, dass die anspruchsvolle Übersetzungs-Entscheidung des Hieronymus nicht mehr verstanden wurde.
Danke für diesen schönen und wichtigen Kommentar.
Was ich aber nicht verstehe, ist warum die EÜ – wenn sie schon das Wort „Horn“ vermeiden will – ausgerechnet Kraft (in 2Sam 1) und Stärke (in Lk 1,69) als Übersetzungen wählt. Das lateinische „cornu“ hat zwar auch übertragene Bedeutungen, aber laut meinem Wörterbuch sind das „Mut“ (was in beiden Bibelversen passen würde) oder „Überfluss“ – meine erste Assoziation zu „Horn“ war auch das Füllhorn. Aber wie kommt man auf Kraft und Stärke?