Ich untersuche hier, wie die ursprünglich im Bericht des Pseudo-Aristeas erzählte Legende weitergewachsen ist und im jungen Christentum transformiert wurde.
Zunächst ein chronologischer Überblick 1 über die weiteren Zeugen.
Autor | Todesjahr es Autors |
Justin von Rom | 162/168 |
Irenäus von Lyon | Ende des 2. Jh. |
Clemens von Alexandria | 215 |
Cyrill von Jerusalem | 386 |
Augustinus von Hippo | 430 |
Pseudo-Aristeas hatte ja berichtet, dass die Tora von zweiundsiebzig Männer (sechs aus jedem der Zwölf Stämme) in zweiundsiebzig Tagen unter König Ptolemäus in Alexandria ins Griechische übersetzt worden sei. Was macht Justin daraus?
Justin von Rom
[31] Ἄνθρωποι οὖν τινες ἐν Ἰοθδαίοις γεγήνηνται Θεοῦ προφῆται, δι᾽ ὦν τὸ προφητικὸν Πνεῦμα προεχήρυξε τὰ γενήσεσθαι μέλλοντα, πρὶν ἢ γενέσθαι· καὶ τούτων οἱ έν Ἰουδαίοις κατὰ καιροὺς γενόμενοι βασιλεῖς, τὰς προφητείας ὡς ἐλέχθησαν ὅτε προεφητεύοντο, τῇ ἰδίᾳ αὐτῶν Ἑβραΐδι φωνῇ ἐν βιβλίοις ὑπ᾽ αὐτῶν τῶν προφητῶν συντεταγμένας κτώμενοι, περιεῖπον. Ὅτε δὲ Πτολεμαῖος ὁ Αἰγυπτίνων βασιλεὑς βιβλιοθήκην κατεσχεύαζε, καὶ τὰ πάντων ἀνθρώπων συγγράμματα συνάγειν ἐπειράθη, πυθόμενος καὶ περὶ τῶν προφητειῶν τούτων, προσέπεμψε τῷ τῶν Ἰουδαίων τότε βασιλεύοντι Ἡρώδῃ, ἀξιῶν διαπεμφθῆναι αὐτῷ τὰς βίβλους τῶν πρφητειῶν. Καὶ ὁ μὲν βασιλεὺς Ἡρώδης τῇ προειρημένῃ Ἑβραΐδι αὐτῶν φωνῇ γεγραμμένας διεπέμψατο. Ἐπειδὴ δὲ οὐκ ἦν γνώριμα τὰ ἐν αὐταῖς γεγραμμένα τοῖς Αἰγυπτίοις, πάλιν αὐτὸν ἠξίωσε πέμψας τοὺς μεταβαλοῦντας αὐτὰς εἰς τὴν Ἡλλάδα φωνὴν ἀνθρώπους ἀποστεῖλαι. Καὶ τούτου γενομένου, ἔμειναν αἱ βίβλοι καὶ παρ᾿ Αἰγυπτίοις μέχρι τοῦ δεῦρο, καὶ πανταχοῦ παρὰ πᾶσίν εἰσιν Ἰουδαίοις˙ οἵ καὶ ἀναγινώσκοντες οὺ συνιᾶσι τὰ εἰρημένα, ἀλλ᾽ ἐχθροὺς ἡμᾶς καὶ πολεμίους ἡγοῦνται, ὁμοίως ὑμῖν ἀναιροῦντες καὶ κολάζοντες ἡμᾶς ὁπόταν δύνωνται, ὡς καὶ πεισθῆναι δύνασθε. (MPG VI, 376)
Es sind also bei den Juden einzelne Männer als Propheten Gottes aufgetreten, durch die der prophetische Geist die Dinge der Zukunft, ehe sie wirklich eintrafen, vorherverkündet hat. Und die bei den Juden jedesmal regierenden Könige haben die Weissagungen, die von den Propheten selbst in genauem Wortlaut und in ihrer hebräischen Muttersprache schriftlich aufgezeichnet worden waren, in ihren Besitz gebracht und sorgfältig aufbewahrt. Als aber der ägyptische König Ptolemäus eine Bibliothek einrichtete und die Schriftwerke aus aller Welt zusammenzubringen suchte, erfuhr er auch von diesen Prophezeiungen und wandte sich an den damaligen Judenkönig Herodes mit der Bitte, ihm die prophetischen Bücher zu übersenden. Und der König Herodes schickte sie ihm, geschrieben in der obengenannten hebräischen Sprache. Weil aber ihr Inhalt den Ägyptern nicht verständlich war, ließ er ihn durch eine neue Gesandtschaft ersuchen, ihm Männer zu senden, die sie ins Griechische übertragen sollten. Das geschah, und nun blieben die Bücher auch bei den Ägyptern bis auf den heutigen Tag; außerdem befinden sie sich allerorten bei allen Juden, die aber, wenn sie darin lesen, ihren Sinn nicht verstehen; vielmehr halten sie uns für Gegner und Feinde und suchen uns, wenn sie können, gerade wie ihr zu töten und zu peinigen.
(Erste Apologie 31; Ü: Gerhard Rauschen, BKV)
Auswertung
Die Zahlenangaben sind Justin hier egal, 2 und die Tora spielt bei ihm auch keine Rolle. Bei ihm sind die prophetischen Bücher übersetzt worden und er verlegt diese Übersetzung in eine deutlich spätere Zeit. Statt unter dem ägyptischen König Ptolemäus 3 im 3. Jh. vor Christus setzt Justin die Übersetzung in der Zeit des Königs Herodes 4 an, also gut 250 Jahre später!
Migne bemerkt dazu in seinem kritischen Apparat: »das ist offensichtlich ein Fehler« und verweist auf die These, hier liege ein Versehen der Kopisten vor: sie hätten aus dem griechischen Ausdruck für Priester-König (βασιλεύων ἱερεύς), wie er bei Josephus verwendet wurde, einen »König Herodes« gemacht (βασιλεὺς Ἡρώδης). Migne hält diese Erklärung nicht für überzeugend, und führt weiters die Aussage von Usserius aus dem 17. Jh. an, dass zur Zeit des Herodes in der Tat ein Wissenstransfer zwischen Ägypten und Jerusalem, zwischen Kleopatra und Herodes stattgefunden habe. Im weiteren Fortlauf seiner Anmerkungen nennt er die Erwähnung des Herodes einen »offensichtlichen Anachronismus« und schliesst: »Es scheint, dass der Fehler eher Justin als den Schreibern anzurechnen ist.«
So überraschend es auch scheinen mag, ich denke, dass die von Migne zitierte These 5 von James Usher (Jacobus Usserius – 1581-1656) Beachtung verdient. Damit meine ich nicht, dass sie zutreffend wäre – aber es kommt historisch betrachtet gerade in der Zeit von Herodes zu einer Standardisierung des protomasoretischen Textes der hebräischen Bibel. Armin Lange hat gezeigt, dass dieser Prozess dabei etwas früher im Ägyptischen Judentum einsetzte und dann auf Judäa übergriff. 6 Er folgert daraus:
Die römische Eroberung und die Herrschaft Herodes des Großen dürfte zu einer Blütezeit der Buchkultur und Traditionspflege geführt haben. 7
Es kann hier also nicht darum gehen, wie getreu Justin eine ohnehin legendarische Überlieferung weitergibt – die Frage ist doch, warum er sie so charakteristisch abwandelt? Drei Punkte sind auffällig:
- Justin ist nur an den prophetischen Büchern interessiert. Die Zuverlässigkeit ihrer Überlieferung soll durch die Übernahme des Motivs aus dem Bericht von Pseudo-Aristeas unterstrichen werden.
- Justin ist es wichtig, dass die griechische Fassung der Prophetenbücher aus der Lebzeit Jesu stammt, deswegen sein Verweis auf Herodes, unter dessen Herrschaft Jesus nach Mt 2,1 geboren wurde.
- Seine judenfeindliche Aussage, die Juden würden ihre eigene Schrift nicht verstehen, die ihnen aber an allen Orten vorliege.
Wichtig ist der Kontext seiner Aussage: die Zuverlässigkeit der Propheten, die Jesus vorausgesagt haben, soll erwiesen werden: »Es wurde das teils 5000, teils 3000, teils 2000, 1000 und 800 Jahre vor seiner Ankunft vorherverkündet« – und die Übersetzung zur Zeit des Herodes belegt für Justin die anhaltende Geltung und Zuverlässigkeit der Überlieferung. So will er Differenzen zwischen dem hebräischen Text und seiner griechischen Überlieferung dadurch »erklären«, dass die Juden die von Haus aus richtige Übersetzung nachträglich verfälscht hätten, 8um die Hinweise auf Jesus zu unterdrücken.
Fazit
Die von Pseudo-Aristeas für das alexandrinische Judentum und seine Tora überlieferte Legende wird von Justin in apologetischer Weise abgewandelt, um sie als Argument für seine christliche Lesart der Propheten einzusetzen.