Ein kleines, aber feines Gleichnis Jesu, dessen Bedeutung herauszufinden aber gar nicht so einfach ist, wie ein Blick auf die anhaltende Diskussion darüber zeigt, ist das Gleichnis vom Senfkorn, das winzig klein ausgesät wird und in dessen Schatten sich am Ende die Vögel des Himmels niederlassen.
Das Gleichnis selbst ist bei den drei Synoptikern überliefert. Auffällig sind die kleinen Unterschiede in den jeweiligen Fassungen. Das Senfkorn wird:
in Mt 13,30-32 | in Mk 4,30-32 | in Lk 13,18-19 |
auf einem Acker gesät | auf die Erde gesät | in einen Garten geworfen |
größer als die Gartengewächse | größer als alle Gartengewächse | |
ein Baum | zu einem Baum |
Am Ende schlagen die Vögel des Himmels in seinen Zweigen (Mt/Lk) bzw. unter seinem Schatten (Mk) ihre Zelte auf (gr.κατασκηνόω). In der neutestamentlichen Exegese wird eine Doppelüberlieferung angenommen, nach der das Gleichnis sowohl durch Markus als auch über die Logienquelle ins Neue Testament gelangt sei. 1
Die eigentliche Herausforderung zu seinem Verständnis hat Rudolf Bultmann in einer Anmerkung zur Markus-Fassung prägnant formuliert:
Eine Anwendung fehlt.2
Die Konsequenz: seit der Antike herrscht eine gewissen Unsicherheit, wie das Gleichnis zu verstehen sei und vor allem, worauf es sich eigentlich beziehen sollte.
Clemens von Alexandria (um 150-215) meinte, falls es beim Senfkorn um die Kirche Christi gehe, könne es sich bei den Vögeln um „göttliche Engel und in der Höhe wandelnde Seelen“ handeln.3 Cyrill von Jerusalem (um 315-386) sah im Senfkorn ein Sinnbild des Glaubens oder des Glaubenskenntnisses, das in sich alle Inhalte des Alten und Neuen Testamentes enthalte.4 Für Ambrosius von Mailand (um 339-397) repräsentierte das Senfkorn Christus selbst, sodass am Ende gelte:
Wer sonach das Senfkörnlein sät, sät das Himmelreich. (Ü: Johann Evangelist Niederhuber) 5
Dieser Deutung schloss sich in der Neuzeit Martin Dibelius (1883-1947) an:
Was am Anfang klein ist und am Ende groß sein wird, ist die Predigt vom Reich Gottes, ist die Sache Jesu.6
In diese Richtung dachte auch Johannes Chrysostomos (344/354-407) in einer Predigt über den Hebräerbrief: Dem erstaunlichen Wachstum des Senfkorns entspreche die erstaunliche, weltweite Ausbreitung des Evangeliums7. Thomas von Aquin (1225-1274) zitierte in seiner Catena Aurea neben Chrysostomos den bulgarischen Bischof Theophylact (gest. nach 1125), der in den Zweigen die Apostel sah, die sich nach Rom, Indien oder in andere Weltteile ausbreiteten.8 An der gleichen Stelle zitierte Thomas auch Hieronymus (347-419/420), für den das kleine Samenkorn Sinnbild eines innerlichen und unscheinbaren Lebens darstellte, durch das man erst zur Weisheit gelangen konnte. Eine ähnlich moralische Deutung des Hieronymus überlieferte auch die Glossa Ordinaria: In einer Kombination von 1 Joh 4,8+18 mit Jes 40,6 deutete er den Abstand zwischen winzigem Samenkorn und großem Gewächs als den Unterschied von Gottesfurcht und Liebe Gottes.9
Diese Art der Deutungen ging bei den Reformatoren weiter. Jean Calvin (1509-1564) verwendete das Gleichnis in seiner Institutio, um sich über das Sakraments-Verständnis der Katholiken lustig zu machen10. Matthias Flacius (1520-1575) schrieb in seinem Clavis Scripturae Sacrae, dass Christus durch dieses Gleichnis das Wesen der Kirche und der Religion erklären wollte, aus der kleinsten Anzahl zur größten Menge heranzuwachsen und bemerkte dann zur Verwendung des Senfkorns in einer weiteren Aussage des Evangeliums: „Schau an der Stelle [= Mt 17,20] selbst nach, sie ist aus sich klar verständlich.“ 11
Dieser Deutung des Flacius schloss sich Joachim Jeremias (1900-1979) an, als er die Aussage vom Senfkorn als „Kontrastgleichnis“ deutete:
Mit derselben Wundermacht [wie beim Wachstum der Saat] lässt Gott aus den kümmerlichsten Anfängen, aus der armseligen Schar der Jünger Jesu, aus einem Nichts seine Königsherrschaft wachsen.12
Doch was bei allen bisher genannten Deutungen unklar blieb, war die Bedeutung der Vögel, die sich im Schatten des Senf-Korn-Gewächses niederließen. Die oben angeführten allegorischen Erklärungsversuche befriedigen gar nicht. Lag hier wirklich nur ein Zitat aus Ps 102,12a LXX vor?13 Ich denke, es war Julius Wellhausen (1844-1918), der bei den Vögeln des Himmels eine Anspielung des Markus auf das Bild in Dan 4,18 Theodotion erkannte, wenngleich er dessen Gebrauch als biblizistisch bezeichnen zu müssen glaubte14. Im vierten Kapitel des Buches erklärt Daniel dem König Nebukadnezar seinen Traum vom imperialen Weltenbaum und führt in der Theodotion-Fassung aus:
Und sein Blattwerk grünt und seine Frucht [ist] viel und an ihm [ist] Nahrung für alle, unter ihm siedelten sich die wilden Tiere an und in seinen Zweigen schlugen die Vögel des Himmels ihr Zelt auf. (Dan 4,18 [21] Theod.; MÜ)
Letztlich habe ich von zwei Exegetinnen den sachgemäßen Hintergrund des Gleichnisses vor allem in seiner Markus-Fassung gelernt. Luise Schottroff (1934-2015), die ekklesiologischen Deutungen grundsätzlich skeptisch gegenüberstand, griff das imperiale Bild vom Weltenbaum auf.
Dass die Vögel in den Zweigen des Weltenbaumes nisten (Ez 31,6; Dan 4,12.14.21; Ez 17,23 im Schatten der Zweige), bedeutet im Sinne des Bildes schützende Herrschaft über andere Völker, bildet also imperiales Selbstverständnis ab. Die Völker sind unterworfen worden, die neuen Herren sind ihre »Beschützer«.
Mk 4,32 drückt eine politische Vision aus: Gott wird über alle Völker herrschen. Das aber bedeutet, dass es keine imperialen Großreiche mehr geben wird, wie sie über Jahrhunderte das kleine Israel dominierten. Zur Zeit des Markusevangeliums ist Mk 4,32 eine politische Prophetie, die das Ende des Römischen Reiches und seiner Pax Romana ankündigt. Es wird kein Volk mehr geben, das andere Völker unterwirft, alle Völker sind in gleicher Weise unter Gottes Herrschaft und in ihr geschützt.15
Noch deutlicher wird dieser Aspekt bei Adela Yarbro Collins (geb. 1945) herausgearbeitet, die bei Markus einen deutlichen Zusammenhang zu Ezechiel 17 sieht, von dessen Bildsprache sich Markus aber charakteristisch abhebe.
In der abschließenden Parabel der Sammlung in [Mk] 4,1-34 ist der Ausgangspunkt ein Senfkorn, anstelle des Zweiges einer Zeder. Der Endpunkt ist ein Strauch, anstelle einer edlen Zeder. Der Autor des Markus-Evangeliums hat sich entschieden, dieses Gleichnis als Höhepunkt zu platzieren, um überspannte messianische Erwartungen zu parodieren. Wie weiter oben erörtert wurde, ist der schwierigste Aspekt des Geheimnisses des Reiches Gottes bei Markus die Offenbarung, dass der Messias, Jesus, leiden und sterben muss. Markus hat den Parabel-Vortrag so angeordnete, dass er die Zuhörer von einer anfänglichen Betonung der Verkündigung Jesu zu einer Andeutung seiner Passion und ihrer Ergebnisse führt. Jesus, der ausgeliefert, gegeißelt und hingerichtet wurde, war nicht der militärische Anführer und König, den einige Gruppierungen erwarteten. Anstelle einer Zeder bekamen sie einen Strauch. Trotzdem wird das Reich Gottes durch ihn deutlich erkennbar. Der Strauch wird für die Vögel der Luft geräumig genug sein, um ihre Nester in seinen Zweigen zu bauen.16
Mit anderen Worten: Ohne diesen politischen Hintergrund ist die ursprüngliche Aussageabsicht des Gleichnisses nicht zu verstehen. Dass es wichtig und sinnvoll ist, die imperialen Bezüge der biblischen Texte wiederzuentdecken, zeigt ein Blick auf die aktuelle Weltlage. Ich fürchte, da werden wir noch viel zu lernen haben.