Morija lautet der Namen des Berges, auf dem Abraham seinen Sohn fesselte und auf den Altar legte. Ich plädiere dafür, diesen Namen von der hebräischen Wurzel des Verbs »sehen« abzuleiten. Dafür gibt es gute österliche Gründe.
Ich lese die Erzählung von der Bindung Isaaks auch als Ätiologie des Jerusalemer Tempels. Der entscheidende Vers dafür ist meiner Meinung nach:
וַיִּקְרָא אַבְרָהָם שֵֽׁם־הַמָּקוֹם הַהוּא יְהוָה ׀ יִרְאֶה אֲשֶׁר יֵאָמֵר הַיּוֹם בְּהַר יְהוָה יֵרָאֶֽה׃
Und Abraham rief den Namen dieses Ortes: JHWH wird sehen, denn man sagt bis heute: auf einem Berg wird sich JHWH sehen lassen. (Gen 22,14; MÜ)
Die LXX macht daraus:
καὶ ἐκάλεσεν Αβρααμ τὸ ὄνομα τοῦ τόπου ἐκείνου Κύριος εἶδεν, ἵνα εἴπωσιν σήμερον ᾿Εν τῷ ὄρει κύριος ὤφθη.
Und Abraham rief den Namen jenes Ortes: Der Herr sah, damit sie heute sagen: Auf dem Berg zeigte sich der Herr. (Gen 22,14; MÜ)
Etwas Grammatik
Die letzte Verbform verdient eine nähere Betrachtung: ὤφθη (ṓphthē) ist die dritte Person Singular, Indikativ, Aorist Passiv von ὁράω (horáō) – was sehen bedeutet. In seiner passiven Bedeutung kann man es aber auch mit gesehen werden, sichtbar werden oder sich zeigen übersetzen.
Ich möchte auf einen sehr bekannten Text verweisen, der eine ungewöhnliche Häufung exakt dieser grammatikalischen Form beinhaltet.
Das älteste Glaubensbekenntnis des NT
Die Passage findet sich im ersten Korintherbrief des Paulus:
3 παρέδωκα γὰρ ὑμῖν ἐν πρώτοις, ὃ καὶ παρέλαβον, ὅτι Χριστὸς ἀπέθανεν ὑπὲρ τῶν ἁμαρτιῶν ἡμῶν κατὰ τὰς γραφὰς
4 καὶ ὅτι ἐτάφη καὶ ὅτι ἐγήγερται τῇ ἡμέρᾳ τῇ τρίτῃ κατὰ τὰς γραφὰς
5 καὶ ὅτι ὤφθη Κηφᾷ εἶτα τοῖς δώδεκα·
6 ἔπειτα ὤφθη ἐπάνω πεντακοσίοις ἀδελφοῖς ἐφάπαξ, ἐξ ὧν οἱ πλείονες μένουσιν ἕως ἄρτι, τινὲς δὲ ἐκοιμήθησαν·
7 ἔπειτα ὤφθη Ἰακώβῳ εἶτα τοῖς ἀποστόλοις πᾶσιν·
8 ἔσχατον δὲ πάντων ὡσπερεὶ τῷ ἐκτρώματι ὤφθη κἀμοί.
3 Denn ich überliefere euch zuerst, was auch ich empfing, dass der Messias gemäß den Schriften für unserer Sünden starb,
4 und dass er begraben wurde und gemäß den Schriften am dritten Tag auferweckt worden ist
5 und dass er sich Kephas zeigte (ṓphthē), dann den Zwölf;
6 danach zeigte er sich (ṓphthē) über fünfhundert Brüdern zugleich, von denen die meisten bis jetzt fortbestehen, einige aber entschliefen;
7 danach zeigte er sich (ṓphthē) dem Jakobus, dann allen Aposteln;
8 aber als Letztem von Allen, gleichsam als Fehlgeburt, zeigte er sich (ṓphthē) auch mir.
(1 Kor 15,3-8; MÜ)
In sechs Versen fällt viermal dieses Schlüsselwort aus den Abrahamserzählungen. 1
Auf dem Berg der Verklärung
Rudolf Bultmann hat die Erzählung von der Verklärung Jesu eine »ursprüngliche Auferstehungsgeschichte« 2 genannt. In Markus 9 heißt es:
2 Und nach sechs Tagen nahm Jesus mit sich Petrus, Jakobus und Johannes und führte sie auf einen hohen Berg, nur sie allein. Und er wurde vor ihnen verklärt;
3 und seine Kleider wurden hell und sehr weiß, wie sie kein Bleicher auf Erden so weiß machen kann.
4 Und es erschien ihnen (ṓphthē) Elia mit Mose und sie redeten mit Jesus. (Ü: Luther 1984)
Auf einem Berg wird sich der Kyrios sehen lassen.
Sogar die Rabbinen waren sich uneins über die Bedeutung (vgl. Taanit 16a): »Weshalb heisst dieser Berg Morija? ( מאי הר המוריה ) Hierüber streiten sich R. Levi b.Hama und R. Hanina ( פליגי בה רבי לוי בר חמא ורבי חנינא ); einer erklärt, weil von diesem Belehrung für Jisrael ausging ( חד אמר הר שיצא ממנו הוראה לישראל ), und einer erklärt, weil von diesem aus ein Schrecken für die weltlichen Völker ausging ( וחד אמר הר שיצא ממנו מורא לאומות העולם ).«
(deutsche Übersetzung aus: Der babylonische Talmud, übertragen durch Lazarus Goldschmidt, Berlin 1930, Bd III, S. 686)
Sie gehen demnach von den Wurzeln »lehren« ( ירה ) resp. »fürchten« ( ירא ) aus.
PS Eines ist sicher: Zählt man noch »sehen« ( ראה ) zu diesem Trio, so würden sich vor allem die geplagten Hebräisch-Studenten vor den kaum unterscheidbaren Paradigmen fürchten….
Damit zitiert der Bavli ja die Diskussion aus Bereschit Rabba. Ich denke, die Uneinigkeit in der Herleitung ist auch Ausdruck dafür, dass sie bereits in der Antike nicht mehr klar war. Umso mehr gab sie Gelegenheit zu den unterschiedlichen Auslegungen.