Macht alle Völker zu meinen Jüngern?

So lautet in etlichen gängigen deutschen Übersetzungen (Revidierte Einheitsübersetzung, Elberfelder, Zürcher, Schlachter) die Anweisung des Auferstandenen an die Elf am Ende des Matthäusevangeliums (Mt 28,19). „Jüngerschaft“ ist ja sehr en vogue zur Zeit – trotzdem meine ich, dass diese Übersetzung vom biblischen Text wegführt.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Luther 2017 anders übersetzt, nämlich: lehret alle Völker. Das entscheidende Verb ist μαθητεύω und es findet sich in diesem Satz bei Matthäus: μαθητεύσατε πάντα τὰ ἔθνη. Das Verb hängt natürlich mit der Übersetzung des Wortes μαθητὴς zusammen – heißt das wirklich „Jünger“ oder bedeutet es etwas anderes?

Zum Glück sind wir in der komfortablen Lage, eine ausführliche Erklärung dieses Wortes bei einem Zeitgenossen der Evangelisten zur Verfügung zu haben. Es handelt sich um den griechischen Rhetor, Philosophen und Historiker Dion Chrysostomos (um 40 – ca. 115 n. Chr.). Sein Sprachverständnis ist daher ein maßgeblicher Hinweis zur Bedeutung des fraglichen Ausdrucks. Er bringt ihn gleich zu Beginn seiner Rede über Homeros und Sokrates.

Dion Chrysostomos: Oratio LV über Homer und Sokrates

Ἐπεὶ φαίνῃ καὶ τἄλλα Σωκράτους ὢν ἐπαινέτης καὶ τὸν ἄνδρα ἐκπληττόμενος ἐν τοῖς λόγοις, ἔχεις μοι εἰπεῖν ὅτου μαθητὴς γέγονε τῶν σοφῶν· ὥσπερ Φειδίας μὲν ὁ ἀγαλματοποιὸς Ἡγίου, Πολύγνωτος δὲ ὁ ζωγράφος καὶ ὁ ἀδελφὸς ἄμφω τοῦ πατρὸς Ἀγλαοφῶντος, Πυθαγόρου δὲ Φερεκύδης λέγεται διδάσκαλος γενέσθαι, Πυθαγόρας δὲ Ἐμπεδοκλέους καὶ ἑτέρων, καὶ τῶν ἄλλων δὲ τῶν πλείστων ἔχομεν εἰπεῖν τοὺς διδασκάλους τῶν ἐνδόξων ἀνδρῶν, ὅτῳ ἕκαστος συγγενόμενος λόγου ἄξιος ἐγένετο δίχα γε Ἡρακλείτου τοῦ Ἐφεσίου καὶ Ἡσιόδου τοῦ Ἀσκραίου. ὁ μὲν γάρ φησιν ποιμαίνων ἐν τῷ Ἑλικῶνι παρὰ τῶν Μουσῶν λαβεῖν ἐν δάφνης ὄζῳ τὴν ποίησιν, ἵνα μὴ πράγματα ἔχοιμεν ζητοῦντες αὐτοῦ τὸν διδάσκαλον·

[Fragesteller:] Nachdem du offenbar ein Bewunderer des Sokrates und über den Mann [wie er sich] in seinen Reden [zeigt] erstaunt bist, kannst du mir sagen, der Schüler (μαθητὴς) wessen er von den Weisen war? So wie Phidias der Bildhauer [der Schüler] von Hegias [war], Polygnotos der Maler aber und der Bruder [von ihm waren] beide [Schüler] des Vaters Aglaophon, Pherekydes wird nachgesagt, der Lehrer des Pythagoras gewesen zu sein, Pythagoras aber [der Lehrer] des Empedokles und von weiteren [Männern]. Und von den meisten anderen der gerühmten Männer können wir deren Lehrer benennen – im Umgang mit welchem jeder ein erwähnenswerter Mann wurde – die Meinungen gehen nur auseinander bei Heraklitos von Ephesus und bei Hesiod von Akra. Denn der [=Hesiod] erzählt in der Tat, als er auf dem Helikon die Herde weidete, dass er von den Musen mit einem Lorbeerzweig die Dichtkunst empfangen habe, damit wir keine Schwierigkeiten bei der Suche nach seinem Lehrer hätten.

Ἡράκλειτος δὲ ἔτι γενναιότερον αὐτὸς ἐξευρεῖν τὴν τοῦ παντὸς φύσιν ὁποία τυγχάνει οὖσα, μηδενὸς διδάξαντος καὶ γενέσθαι παῤ αὑτοῦ σοφός. Ὁμήρου μὲν γάρ, ὥσπερ τὰ ἄλλα τὰ περὶ αὐτόν, καὶ τοῦτο ἄδηλον τοῖς Ἕλλησιν. ὁ δὲ Σωκράτης ὅτι μὲν παῖς ὢν ἐμάνθανε [λιθοξόος] τὴν τοῦ πατρὸς τέχνην ἀκηκόαμεν· τὸν δὲ τῆς σοφίας αὐτοῦ διδάσκαλον οὕτως ὠφελίμου καὶ καλῆς γενομένης σὺ ἡμῖν σαφῶς εἰπὲ καὶ μὴ φθονήσῃς.

Herakleitos [erzählte] ferner noch aufrichtiger, dass er selbst die Natur von allem entdeckte, von welcher Art sie eben sei, ohne Lehrer und dass er dadurch weise wurde. Allerdings von Homeros [ist], so wie alles über ihn, auch das den Griechen unbekannt. Aber Sokrates: da haben wir gehört, dass er, als er ein Kind war, vom Vater [einem Steinmetz] das Handwerk lernte. Aber den Lehrer seiner Weisheit, die so hilfreich und trefflich geworden ist, nenne du uns deutlich und halte [ihn uns] nicht vor.

Δ. Ἀλλὰ τοῦτό γε οἶμαι πολλοῖς εἶναι σαφές, ὅστις ἔμπειρος ἀμφοῖν τοῖν ἀνδροῖν, ὅτι Σωκράτης τό γε ἀληθὲς Ὁμήρου μαθητὴς γέγονεν, οὐχ ὥσπερ ἔνιοί φασιν Ἀρχελάου. – Καὶ πῶς οἷόν τε τὸν μήτε ξυγγενόμενον Ὁμήρῳ μήτε ἰδόντα πώποτε, ἀλλὰ τοσούτοις ἔτεσιν ὕστερον γενόμενον Ὁμήρου φάναι μαθητήν; – Δ. Τί δέ; ὅστις καθ‘ Όμηρον ἐγένετο, μηδὲν δὲ ἤκουσε τῶν Ὁμήρου ἐπῶν ἢ ἀκούων μηδενὶ προσέσχε τὸν νοῦν, ἔσθ‘ ὅπως φήσομεν ἐκεῖνον Ὁμήρου μαθητήν; – Οὐδαμῶς.

D[ion antwortet:] Doch steht wenigstens das – will ich meinen – für viele fest: Wer auch immer Erfahrung hat mit diesen beiden Männern, [der weiß,] dass Sokrates doch in Wahrheit Schüler (μαθητὴς) des Homeros geworden ist, [und] nicht wie einige sagen [ein Schüler] des Archelaos. – [Fragesteller:] Und wie kann jemand, der Homeros weder begegnet ist noch jemals gesehen hat, sondern so viele Jahre später geboren wurde, als Schüler (μαθητήν) des Homeros bezeichnet werden? – D[ion antwortet:] Wie nun? Jemand, der zugleich mit Homeros geboren wurde, aber die Epen des Homeros nicht hörte, oder, wenn er [sie] hörte, die Aufmerksamkeit nicht auf den Sinn richtete, wie ist es möglich, dass wir so jemanden einen Schüler des Homeros nennen? – [Antwort des Fragestellers:] Überhaupt nicht.

Δ. Οὔκουν ἄτοπον τὸν μήτε ξυγγενόμενον μήτε ἰδόντα, τῆς δὲ ποιήσεως ξυνέντα τῆς Ὁμήρου καὶ τῆς ὅλης διανοίας ἔμπειρον γενόμενον μαθητὴν Ὁμήρου λέγεσθαι· ἢ οὐδὲ ζηλωτὴν οὐδένα οὐδενὸς φήσεις τῶν μὴ συγγενομένων; – Ἔγωγε. – Δ. Εἴπερ οὖν ζηλωτής, καὶ μαθητὴς εἴη ἄν. ὁ γὰρ ζηλῶν τινα ὀρθῶς ἐπίσταται δήπου ἐκεῖνον ὁποῖος ἦν καὶ μιμούμενος τὰ ἔργα καὶ τοὺς λόγους ὡς οἷόν τε ἐπιχειρεῖ ὅμοιον αὑτὸν ἀποφαίνειν.

D[ion:] Folglich ist es nicht widersinnig, den der [Homeros] weder begegnet ist noch gesehen hat, aber die Dichtungen des Homeros vernommen hat und ihrer ganzen Denkweise kundig wurde, einen Schüler des Homerosos zu nennen: Oder du wirst doch nicht auch behaupten, dass niemand ein Nacheiferer (ζηλωτὴν) von jemand sein könne, dem er er nicht begegnet ist? – [Fragesteller:] – Ja, [das werde ich nicht.]. – D[ion:] Wenn er wirklich ein Nacheiferer ist, dann wäre er wohl auch ein Schüler. Denn der, der jemandes richtiger Nacheiferer ist, weiß wohl genau, wie diese Person war, und indem er sowohl die Werke als auch die Worte nachahmt, versucht er, sich selbst möglichst ähnlich zu erweisen.

ταὐτὸ δὲ τοῦτο καὶ ὁ μαθητὴς ποιεῖν ἔοικε· μιμούμενος τὸν διδάσκαλον καὶ προσέχων ἀναλαμβάνει τὴν τέχνην. τὸ δὲ ὁρᾶν καὶ ξυνεῖναι οὐδέν ἐστι πρὸς τὸ μανθάνειν· πολλοὶ γὰρ καὶ ὁρῶσι τοὺς αὐλητὰς καὶ ξύνεισι καὶ ἀκούουσιν ὁσημέραι, καὶ οὐδ‘ ἂν ἐμφυσῆσαι τοῖς αὐλοῖς δύναιντο, οἳ ἂν μὴ ἐπὶ τέχνῃ μηδὲ προσέχοντες ξυνῶσιν. ἀλλ‘ εἴ γε δυσωπῇ μαθητὴν Ὁμήρου τὸν Σωκράτην καλεῖν, ζηλωτὴν δὲ μόνον, οὐδέν μοι διοίσει. (Dionis Prusaensis quem vocant Chrysostomum quae extant omnia, editit apparatu critico instruxit J. de Arnim, Berlin 1896 Band II, S. 114-116)

Es scheint, dass der Schüler dasselbe macht: indem er den Lehrer nachahmt und die Aufmerksamkeit auf [ihn] richtet, nimmt er die Kunstfertigkeit auf. Aber nur zuschauen und zusammenkommen reicht bei niemand, um zu lernen: Denn viele, die den Flöten-Spielern sowohl zuschauen, als auch [mit ihnen] zusammenkommen und sie Tag für Tag hören, die können trotzdem nicht auf den Flöten blasen, weil sie mit ihnen nicht zum Zweck der Kunst[unterweisung] und mit Aufmerksamkeit verkehren. Doch wenn du dich scheust, den Sokrates einen Schüler des Homeros zu nennen, [sondern] nur einen Nacheiferer, wird es für mich keinen Unterschied machen. (Dion Chrysostomos, Rede 55,1-5; MÜ)

Auswertung

Der Ausdruck „Jünger“ oder „Jüngerschaft“ oder „zu Jüngern machen“ ist unpräzise und verundeutlicht eher, was Matthäus sagen wollte. Es handelt sich bei dieser Anweisung des Auferstandenen um ein Bedeutungsfeld, das das Verhältnis von einem Schüler zu seinem Lehrer meint. Es ist gleichbedeutend damit, diesem Lehrer nachzueifern (ζηλέω) – oder wie Dion so treffend schreibt: sowohl die Werke als auch die Worte nachzuahmen. Folgerichtig trägt das klassische Lehrbuch zur Nachfolge bei Thomas von Kempen (um 1380 – 1471) den Titel imitatio Christi.

Und deshalb übersetzt auch die Vulgata den Befehl bei Matthäus als docete omnes genteslehrt alle Völker und Luther 2017 und die BigS liegen richtig, wenn sie übersetzen lehret alle Völker bzw. lasst alle Völker mitlernen. Von „Jüngern machen“ bzw. „Jüngerschaft“ ist einfach keine Rede.

Anmerkung: Ich danke Dr. Alfred Dunshirn für seine hilfreiche Durchsicht meiner Übersetzung des Dion Textes – allfällige Fehler gehören natürlich mir.

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