Historisch-kritische vs. traditionelle Bibelauslegung?

Ein flüchtiger Blick auf die Artikel dieses Blogs zeigt, dass ich grosses Interesse an der traditionellen christlichen und jüdischen Bibelauslegung habe. Da scheint es nahezuliegen, eine Schublade aufzumachen: hier wird ein vorkritischer Zugang vertreten, der sich nicht auf der Höhe der derzeitigen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen bewegt. Aber muss das wirklich so sein? Ohne die Spannungen zwischen traditionellen und historisch-kritischen Zugängen leugnen zu wollen, haben mich einige Beobachtungen in den letzten Monaten zum Grübeln gebracht. Ich will das einmal an zwei Beispielen verdeutlichen.

Auch nach der grossen Krise der Pentateuchkritik wird die Annahme einer in ihren Ursprüngen auf das Ende der Königszeit zurückgehenden, mit dem Buch Deuteronomium verbundenen Traditionsschicht (D) weithin anerkannt (vgl. Gertz, § 5B). Ihre Spuren hinterlassen hat diese »Schule« ganz deutlich in 2 Kön 22, wo die Auffindung der Schriftrolle der Tora (sefær hattorah) im Tempel unter König Josia erzählt wird.

Ob die Geschichte inszeniert war oder nicht – dieses Buch aus dem Tempel wird gerne mit dem Deuteronomium (bzw. einer Urform des 5. Buches Mose) identifiziert. Der erste Zeuge für diese These ist übrigens niemand anderer als Hieronymus*, der in seinem Kommentar zu Ez 1,1 schreibt, dass sich die Zeitangabe dort auf die Regierungszeit  »des Josia des Königs von Juda« beziehen würden, »als das Buch Deuteronomium im Tempel Gottes gefunden worden ist« (MPL XXV 17).

Noch viel weitreichender ist eine Beobachtung der klassischen Ausleger, die Hugo de St. Victor († 1141) in seinem Lehrbuch (Didascalicon) überliefert. Demnach sei keiner der ursprünglichen Texte der hebräischen Bibel aus der Zeit vor der Zerstörung des ersten Tempels erhalten geblieben, sondern alle hätten ihre heutige Form erst in nachexilischer Zeit durch einen Redaktor erhalten. (vgl. Lehrbuch 4,4, in dieser Ausgabe S. 141 f.)

Das ist eine Aussage, die sich in einem aktuellen Lehrbuch genauso finden lässt. (vgl. Konrad Schmid, S. 36) Zu beachten ist dabei, dass Hugo nicht der Ursprung dieser Tradition ist, sondern hier vor allem Isidor von Sevilla († 636) referiert**. Die entscheidende Frage ist also meiner Meinung nach nicht die nach der Legitimität einer historisch-kritischen Untersuchung der Bibel, sondern: welche hermeneutischen Schlüsse werden aus ihr gezogen?

Literaturempfehlung zum Thema:

James L. Kugel: How to read the Bible: a Guide to Scripture, Then and Now

* Nachtrag: Mittlerweile (Oktober 2018) weiß ich, dass das nicht stimmt. Schon Flavius Josephus (stirbt um 100) schreibt in seinen jüdischen Altertümern bei der Zusammenfassung des Deuteronomiums:

ἔπειτα ποίησιν ἑξάμετρον αὐτοῖς ἀνέγνω, ἣν καὶ καταλέλοιπεν ἐν βίβλῳ ἐν τῷ ἱερῷ πρόρρησιν περιέχουσαν τῶν ἐσομένων, καθ᾽ ἣν καὶ γέγονε τὰ πάντα καὶ γίνεται, μηδὲν ἐκείνου διημαρτηκότος τῆς ἀληθείας.

»Danach las er ihnen eine hexametrische [also aus sechs Versfüßen bestehende] Dichtung vor, die er auch in einem Buch im Tempel hinterlassen hat, eine Vorhersage zukünftiger [Ereignisse] enthaltend, sowohl gemäß all dem was geschehen ist als auch geschieht, dabei in Nichts darin von der Wahrheit abkommend«. (IV,44,303; MÜ)

(Wer wissen will, auf welche anhaltenden Irrwege die Aussage des Josephus von den Hexametern geführt hat, lese bitte das grandiose Werk von James Kugel: The idea of biblical poetry.)

** Nachtrag: der eigentliche Ursprung dieser Tradition der Wiederherstellung der Bücher der hebräischen Bibel ist 4 Esra 4,23 und 14,1-49. Vgl. auch: Irenäus von Lyon († um 200 n. Chr.): Gegen die Häresien III,21,2

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