Die Vorhersage der Zerstörung des Tempels durch Jesus ist in den kanonischen Evangelien mehrfach überliefert: Mt 24,1-2; Mk 13,1-2; Lk 21,5-6; (vgl. Lk 19,41-44). Das ist unter anderem deshalb wichtig, weil dieses Wort heute noch gerne zur Datierung der Entstehung des Markus-Evangeliums herangezogen wird, im Sinne eines »vaticiniums ex eventu«: Markus wusste um die Zerstörung des Tempels und legte dieses Ereignis Jesus in den Mund, was darauf hinweise, dass Markus sein Evangelium nicht vor der Zerstörung des Tempels habe schreiben können. Bevor ich dieses Argument näher würdige, will ich auf eine nicht so bekannte Erzählung eingehen, die ebenfalls von einer Unheilsprophetie Jesu über Jerusalem und den Tempel berichtet, nur dass es sich nicht um Jesus von Nazareth, sondern um Jesus, den Sohn des Ananos handelt. Von ihm erzählt Flavius Josephus in seiner Geschichte des jüdischen Krieges:
[300]
Ἰησοῦς γάρ τις υἱὸς Ἀνανίου τῶν ἰδιωτῶν ἄγροικος πρὸ τεσσάρων ἐτῶν τοῦ πολέμου τὰ μάλιστα τῆς πόλεως εἰρηνευομένης καὶ εὐθηνούσης, ἐλθὼν εἰς τὴν ἑορτήν, ἐν ᾗ σκηνοποιεῖσθαι πάντας ἔθος τῷ θεῷ, κατὰ τὸ ἱερὸν ἐξαπίνης ἀναβοᾶν ἤρξατο “φωνὴ ἀπὸ ἀνατολῆς, [301]
φωνὴ ἀπὸ δύσεως, φωνὴ ἀπὸ τῶν τεσσάρων ἀνέμων, φωνὴ ἐπὶ Ἱεροσόλυμα καὶ τὸν ναόν, φωνὴ ἐπὶ νυμφίους καὶ νύμφας, φωνὴ ἐπὶ τὸν λαὸν πάντα.” τοῦτο μεθ‘ ἡμέραν καὶ νύκτωρ κατὰ πάντας τοὺς στενωποὺς περιῄει κεκραγώς.
[300]
Denn ein gewisser Jesus, Sohn des Ananos, ein Ungebildeter aus dem gewöhnlichen Volk, kam vier Jahre vor dem Krieg, als es der Stadt ganz besonders friedlich und gedeihlich erging, an dem Fest, bei dem alle dem Brauch gemäß dem Gott (Laub)Hütten bauen. In der Nähe des Tempels begann er plötzlich zu schreien: „Eine Stimme vom Aufgang, [301]
eine Stimme vom Untergang, eine Stimme von den vier Winden, eine Stimme über Jerusalem und den Tempel, eine Stimme über Bräutigame und Bräute, eine Stimme über das ganze Volk.“ Indem er dies am Tag und in der Nacht kreischte, ging er durch alle Gassen.
[302]
τῶν δὲ ἐπισήμων τινὲς δημοτῶν ἀγανακτήσαντες πρὸς τὸ κακόφημον συλλαμβάνουσι τὸν ἄνθρωπον καὶ πολλαῖς αἰκίζονται πληγαῖς. ὁ δὲ οὔθ‘ ὑπὲρ αὑτοῦ φθεγξάμενος οὔτε ἰδίᾳ πρὸς τοὺς παίοντας, ἃς καὶ πρότερον φωνὰς βοῶν διετέλει. [303]
νομίσαντες δὲ οἱ ἄρχοντες, ὅπερ ἦν, δαιμονιώτερον τὸ κίνημα τἀνδρὸς ἀνάγουσιν αὐτὸν ἐπὶ τὸν παρὰ Ῥωμαίοις ἔπαρχον.
[302]
Einige der angesehenen Männer aus dem Volk, die in großer Aufregung im Hinblick auf die bösen Worte waren, fangen und misshandeln den Menschen mit vielen Schlägen. Der aber gab darüber weder einen Laut von sich, noch persönlich zu denen, die [ihn] verwunden und fuhr fort, die Stimmen wie vorher zu schreien. [303]
Da vermuteten die Behörden, was freilich so war, wunderbareres als einen rein menschlichen Antrieb. Daher bringen sie ihn vor den Präfekten bei den Römern.
[304]
ἔνθα μάστιξι μέχρι ὀστέων ξαινόμενος οὔθ‘ ἱκέτευσεν οὔτ‘ ἐδάκρυσεν, ἀλλ‘ ὡς ἐνῆν μάλιστα τὴν φωνὴν ὀλοφυρτικῶς παρεγκλίνων πρὸς ἑκάστην [305] ἀπεκρίνατο πληγήν “αἰαὶ Ἱεροσολύμοις.” τοῦ δ‘ Ἀλβίνου διερωτῶντος, οὗτος γὰρ ἔπαρχος ἦν, τίς εἴη καὶ πόθεν, καὶ διὰ τί ταῦτα φθέγγοιτο, πρὸς ταῦτα μὲν οὐδ‘ ὁτιοῦν ἀπεκρίνατο, τὸν δὲ ἐπὶ τῇ πόλει θρῆνον εἴρων οὐ διέλειπεν, μέχρι καταγνοὺς μανίαν ὁ Ἀλβῖνος ἀπέλυσεν αὐτόν.
[304]
Während er dort mit Geißelhieben bis auf die Knochen geschlagen wird, flehte er nicht noch weinte er, sondern indem er die Stimme so jammervoll wie möglich veränderte, antwortete er auf jeden Schlag: [305]
„Wehe, Jerusalem!“. Beim Kreuzverhör durch Albinus, denn der war der Präfekt, wer er sei und woher, und weshalb er diese Dinge sage, antwortete er nicht das Geringste auf diese [Fragen], er unterbrach beim Sprechen nicht die Klage über die Stadt, bis Albinus, der den Eindruck des Wahnsinns gewonnen hatte, ihn freisprach.
[306]
ὁ δὲ τὸν μέχρι τοῦ πολέμου χρόνον οὔτε προσῄει τινὶ τῶν πολιτῶν οὔτε ὤφθη λαλῶν, ἀλλὰ καθ‘ ἡμέραν ὥσπερ εὐχὴν μεμελετηκώς “αἰαὶ Ἱεροσολύμοις” ἐθρήνει. [307]
οὔτε δέ τινι τῶν τυπτόντων αὐτὸν ὁσημέραι κατηρᾶτο οὔτε τοὺς τροφῆς μεταδιδόντας εὐλόγει, μία δὲ πρὸς πάντας ἦν ἡ σκυθρωπὴ κλῃδὼν ἀπόκρισις.
[306]
Der aber näherte sich die Zeit bis zum Krieg weder jemandem von den Bürgern noch wurde er [mit einem von ihnen] sich unterhaltend gesehen, sondern täglich klagte er wie jemand, der ein Gebet einübt: „Wehe, Jerusalem!“ [307]
Weder verfluchte er diejenigen, die ihn Tag für Tag schlagen, noch segnete er die, die [ihm] Nahrung zuteilen – eine Antwort an alle war dieses finstere Rufen.
[308]
μάλιστα δ‘ ἐν ταῖς ἑορταῖς ἐκεκράγει: καὶ τοῦτ‘ ἐφ‘ ἑπτὰ ἔτη καὶ μῆνας πέντε εἴρων οὔτ‘ ἤμβλυνεν τὴν φωνὴν οὔτ‘ ἔκαμεν, μέχρις οὗ κατὰ τὴν πολιορκίαν ἔργα τῆς κλῃδόνος ἰδὼν ἀνεπαύσατο. [309]
περιιὼν γὰρ ἀπὸ τοῦ τείχους “αἰαὶ πάλιν τῇ πόλει καὶ τῷ λαῷ καὶ τῷ ναῷ” διαπρύσιον ἐβόα, ὡς δὲ τελευταῖον προσέθηκεν “αἰαὶ δὲ κἀμοί”, λίθος ἐκ τοῦ πετροβόλου σχασθεὶς καὶ πλήξας αὐτὸν παραχρῆμα κτείνει, φθεγγομένην δ‘ ἔτι τὰς κλῃδόνας ἐκείνας τὴν ψυχὴν ἀφῆκε.
[308]
Besonders aber schrie er an den Festtagen: und indem er dies während sieben Jahren und fünf Monaten redete, wurde die Stimme weder kraftlos, noch ermüdete sie, bis er aufhörte, als er während der Belagerung die Ergebnisse des Rufens sah. [309]
Denn als er auf der Mauer herumgehend weithin vernehmlich laut schrie „Wehe der ganzen Stadt und dem Vok und dem Tempel“, da fügte er aber zuletzt hinzu „Wehe auch mir“. Ein Stein, von einem Katapult abgeschossen, traf und tötete ihn auf der Stelle. Überdies hörte [sein] Leben auf, als er diese Rufe von sich gab. (De bello judaico VI, 300 – 309; MÜ)
Die Parallelen zwischen den Berichten über die beiden Jesusse sind bemerkenswert:
Parallele | Kanonische Evangelien | Josephus |
Kommen beide zum Laubhüttenfest nach Jerusalem | Joh 7,2 | 300 |
Kündigen die Zerstörung von Stadt u. Tempel an | Mt 24,1-2; Mk 13,1-2; Lk 21,5-6 | 301, 309 |
Die Behörden greifen ein | Lk 23,13; 24,20 | 303 |
und bringen Jesus vor den Statthalter | Mt 27,2; Mk 15,1; Lk 23,1; Joh 18,28 | 303 |
Dort wird er gegeißelt | Mt 27,26; Mk 15,15 | 304 |
Der Statthalter verhört ihn | Mt 27,11-14; Mk 15,2-5; Lk 23,2-5; Joh 18,29-38 | 305 |
Jesus antwortet ihm nicht | Mt 27,14; Mk 15,5; vgl. Lk 23,9 | 305 |
Bemerkenswert ist auch das Verb, das im Zusammenhang mit der Freisprechung des Angeklagten verwendet wird: ἀπολύω (apolýō). Josephus verwendet es, als Albinus Jesus, den Sohn des Ananos, freispricht (305); die kanonischen Evangelien verwenden es gehäuft im Zusammenhang mit Pilatus und Jesus von Nazareth: Mt viermal im Abschnitt 27,15-26; Mk viermal im Abschnitt 15,6-15; Lk fünfmal im Abschnitt 23,16-25; Joh bringt das Verb dreimal in seiner Passion (Joh 18,39; 19,10+12).
Wann hat Josephus seinen Text geschrieben? Er lebte von 37-100 n.d.Z. und ist damit wohl ein Zeitgenosse der Evangelisten. Damit ist die Frage nach einer literarischen Abhängigkeit – in welche Richtung auch immer – nicht beantwortet. Trotzdem empfinde ich den Bericht des Josephus als Warnung, die Datierung des Mk-Evangeliums an einem »vaticinium ex eventu« festmachen zu wollen. Josephus zeigt, dass es sehr wohl vorstellbar war, schon vorher die Zerstörung der Stadt anzukündigen.
Aber ist dieser Bericht auch historisch? Ein Blick in das Leben der Caesaren bei Sueton zeigt doch, dass die antiken Schriftsteller solche Omen-Sammlungen liebten. Das ist natürlich richtig – aber ist damit die Nicht-Historizität der Verkündigung des Jesus Sohn des Ananos erwiesen?
Ich möchte abschließend festhalten, dass ich damit nicht einer Frühdatierung des Mk-Evangeliums das Wort rede – im Sinne von, dann müsse Mk bereits vor 70 geschrieben haben. Ich bezweifle aber, dass sich das Wort von der Tempelzerstörung überhaupt zur Datierung des Mk eignet. Aber was bleibt dann? Dazu später einmal mehr.
Die , m.E. schlechte, Gewohnheit der Aufklärungstheologie Jesus die Möglichkeit abzusprechen in die Zukunft zu schauen, hat zu einer, bis heute andauernden sinnlosen Datierungsdiskussion geführt. Sie war nichts Unübliches und auch für Jesus nicht besonders . Das Judentum kannte dazu die „Bath-Kol“, die innere, manchmal auch äußerlich gehörte Stimme.“ Sie könnte bei der Jordantaufe geklungen haben. Der Ananas-Jesus ist deswegen interessant, aber zeigt aber nur die Normalität von Übersinnlichkeit in der damaligen Zeit.