Ein Wortspiel des Paulus auf dem Areopag

(Quellenangabe zum Artikelbild)

In Apostelgeschichte 17 wird Lukas auf den Ares Hügel (Ἄρειος πάγος) geführt und hält eine Rede an die dort anwesenden Männer Athens, die er mit einem provozierenden Wortspiel einleitet.

Nach dem griechischen Wortlaut von Apg 17,16 war Paulus in einen Paroxysmus geraten, als er die Stadt betrat:

Ἐν δὲ ταῖς Ἀθήναις ἐκδεχομένου αὐτοὺς τοῦ Παύλου παρωξύνετο τὸ πνεῦμα αὐτοῦ ἐν αὐτῷ θεωροῦντος κατείδωλον οὖσαν τὴν πόλιν. (Apg 17,16; NA XXVIII)

In Athen aber, während Paulus auf sie wartete, wurde sein Geist in ihm in Erregung versetzt, als er beobachtete, dass die Stadt voller Götterbilder war. [MÜ]

Diese Gereiztheit des Paulus kommt dann zu Beginn seiner Rede in einer zutiefst ironischen Aussage zum Ausdruck:

Σταθεὶς δὲ [ὁ] Παῦλος ἐν μέσῳ τοῦ Ἀρείου πάγου ἔφη· ἄνδρες Ἀθηναῖοι, κατὰ πάντα ὡς δεισιδαιμονεστέρους ὑμᾶς θεωρῶ. (Apg 17,22; NA XXVIII)

Paulus aber stellte sich in die Mitte des Areopag und sagte: Männer, Athener! Ich beobachte, dass ihr in allem sehr deisidaimōn seid.

Dieser Ausdruck, den ich erst einmal bewusst nicht übersetzt habe, ist ein Komparativ in der Funktion eines Superlativs: Die hier angesprochene Eigenart ist den Athener also im höchsten Maße zu eigen. Das Wort selbst, für das es im Deutschen keine Entsprechung gibt, macht im Alt-Griechischen einen starken Bedeutungswandel durch:

Die Zusammensetzung aus der Wurzel *d(v)ei ‚fürchten‘ und daímōn ‚göttlich Macht‘ (im älteren Griechisch fast synonym mit theós ‚Gott‘) ergibt den Sinn ‚gottesfürchtig‘. (Herwig Görgemanns in: Plutarch. Drei religionsphilosophische Schriften; Tusculum ²2009, S. 307)

In diesem Sinn wird der Ausdruck etwa bei Aristoteles gebraucht. Im fünften Buch der Politeia erörtert der Stagirite die Frage, wie die Alleinherrschaft (monarchía) dauerhaft erhalten werden könne und führt dazu über den Herrscher aus:

ἔτι δὲ τὰ πρὸς τοὺς θεοὺς φαίνεσθαι ἀεὶ σπουδάζοντα διαφερόντως (ἧττόν τε γὰρ φοβοῦνται τὸ παθεῖν τι παράνομον ὑπὸ τῶν τοιούτων, [1315α] ἐὰν δεισιδαίμονα νομίζωσιν εἶναι τὸν ἄρχοντα καὶ φροντίζειν τῶν θεῶν, καὶ ἐπιβουλεύουσιν ἧττον ὡς συμμάχους ἔχοντι καὶ τοὺς θεούς), δεῖ δὲ ἄνευ ἀβελτερίας φαίνεσθαι τοιοῦτον:

„Ferner muß er sich immer als einen Menschen zeigen, der seinen Pflichten gegenüber den Göttern mit besonderem Eifer nachgeht, (denn bei jemandem, der die Götter fürchtet und fromm ist, versieht man sich dessen weniger, widerrechtliche Handlungen zu erleiden, und scheut sich mehr, ihn anzugreifen, sofern man ihn als einen ansieht, welcher die Götter zu Bundesgenossen hat); nur aber muß er dabei nicht allzu kindisch erscheinen.“ (Aristoteles, Politik V 1314b-1315a; Ü: Wolfgang Kullmann nach der Übersetzung von Franz Susemihl)

Im vierten Jahrhundert vor Chr. hat der Ausdruck also noch die Bedeutung von religiös, fromm. Ein Zeitgenosse des Evangelisten Lukas, dem wir die Überlieferung der Rede des Paulus in Athen verdanken, war der Schriftsteller und Priester des delphischen Apoll, Plutarch (ca. 45 – ca. 125). Eines seiner Frühwerke trägt den Titel Περὶ Δεισιδαιμονίας und wird heute mit der lateinischen Übersetzung De Superstitione – über den Aberglauben zitiert. In diesem kurzen Werk führt Plutarch aus, dass aus falschen Vorstellungen über die Götter zwei Fehlhaltungen resultieren: Atheismus und Aberglaube, wobei er den Atheismus weniger problematisch findet …

Zurück zu Paulus: Seine captatio benevolentiae am Anfang der Rede kann sowohl als auch übersetzt werden:

  • Männer! Athener! Ich nehme wahr, dass ihr in allem sehr gottesfürchtig seid!
  • Männer! Athener! Ich nehme wahr, dass ihr in allem sehr abergläubisch seid!

Es steht zu vermuten, dass die Zuhörenden diesen Spin mitbekommen haben – denn bekanntlich entfaltete das rhetorische Feuerwerk, dass Lukas den Apostel zünden lässt (inklusive Zitat eines griechischen Dichters), keine besondere Wirkung (vgl. Apg 17,32-34).

Wie ein weiterer Zeitgenosse des Lukas, der jüdische Historiker Flavius Josephus (37/38 – etwa 100), vorgehen konnte, wenn er die religiöse Einstellung der Athener ebenfalls mithilfe einer Steigerungsform darstellen wollte, zeigt dieses Beispiel:

Μιμεῖσθαι γὰρ οὐ προσῆκεν τὴν Ἀπίωνος ἀπαιδευσίαν, ὃς οὔτε τὰς Ἀθηναίων τύχας οὔτε τὰς Λακεδαιμονίων ἐνενόησεν, ὧν τοὺς μὲν ἀνδρειοτάτους εἶναι, τοὺς δὲ εὐσεβεστάτους τῶν Ἑλλήνων ἅπαντες λέγουσιν. (Contra Apionem, II 130-131; Flavius Josephus. Flavii Iosephi opera. B. Niese. Berlin. Weidmann. 1892)

„Denn es steht mir nicht an, die Oberflächlichkeit eines Apion nachzuahmen, der weder an das Unglück der Athener, noch an das der Lakedämonier denkt, von denen die Letzteren allgemein als die Tapfersten, die Ersteren als die frömmsten Griechen bezeichnet werden.“ (Ü: Heinrich Clementz)

Es ist wohl kein Zufall, dass sich Josephus für ein Eigenschaftswort entscheidet, dass nicht so schillernd ist wie deisidaimōn, nämlich den Superlativ von εὐσεβής – fromm.

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