Die Legenden zur Entstehung der Septuaginta III

Im letzten Beitrag hatte ich gezeigt, wie Justin von Rom (gest. 162/168) die erstmals im Aristeas-Brief greifbare Legende charakteristisch abgewandelt hatte. Noch deutlich weiter geht Irenäus von Lyon, der allerdings Motive des Justin aufgreift.

Bei dem nun folgenden Abschnitt aus dem Hauptwerk des Irenäus sind wir in der glücklichen Lage, nicht nur eine anonyme lateinsche Übersetzung zu haben, sondern – dank der Kirchengeschichte des Eusebius 1 – auch den griechischen Text. Ich biete hier beide Fassungen.

Gegen die Häresien III,21,2

Griechischer Text

Πρὸ γὰρ τοὺς Ῥωμαίους κρατῦναι τὴν ἀρχὴν αὐτῶν, ἔτι τῶν Μακεδόνων τὴν Ἀσίαν κατεχόντων, Πτολεμαῖος ὁ Λάγου, φιλοτιμούμενος τὴν ὑπ᾽ aὐτοῦ κατεσκευασμένην βιβλιοθήκην ἐν Ἀλεξανδρείᾳ κοσμῆσαι τοῖς πάντων ἀνθρώπων συγγράμμασιν, ὅσα γε σπουδαΐα ὑπῆρχεν, ᾐτήσατο παρὰ τῶν Ἱεροσολυμιτῶν εἰς τὴν Ἑλληνικὴν διάλεκτον σχεῖν αὐτῶν μεταβεβλημένας τὰς Γραφάς. Οἳ δὲ (ὑπήκουον γὰρ ἔτι τοῖς Μακεδόσι τότε) τοὺς παρ᾽ αὐτοῖς ἐμπειροτάτους τῶν Γραφῶν, καὶ ἀμφοτέρων τῶν διαλέκτων, ἑβδομήκοντα πρεσβυτέρους ἔπεμψαν Πτολεμαίῳ, ποιήσαντος τοῦ Θεοῦ ὅπερ ἠβούλετο.Ὁ δὲ ἰδίᾳ πεῖραν αὐτῶν λαβεῖν θελήσας, εὐλαβηθείς τε μήτι ἄρα συνθέμενοι, ἀποκρύψωσι τὴν ἐν ταῖς Γραφαῖς διὰ τῆς ἑρμηνείας ἀλήθειαν, χωρίσας αὐτοὺς ἀπ᾽ ἀλλήλων, ἐκέλευσε τοὺς πάντας τὴν αὐτὴν ἑρμηνείαν γράφειν˙ καὶ τοῦτ᾽ ἐπὶ πάντων τῶν βιβλίων ἐποίησε. Συνελθόντων δὲ αὐτῶν ἐπὶ τὸ αὐτὸ παρὰ τῷ Πτολεμαίῳ, καὶ συναντιβαλόντων ἑκάστου τὴν ἑαυτοῦ ἑρμηνείαν, ὁ μὲν Θεὸς ἐδοξάσθη, αἱ δὲ Γραφαὶ ὄντως θεῖαι ἐγνώσθησαν, τῶν πάντων τὰ αὐτὰ ταῖς αὐταῖς λέξεσι, καὶ τοῖς αὐτοῖς ὀνόμασιν ἀναγορευσάντων ἀπ᾽ ἀρχῆς μέχρι τέλους, ὥστε καὶ τὰ παρόντα ἔθνη γνῶναι, ὅτι κατ᾽ ἐπίπνοιαν τοῦ Θεοῦ εἰσιν ἡρμηνευμέναι αἱ Γραφαί. Καὶ οὐδέν γε θαυμαστὸν, τὸν Θεὸν τοῦτο ἐνηργηκέναι, ὅς γε καὶ ἐν τῇ ἐπὶ Ναβουχοδονόσορ αἰχμαλωσίᾳ τοῦ λαοῦ διαφθαρεισῶν τῶν Γραφῶν, καὶ μετὰ ἑβδομήκοντα ἔτη τῶν Ἰουδαίων ἀνελθόντων εἰς τὴν χώραν αὐτῶν, ἔπειτα ἐν τοῖς χρόνοις Ἀρταξέρξου τοῦ Περσῶν βασιλέως, ἐνέπνευσεν Ἔσδρᾳ τῷ ἱερεῖ ἐκ τῆς φυλῆς Λευὶ, τοὺς τῶν προγεγονότων προφητῶν πάντας ἀνατάξασθαι λόγους, καὶ ἀποκαταστῆσαι τῷ λαῷ τὴν διὰ Μωσέως νομοθεσίαν. (MPG VII, 947-949)

Lateinischer Text

Prius enim quam Romani possiderent regnum suum, adhuc Macedonibus Asiam possidentibus, Ptolemæus Lagi filius, cupiens eam bibliothecam, quæ a se fabricata esset in Alexandria, omnium hominum dignis conscriptionibus ornare, petiit ab Hierosolymitis in Græcum sermonem interpretatas habere Scripturas eorum. Illi vero (obediebant enim tunc adhuc Macedonibus), eos quos habebant perfectiores Scripturarum intellectores et utriusque loquelæ, septuaginta seniores miserunt Ptolemæo, facturos hoc quod ipse voluisset. Ille autem experimentum eorem sumere volens, et metuens ne forte consentientes, eam veritatem, quæ esset in Scripturis, abscenderent per interpretationem; separans eos ab invicem, jussit omnes eadem interpretari Scripturam: et hoc in omnibus libris fecit. Convenientibus autem ipsis in unum apud Ptolemæum, et comparantibus suas interpretationes, Deus glorificatus est, et Scripturæ vere divinæ creditæ sunt, omnibus eadem, et eisdem verbis, et eisdem nominibus, recitantibus ab initio usque ad finem, uti et præsentes gentes cognoscerent, quoniam per aspirationem Dei interpretatæ sunt Scripturæ. Et non esse mirabile Deum hoc in eis operatum, quando in ea captivitate populi, quæ facta est a Nabuchodonosor, corruptis Scripturis, et post septuaginta annos Judæis descendentibus in regionem suam, post deinde temporibus Artaxerxis Persarum regis inspiravit Esdræ sacerdoti tribus Levi, præteritorum prophetarum omnes rememorare sermones, et restituere populo eam legem, quæ data est per Moysem. (ebenda)

Deutsche Übersetzung

Bevor nämlich die Römer sich ihres Reiches bemächtigten, als noch die Mazedonier Asien besaßen, da bat Ptolomäus, der Sohn des Lagus, die Jerusalemitaner, ihre Schriften ins Griechische zu übersetzen, weil er seine in Alexandria angelegte Bibliothek mit den vorzüglichsten Schriftwerken aller Länder auszustatten wünschte. Jene nun, die damals noch den Mazedoniern untertan waren, schickten siebzig Älteste, die in den Schriften besonders bewandert waren und beide Sprachen beherrschten, zu Ptolomäus, damit sie seinem Wunsche willfahrten. 2 Um aber sicher zu gehen, und weil er fürchtete, daß sie vielleicht auf Verabredung die Wahrheiten der Schrift in ihrer Übersetzung verbergen möchten, sonderte er sie 3 voneinander ab und ließ alle dieselbe Schrift übersetzen 4, und so machte er es mit allen Büchern. Als diese nun vor Ptolomäus zusammen kamen und ihre Übersetzungen verglichen, da sagten alle zum Ruhme Gottes und zur Beglaubigung des göttlichen Charakters der Schriften dasselbe mit denselben Worten und denselben Ausdrücken von Anfang bis zu Ende, sodaß auch die anwesenden Heiden erkannten, daß unter göttlicher Inspiration die Schriften übersetzt waren. Und es ist wahrlich nicht wunderbar, wenn Gott bei ihnen 5 dies gewirkt hat. Hatte er doch auch nach der siebzigjährigen Gefangenschaft unter Nebukadnezar, als die Juden unter Artaxerxes in ihre Heimat zurückkehrten, da die Schriften verloren gegangen waren, dem Priester Esdras aus dem Stamme Levi eingegeben, daß er sich an alle Reden der früheren Propheten erinnerte und dem Volke das Gesetz wiederherstellte, das durch Moses gegeben war. (Ü: Ernst Klebba, BKV)

Anlass der Erzählung

Der Anlass für Irenäus, diese Erzählung zu bringen, ist die Auseinandersetzung um den Text von Jes 7,14 – die Emmanuel-Weissagung. Konfrontiert mit dem Umstand, dass der hebräische Text von einer »jungen Frau« und nicht – wie der griechische Text, den Mt 1,23 zitiert – von einer Jungfrau spricht, reagiert der Kirchenvater mit einer heftigen Polemik (die von Eusebius übrigens ausgelassen wurde):

Prophetatum est quidem, priusquam in Babylonem fieret populi transmigratio, id est, antequam Medi et Persæ acciperent principatum: interpretatum vero in Græco ab ipsi Judæis multum ante tempore adventus Domini nostri, ut nulla relinquatur suspicio, ne forte morem nobis gerentes Judæi, hæc it sint interpretati. Qui quidem si cognovissent nos futuros, et usuros his testimoniis quæ sunt ex Scripturis, quæ et reliquas omnes gentes manifestant participare vitæ, et eos qui gloriantur domum se esse Jacob, et populum Israel, et exhæreditatos ostendunt a gratia Dei. (MPG VII, 946-947)

Denn noch vor der babylonischen Gefangenschaft, d. h. bevor noch die Meder und Perser die Herrschaft antraten, wurde es geweissagt und ins Griechische übersetzt von den Juden selbst lange vor den Zeiten der Ankunft des Herrn, sodaß der Verdacht völlig ausgeschlossen ist, die Juden hätten dies so uns zuliebe übersetzt. Hätten sie unsere zukünftige Existenz bloß geahnt und gewußt, daß wir diese Zeugnisse aus den Schriften gebrauchen würden, so hätten sie niemals Bedenken getragen, selbst Ihre Schriften zu verbrennen, die da kundtun, daß auch alle übrigen Völker an dem Leben Anteil haben sollen, und die da zeigen, daß die, welche sich als das Haus Jakobs und das Volk Israel rühmen, von der Gnade Gottes enterbt sind. (Gegen die Häresien, III,21,1; Ü: Ernst Klebba, BKV)

Auswertung

Die »Lüge von den Zellen« (© Hieronymus) entspringt also einem anti-jüdischen Motiv: schon König Ptolemäus habe den Judäern nicht vertraut, und so ihre Übersetzung kontrollieren müssen. Im Unterschied zu Justin wählt Irenäus dabei den Altersbeweis: gerade das Alter der griechischen Übersetzung sei zusätzlicher Garant ihrer Zuverlässigkeit. Bei Justin sollte die späte Übersetzung zur Zeit des Herodes belegen, dass der hebräische Text ebensolang die christliche Lesart bezeugt habe. Beide gehen davon aus, dass »die Juden« aus purer Bosheit ihren Text verändert hätten.

Die von Irenäus erwähnte Vorstellung von der Neu-Erstellung der hebräischen Bibel nach dem Exil stammt übrigens aus dem Vierten Buch Esra.

Fortsetzung

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  1. HE V,8,11-15
  2. So der lateinische Text. Der griechische Text liest: »indem Gott erfüllte, was er beschlossen hatte.«
  3. Der griechische Text liest: »sie einzeln«
  4. Griechischer Text: »dieselbe Übersetzung schreiben«
  5. »bei ihnen« fehlt im griechischen Text

3 Gedanken zu „Die Legenden zur Entstehung der Septuaginta III“

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