In der von ihm und Stefan Schreiber herausgegebenen Einleitung in das Neue Testament sieht der Bonner Neutestamentler Martin Ebner den Evangelisten Markus in einem Diskurs mit der Vita des Kaisers Vespasian, der die Vita des Jesus von Nazaret gleichsam kontrastierend gegenübergestellt werde. Hier meine Anfragen an diese These.
Für Ebner »spielt« Markus »mit Parallelisierungen und Kontrastierungen«, etwa wenn Jesu – wie nach ihm Vespasian – von Caesarea Philippi nach Jerusalem aufbricht. Auf den Vergöttlichungs-Anspruch Vespasians reagiere der Centurio unter dem Kreuz Jesu mit dem Ausruf: »Wirklich, dieser Mensch war ein Sohn eines Gottes«. Mit dem typisch markinischen Schweigegebot, das im ältesten der kanonischen Evangelien die Wundererzählungen häufig begleitet, 1 reagiere Markus auf das inszenierte Beglaubigungswunder Vespasians, das bei Tacitus und Sueton überliefert wurde. Erst durch diese Parallele gewönne das Messiasgeheimnis der älteren Auslegung eine »neue Tiefenschärfe«. Die Worte Jesu über das Herrschen und Dienen habe Markus als direkte Zurückweisung der Herrschaftsideologie des Prinzipats verstanden. Die Passion Jesu sei geradezu als Umkehrung des kaiserlichen Triumphzuges in Rom gestaltet, die Auferweckung Jesu eine Apotheose. »Das Urmodell ist Herakles.«
1. Anfrage: Argumentum ex silentio
Wie kann es sein, dass Οὐεσπασιανὸς (Vespasian), dessen Vita für die Darstellung des Markus angeblich so zentral ist, bei ihm namentlich mit keinem Wort erwähnt wird? 2 Selbst der Begriff des Καῖσαρ (Cäsar) kommt bei Markus nur in der Perikope vor, in der es darum geht, ob man dem Kaiser Steuern zahlen soll oder nicht. 3
2. Anfrage: Anachronismus
Markus kann die Darstellung des Tacitus und des Sueton nicht gekannt haben, da er Jahrzehnte vor ihnen schreibt. Er müsste also wohl Ohren- oder Augenzeuge der genannten Ereignisse gewesen sein, da auch Josephus Flavius sein Werk erst zwischen 75 und 79 auf Griechisch veröffentlichte. 4 Wenn Markus also nicht in Rom war, was wird dann aus den Ebnerschen Thesen?
3. Ockhams Rasiermesser
Für die Augenzeugenschaft des Markus in Rom beim Triumphzug des Vespasian, den er dann in seinem Evangelium verarbeitet habe, führt Ebner den »gespaltenen Vorhang« im Tempel an, der nach Josephus auf dem Triumphzug des Vespasian gezeigt wurde und schreibt: »Über diese Informationen kann entweder ein Jude verfügen, der vor 70 im Jerusalemer Tempel gebetet hat (das scheidet für unseren Verf. aus), oder jemand, der als Zuschauer in Rom dem Triumphzug der Flavier nach der Zerstörung Jerusalems beigewohnt hat.« Wie wäre es stattdessen mit: ein Jude, dem Levitikus 16 geläufig war?
Dass ein Centurio unter dem Kreuz stand, ist eine historische Tatsache und dessen Aussage über den Gekreuzigten hat meiner Meinung nach viel mit dem markinischen Messiasgeheimnis, aber nichts mit Vespasian zu tun.
Sind das nicht zu viele nicht zwingende Annahmen für die Vita-Vespasian-These?
4. Caesarea Philippi
Über den Aufenthalt Vespasians in Caesarea Philippi schreibt Josephus:
Οὐεσπασιανὸς δὲ καθ᾽ ἱστορίαν τῆς Ἀγρίππα βασιλείας, ἐνῆγεν γὰρ βασιλεὺς αὐτόν, ἅμα καὶ δεξιώσασθαι τὸν ἡγεμόνα σὺν τῇ στρατιᾷ τῷ κατὰ τὸν οἶκον ὄλβῳ προαιρούμενος καὶ καταστεῖλαι δι᾽ αὐτῶν τὰ νοσοῦντα τῆς ἀρχῆς, ἄρας ἀπὸ τῆς παράλου Καισαρείας εἰς τὴν Φιλίππου καλουμένην μεταβαίνει Καισάρειαν. ἔνθα μέχρι μὲν ἡμερῶν εἴκοσι τὴν στρατιὰν διαναπαύων καὶ αὐτὸς ἐν εὐωχίαις ἦν, ἀποδιδοὺς τῷ θεῷ χαριστήρια τῶν κατωρθωμένων.
»Vespasian brach zum Besuch des Königreichs Agrippas – denn der König trieb ihn (dazu) an, weil er den Anführer [= den Kaiser] mit dem Heer entsprechend dem Reichtum des Hauses durch Handschlag begrüßen, als auch die kränkelnden Gebiete in seinem Reich in Ordnung bringen wollte – von dem am Meer gelegenen Cäsarea auf; er zog zu dem nach Philippus benannten Cäsarea. Dort ließ er das Heer sich zwanzig Tage lang erholen und gab sich dem Wohlleben hin, während er dem Gott Dankesgaben für die glücklich ausgegangenen (Kämpfe) erfüllte.« 5
(Geschichte des Jüdischen Kriegs III,9,7; MÜ)
Vespasian war also dort, weil es ein angenehmer Ort zur Erholung war. Und Jesus? Joachim Gnilka in seinem klassischen Markus Kommentar: »Weil die Wanderschaft Jesu im folgenden stetig näher an Jerusalem heranführt, ist dieser entfernteste Punkt für die Eröffnung des Leidensgedankens gut gewählt.« Die Vita Vespasiani ist also nicht notwendig für die Wahl dieses Ortes – wobei wieder zu fragen wäre, woher Markus dann diese Information im Ebnerschen Sinn gehabt haben soll?
5. Die Apotheose
Hier möchte ich den Großmeister selbst zu Wort kommen lassen, der über die ersten Christen sagt: »Nichtsdestoweniger, ob Griechisch oder Aramäisch sprechend (oder Hebräisch), alle Anzeichen weisen darauf hin, dass alle diese jüdischen Gläubigen von ihrer Ergebenheit gegenüber der Gottheit ihrer Vorfahren und von der exklusivistischen Haltung, die das Judentum des Zweiten Tempels charakterisierte, überzeugt waren. Es gibt keinen Hinweis, dass sie (oder die meisten anderen Juden jener Zeit), ob in der jüdischen Heimat oder der Diaspora, sich an die größere ‚heidnische‘ Kultur in der Frage der Anbetung der vielen Götter jener Zeit angepasst hätten, oder durch die Akzeptanz der Apotheose der Herrschenden usw.« (MÜ)
In meinen bescheidenen Worten: warum soll Markus ein Konzept aufgreifen, dass er entschieden ablehnen musste? Wieso erzählt der Engel im Grab am Ende seines Evangeliums das Glaubensbekenntnis aus 1 Kor 15? Und dort ist eindeutig von keiner Apotheose die Rede ….
6. Die Schrift
Was bei Ebner meines Erachtens übersehen wird, sind die vielen Schriftbezüge des Markus. Ich verweise etwa auf die entscheidende Rolle der Akeda. Man vergleiche nur einmal Gen 22,2 LXX
τὸν υἱόν σου τὸν ἀγαπητόν, ὃν ἠγάπησας
mit Mk 1,11
σὺ εἶ ὁ υἱός μου ὁ ἀγαπητός, ἐν σοὶ εὐδόκησα.
Oder man vergleiche Gen 22,14 LXX mit Mk 9,2-10.
Auch beim Wort vom Herrschen und Dienen (Mk 10,42-45 – die Aussage über die Herrschenden und die Großen steht im Plural!) wird der Schrift-Bezug nicht aufgezeigt: das damit verbundene Wort vom Lösegeld (λύτρον) hat sicher etwas mit Ex 21,30 und Lev 25 zu tun, aber was mit Vespasian?
7. Zusammenfassung
Ein wenig kommt mir die Markus-reagiert-auf-die-Vita-Vespasian-These so vor, als ob man behaupten würde, dass Lukas mit seinem Evangelium auf die Odyssee antworten würde: auch dort wird das Kommen des Retters als Evangelium bezeichnet (Od XIV,166); er kommt in Knechtsgestalt (Od XIII,429 ff.) und Hirten nehmen ihn auf (Od XIV 410 ff.) – und überhaupt, spricht Jesus nicht ausdrücklich von der Situation im Haus des Odysseus (Lk 12,42 ff.)? Nur dass bei Lukas Jesus seine Feinde am Schluss nicht abschlachtet, sondern sich für sie töten lässt …
Dabei: Lukas reagiert in seinem Weihnachtsevangelium eindeutig auf den Kaiserkult, aber ohne dass das sein ganzes Doppelwerk bestimmen würde.
Unterstützt denn aber nicht der Gegenstand des ursprünglichen „Evangeliums“ (frohe Botschaften, Wunderpropaganda des römischen Kaisers) diese These?
Wieso sollte Markus sein Werk „Evangelium“ nennen, wenn nicht als Anlehnung an die römischen Evangelien?
Meines Wissens wurde eine antike Kaiserbiografie nie als „Evangelium“ bezeichnet. Der Begriff als Zusammenfassung des Wirkens und Lebens Jesu lag ja schon bei Paulus vor (Röm 1,1) und hat auch einen Hintergrund in der LXX (Jes 52,7 als Verb). Und dass der Messias Wunder wirkt, liegt nicht daran, dass er einen Vespasian überbieten muss – den biblischen Hintergrund habe ich hier gezeigt.