Das Schweigen Jesu hören können – Gedanken zur Markus-Passion

Letzten Sonntag hatte ich die Ehre, bei der Passion nach Markus den Evangelisten lesen zu dürfen. Dabei ist mir bewusst geworden, dass Jesus nach seiner Verhaftung (Mk 14,43-52) eigentlich so wie gut wie gar nichts mehr sagt. Markus lässt ihn zweimal Schriftzitate und zweimal einen unklaren Zwei-Wort-Satz sagen – und das war es auch schon.

Während des Verhörs vor dem Hohepriester heißt es: ὁ δὲ ἐσιώπα καὶ οὐκ ἀπεκρίνατο οὐδέν – „der aber schwieg und nicht antwortete er etwas“ (Mk 14,61; Ü: Münchener NT). Als der Hohepriester insistiert, kommt als Antwort: ἐγώ εἰμι, καὶ ὄψεσθε τὸν υἱὸν τοῦ ἀνθρώπου ἐκ δεξιῶν καθήμενον τῆς δυνάμεως καὶ ἐρχόμενον μετὰ τῶν νεφελῶν τοῦ οὐρανοῦ. „Ich bin (es), und ihr werdet sehen den Sohn des Menschen (Dan 7,13 LXX) sitzend zur Rechten (Ps 109,1 LXX) der Kraft und kommend mit den Wolken des Himmels (Dan 7,13 LXX).

In 14,75 erinnert sich Petrus an ein Wort, dass Jesus ihm vor der Passion gesagt hatte.

Die nächste Aussage Jesu fällt dann vor Pilatus: Καὶ ἐπηρώτησεν αὐτὸν ὁ Πιλᾶτος· σὺ εἶ ὁ βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων; ὁ δὲ ἀποκριθεὶς αὐτῷ λέγει· σὺ λέγεις. „Und Pilatus fragte ihn: Bist du der König der Juden? Er aber antwortete ihm: sỳ légeis. (Mk 15,2) Diese Zwei-Wort-Antwort ist von ihrer Bedeutung her alles andere als eindeutig. Sie heißt wörtlich übersetzt: du sagst – und kann bedeuten: „Du sagst es – ja, ich bin der König der Juden“. Aber sie kann auch bedeuten: „Das sagst Du – aber ich bin es nicht“.1 In diesem nicht bejahenden Sinn hat der vierte Evangelist das Wort verstanden, wenn er schreibt: ἀπεκρίθη Ἰησοῦς· ἀπὸ σεαυτοῦ σὺ τοῦτο λέγεις ἢ ἄλλοι εἶπόν σοι περὶ ἐμοῦ; „(Es) antwortete Jesus: Von dir (aus) sagst du dies, oder sprachen andere zu dir über mich?“ (Joh 18,34; Ü: Münchener NT)

Nach dieser enigmatischen Zwei-Wort-Antwort hält Markus fest: ὁ δὲ Ἰησοῦς οὐκέτι οὐδὲν ἀπεκρίθη, ὥστε θαυμάζειν τὸν Πιλᾶτον. „Jesus aber antwortete nichts mehr, so daß Pilatos staunte.“ (Mk 15,5; Ü: Münchener NT)

Das letzte Wort Jesu in der Markus-Passion und das letzte Wort Jesu im gesamten Markus-Evangelium fällt dann am Kreuz: ελωι ελωι λεμα σαβαχθανι;Eloi, eloi, lama sabachtani„, Ps 22,2 auf Aramäisch (Mk 15,34).

Das bedeutet: Im Verlauf der letzten 75 Verse seines Evangeliums (Mk 14,53-16,8 – dem ursprünglichen Schluss des Markus-Evangeliums) spricht die Hauptperson an eigenen Worten zwei Zwei-Wort-Sätze: „ich bin“ und „du sagst“. Mir fällt dazu das Wort des Ignatius von Antiochien (frühes 2. Jahrhundert) an die Epheser ein2:

Ἄμεινόν ἐστιν σιωπᾶν καὶ εἶναι, ἢ λαλοῦντα μὴ εἶναι. καλὸν τὸ διδάσκειν, ἐὰν ὁ λέγων ποιῇ. εἷς οὖν διδάσκαλος, ὃς εἶπεν, καὶ ἐγένετο· καὶ ἃ σιγῶν δὲ πεποίηκεν, ἄξια τοῦ πατρός ἐστιν. ὁ λόγον Ἰησοῦ κεκτημένος ἀληθῶς δύναται καὶ τῆς ἡσυχίας αὐτοῦ ἀκούειν, ἵνα τέλειος ᾖ, ἵνα δι‘ ὦν λαλεῖ πράσσῃ καὶ δι‘ ὦν σιγᾷ γινώσκηται. (Ignatii Epistola ad Ephesios XV,1/2)

Besser ist schweigen und etwas sein, als reden und nichts sein. Gut ist das Lehren, wenn man tut, was man sagt. Einer nun ist der Lehrer, der „sprach und es geschah“, und das, was er schweigend getan hat, ist des Vaters würdig. Wer Christi Wort besitzt, kann wahrhaftig auch sein Schweigen vernehmen, damit er vollkommen sei, damit er durch sein Wort wirke und durch sein Schweigen erkannt werde.

In diesem Sinne lohnt es sich, in der Markus-Passion auf das Schweigen Jesu zu hören.


  1. Hans Förster kommt nach einer eingehenden philologischen Untersuchung unter Beachtung des forensischen Kontexts zu dieser Übersetzung: „Das behauptest Du (und gerade nicht ich).“ (Σὺ λέγεις: Philologische Untersuchungen zur semantischen Valenz der Verbindung eines Personalpronomens mit einem verbum dicendi. In: New Testament Studies (2021) 67, S. 51)
  2. „The work represents a collection of epistolary masterpieces at an early stage of ancient Christianity.“ (Charles Kannengiesser: A Handbook of Patristic Exegesis: The Bible in Ancient Christianity (2004) S. 415)

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