Schon Origenes (um 185 – etwa 253) hatte versucht zu zeigen, dass Mt 5,17 gerade nicht das bedeutet, was der Litteralsinn des Textes besagt: dass Jesus die andauernde Geltung von Tora und Propheten verkündet hat. Der in dieser Tradition stehende Johannes Chrysostomos (um 349 – 407) schlägt deutungsmässig einen anderen Weg ein, kommt aber zu einem ähnlichen Ergebnis.
In seinen Predigten über das Matthäusevangelium kommt der Patriarch von Konstantinopel auf unseren Vers zu sprechen. Er beginnt seine Auslegung, indem er nach dem Anlas dieses Ausspruchs Jesu fragt:
Μὴ νομίσητε, ὅτι ἦλθον καταλῦσαι τὸν νόμον ἢ τοὺς προφήτας. Τίς γὰρ τοῦτο ὑπώπτευσεν ἥ τίς ἐνεκάλεσεν ἵνα πρὸς τοῦτο ποιήσηται τὴν ἀπάντησιν; Οὐδὲ γὰρ ἐκ τῶν εἰρημένων τοιαύτη τις ὑποψία ἐτίκτετο· (MPG LVII 237 ff.)
»Meint nicht, dass ich gekommen bin, um das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Doch wer vermutete das oder wer machte den Vorwurf, so dass er darauf die Entgegnung macht! Doch wohl nicht wegen des (vorher in der Bergpredigt) Gesagten – wer kann einen solchen Verdacht in die Welt setzen?« (Homilie XVI,1 zum Matthäusevangelium; MÜ)
Mit diesem brillanten rhetorischen Einstieg schafft es der Patriarch, die Anhänger und Anhängerinnen Jesu als Adressaten dieses Verses aus dem Spiel zu nehmen: für Chrysostomos darf sich dieses Wort der Bergpredigt nicht an die Christen richten. Das ist eine Auslegung, deren Wirkung bis heute anhält. Aber an wen spricht Christus dann seiner Meinung nach an?
Τί δήποτε οὖν τοῦτο εἴρηκεν; Οὐχ ἁπλῶς, οὐδὲ εἰκῆ· ἀλλ‘ ἐπειδὴ μείζονα τῶν παλαιῶν ἔμελλε νομοθετεῖν παραγγελμάτων, λέγων· Ἠκούσατε, ὅτι ἐῤῥέθη τοῖς ἀρχαίοις· Οὐ φονεύσεις· ἐγὼ δὲ λέγω ὑμῖν· Μηδὲ ὀργίζεσθε· καὶ θείας τινὸς καὶ οὐρανίου πολιτείας τέμνειν ὁδόν· ἵνα μὴ τὸ ξένον ταράξῃ τῶν ἀκουόντων τὰς ψυχὰς, καὶ διαστασιάζειν παρασκευάσῃ πρὸς τὰ λεγόμενα, ταύτῃ κέχρηται τῇ προδιορθώσει. (MPG LVII 239)
»Warum in aller Welt hat er das nun gesagt? Nicht einfach so, und auch nicht unüberlegt: Sondern weil er ja beabsichtigte, größere als die alten Weisungen zu verordnen, sagt er: Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt wurde: du sollst nicht töten! ( Mt 5,21 f.) Ich aber sage euch: geratet nicht einmal in Zorn! (vgl. Mt 5,22) Und um den Weg eines göttlichen und himmlischen Lebenswandels einzuschlagen: damit nicht das unbekannte die Seelen der Zuhörer verwirrte, und zum Aufwiegeln gegen das Gesagte anstiftete, hat er sich auf dieser Weise der Richtigstellung 1 bedient.« (Homilie XVI,1 zum Matthäusevangelium; MÜ)
Pädagogische Verschleierung
Der eigentliche Grund für die Aussage Jesu ist nach Chrysostomus die Verschleierung seiner eigentlichen Absicht gegenüber seinen jüdischen Zuhörern, »größere als die alten Weisungen zu verordnen«:
Εἰ γὰρ καὶ μὴ ἐπλήρουν τὸν νόμον, ἀλλ‘ ὅμως πολλῇ κατείχοντο πρὸς αὐτὸν συνειδήσει, καὶ τοῖς πράγμασιν αὐτὸν καθ‘ ἑκάστην παραλύοντες τὴν ἡμέραν, τὰ γράμματα ἤθελον μένειν ἀκίνητα, καὶ μηδένα προσθεῖναι πλέον αὐτοῖς· μᾶλλον δὲ προστιθέντων μὲν ἠνείχοντο τῶν ἀρχόντων, οὐκ ἐπὶ τὸ κρεῖττον δὲ, ἀλλ‘ ἐπὶ τὸ χεῖρον. Καὶ γὰρ τὴν εἰς τοὺς γονέας τιμὴν οὕτω παρέλυον ταῖς ἑαυτῶν προσθήκαις· καὶ ἕτερα δὲ πλείονα τῶν ἐγκειμένων ἐξέλυον τοῖς ἀκαίροις τούτοις πλεονασμοῖς. (MPG LVII 239)
»Denn auch wenn sie das Gesetz nicht erfüllten, so hielten sie dennoch wenigstens mit viel Bewusstsein an ihm fest, und obwohl sie sich täglich – jeder einzelne – von ihm durch Handlungen losmachen, wollten sie lieber, dass die Buchstaben unangetastet blieben, und dass ihnen auch nicht einer mehr hinzugefügt wurde. Oder vielmehr ertragen sie doch die Hinzufügungen der Anführer, allerdings nicht zum besseren, sondern zum schlechteren. Denn sie machten sich sogar auf diese Weise mit ihren Zusätzen von der Verehrung der Eltern los (vgl. Mk 7,9-13): und andere dazugehörige (Gebote) mehr lösten sie durch diese unzweckmäßig überflüssigen Zusätze (pleonasmus) auf.« (Homilie XVI,1 zum Matthäusevangelium; MÜ)
Eine weitere Zielgruppe
Τοῦτο δὲ οὐκ Ἰουδαίων ἐμφράττει τὴν ἀναισχυντίαν μόνον, ἀλλὰ καὶ τῶν αἱρετικῶν ἀποῤῥάπτει τὰ στόματα, τῶν ἐκ τοῦ διαβόλου λεγόντων εἶναι τὴν Παλαιάν. Εἰ γὰρ καταλῦσαι τὴν ἐκείνου τυραννίδα παρεγένετο ὁ Χριστὸς, πῶς ταύτην οὐ μόνον οὐ καταλύει, ἀλλὰ καὶ πληροῖ; Οὐ γὰρ μόνον εἴρηκεν, ὅτι Οὐ καταλύω· καίτοι ἤρκει τοῦτο· ἀλλ‘ ὅτι καὶ Πληρῶ· ὅπερ οὐ μόνον οὐκ ἐναντιουμένου ἦν, ἀλλὰ καὶ συγκροτοῦντος αὐτήν. Καὶ πῶς οὐ κατέλυσε; φησί· πῶς δὲ καὶ ἐπλήρωσεν, ἢ τὸν νόμον, ἢ τοὺς προφήτας; Τοὺς προφήτας μὲν, δι‘ ὧν τὰ περὶ αὐτοῦ λεχθέντα ἅπαντα τοῖς ἔργοις ἐβεβαίωσε· διὸ καὶ καθ‘ ἕκαστον ὁ εὐαγγελιστὴς ἔλεγεν· Ἵνα πληρωθῇ τὸ ῥηθὲν ὑπὸ τοῦ προφήτου· καὶ ἡνίκα ἐτέχθη, καὶ ἡνίκα τὰ παιδία τὸν θαυμαστὸν ὕμνον ᾖδεν εἰς αὐτὸν, καὶ ἡνίκα ἐπὶ τῆς ὄνου ἐκάθισε, καὶ ἐφ‘ ἑτέρων δὲ πλειόνων τὸ αὐτὸ τοῦτο ἐπλήρωσεν· ἅπερ πάντα ἔμελλον ἀπλήρωτα εἶναι, εἰ μὴ παρεγένετο. (MPG LVII 241)
»Deswegen hemmt er aber nicht allein die Unverschämtheit der Juden, sondern er verschließt auch die Münder der Häretiker, die sagen, dass das Alte [Testament] vom Teufel ist. Denn wenn Christus [nur] zur Hilfe kam, um die Tyrannei jenes [= des Teufels] aufzulösen, auf welche Weise löst er dieses [= das AT] nicht nur nicht auf, sondern erfüllt es auch? Denn er hat ja nicht nur gesagt: ich löse nicht auf – obwohl dies genügte – sondern: ich erfülle auch. Was überhaupt nicht zu einem passt, der widerspricht, sondern zu einem, der es vollbringt. Und auf welche Weise löste er nicht auf? Man erklärt: Auf welche Weise erfüllte er denn sowohl das Gesetz, als auch die Propheten? Die Propheten [erfüllte er] also dadurch, dass er alles, was über ihn gesagt wurde, durch seine Werke bestätigte. Daher sagt der Evangelist bei jeder Gelegenheit: ‚damit das vom Propheten gesagte erfüllt wird‚ (vgl. Mt 1,22). Denn zu der Zeit, als er geboren wurde, 2 und zu der Zeit, als die Kinder den wundervollen Hymnus auf ihn sangen, 3 und zu der Zeit, als er auf dem Esel saß 4 und zu anderen [Gelegenheiten] mehr erfüllte er [die Propheten] auf diese Weise: weshalb alle bestimmt waren, nicht erfüllt zu werden, wenn er nicht gekommen wäre.« (Homilie XVI,2 zum Matthäusevangelium; MÜ)
Die Häretiker, die das AT als teuflisches Buch ablehnten, waren die Marcioniten und die Manichäer. Sie gehören für Chrysostomos also ebenfalls zu den Adressaten von Mt 5,17. Seine nun folgende zusammenfassende Auslegung des Verses sollte Jahrhundertelang bestimmend bleiben:
Die dreifache Erfüllung des Gesetzes durch Christus
Τὸν δὲ νόμον οὐχ ἑνὶ μόνον, ἀλλὰ καὶ δευτέρῳ καὶ τρίτῳ ἐπλήρωσε τρόπῳ. Ἑνὶ μὲν, τῷ μηδὲν παραβῆναι τῶν νομίμων. Ὅτι γὰρ πάντα αὐτὸν ἐπλήρωσεν, ἄκουσον τί φησι τῷ Ἰωάννῃ· Οὕτω γὰρ πρέπον ἐστὶν ἡμῖν πληρῶσαι πᾶσαν δικαιοσύνην. Καὶ Ἰουδαίοις δὲ ἔλεγε· Τίς ἐξ ὑμῶν ἐλέγχει με περὶ ἁμαρτίας; Καὶ τοῖς μαθηταῖς δὲ πάλιν· Ἔρχεται ὁ ἄρχων τοῦ κόσμου τούτου, καὶ ἐν ἐμοὶ εὑρίσκει οὐδέν. Καὶ ὁ προφήτης δὲ ἄνωθεν ἔλεγεν, ὅτι ἁμαρτίαν οὐκ ἐποίησεν. Ἑνὶ μὲν οὖν αὐτὸν
ἐπλήρωσε τούτῳ τῷ τρόπῳ· (MPG LVII 241)
Aber das Gesetz erfüllte er nicht allein auf eine, sondern auf eine zweite und dritte Weise. Zum einen, in dem er in nichts dessen Gesetze übertrat. Denn dass er selbst es im Ganzen erfüllte, höre, was er dem Johannes sagt: denn auf diese Weise ist es für uns angemessen, die ganze Gerechtigkeit zu erfüllen. (Mt 3,15) Und den Juden sagte er: Wer von euch überführt mich wegen einer Sünde? (Joh 8,46). Es kommt der Fürst dieser Welt, und in mir findet er nichts. (Joh 14,30) 5 Auch der Prophet [Jesaja] sagte von Anfang an, dass er keine Sünde beging (vgl. Jes 53,9). 6 Auf diese eine Weise erfüllte er nun also dasselbe. (Homilie XVI,2 zum Matthäusevangelium; MÜ)
ἑτέρῳ δὲ, τῷ καὶ δι‘ ἡμῶν τοῦτο ποιῆσαι. Τὸ γὰρ θαυμαστὸν τοῦτό ἐστιν, ὅτι οὐ μόνον αὐτὸς ἐπλήρωσεν, ἀλλὰ καὶ ἡμῖν ἐχαρίσατο τοῦτο. Ὅπερ καὶ ὁ Παῦλος δηλῶν ἔλεγεν· Ὅτι Τέλος νόμου Χριστὸς εἰς δικαιοσύνην παντὶ τῷ πιστεύοντι. Καὶ τὴν ἁμαρτίαν δὲ αὐτὸν ἔλεγε Κρῖναι ἐν τῇ σαρκὶ, ἵνα τὸ δικαίωμα τοῦ νόμου πληρωθῇ ἐν ἡμῖν τοῖς μὴ κατὰ σάρκα περιπατοῦσι. Καὶ πάλιν· Νόμον οὖν καταργοῦμεν διὰ τῆς πίστεως; Μὴ γένοιτο. Ἀλλὰ νόμον ἱστῶμεν. Ἐπειδὴ γὰρ ὁ νόμος τοῦτο ἐσπούδαζε, δίκαιον ποιῆσαι τὸν ἄνθρωπον, ἠτόνει δὲ, ἐλθὼν αὐτὸς, καὶ τρόπον εἰσαγαγὼν δικαιοσύνης τὸν διὰ τῆς πίστεως, ἔστησε τοῦ νόμου τὸ βούλημα· καὶ ὅπερ οὐκ ἴσχυσε διὰ γραμμάτων ἐκεῖνος, τοῦτο αὐτὸς διὰ τῆς πίστεως ἤνυσε. ∆ιὰ τοῦτό φησιν· Οὐκ ἦλθον καταλῦσαι τὸν νόμον. (MPG LVII 241)
»Eine andere [Weise] aber [ist] dann, dass er es [= das Gesetz] durch uns erfüllen möchte. Denn das ist ewas wunderbares, dass er nicht nur selbst [das Gesetz] erfüllte, sondern es [= seine Erfüllung] auch uns schenkte. Gerade auch Paulus sagte ganz klar: Christus ist die Erfüllung des Gesetzes, zur Gerechtigkeit allen, die vertrauen (Röm 10,4). Und über die Sünde sagte derselbe: er richtete [die Sünde] in dem Fleisch, damit der Rechtsanspruch des Gesetzes in uns erfüllt werden sollte, die wir nicht nach dem Fleisch leben. (Röm 8,3-4) Und wieder: Schaffen wir demnach das Gesetz durch die Treue ab? Das ist nicht geschehen. Sondern wir wollen das Gesetz aufrichten. (Röm 3,31) Denn da ja das Gesetz sich darum bemühte, 7 den Menschen gerecht zu machen, aber zu schwach war, kam er selbst [= Christus], und führte die Weise der Gerechtigkeit durch die Treue ein, und richtete die Absicht des Gesetzes auf: und da jenes gerade nicht durch die Buchstaben stark war, erreichte er es selbst durch die Treue. Deswegen hat er gesagt: Ich bin nicht gekommen, um das Gesetz aufzulösen.« (Homilie XVI,2 zum Matthäusevangelium; MÜ)
γʹ. Εἰ δέ τις ἀκριβῶς ἐξετάσειε, καὶ ἕτερον τρίτον τρόπον εὑρήσει, καθ‘ ὃν τοῦτο γέγονε. Ποῖον δὴ τοῦτον; Τὸν τῆς μελλούσης νομοθεσίας, ἥνπερ ἔμελλε παραδιδόναι. Οὐ γὰρ ἀναίρεσις τῶν προτέρων, ἀλλ‘ ἐπίτασις καὶ πλήρωσις ἦν τὰ λεγόμενα. Τοῦ γὰρ μὴ φονεύειν οὐκ ἀναίρεσις τὸ μὴ ὀργίζεσθαι, ἀλλὰ πλήρωσις καὶ πλείων ἀσφάλεια· καὶ τῶν ἄλλων ἁπάντων. (MPG LVII 241)
»3. Wenn aber jemand akribisch untersuchen möchte, wird er auch noch eine andere, dritte Weise finden, gemäß der das [= die Erfüllung des Gesetzes] geschehen ist. Was für eine aber wäre das? Die [Weise] der beabsichtigten Gesetzgebung, welche er gerade beabsichtigte, bekannt zu machen. Denn das, was er sagt, war nicht die Aufhebung des Vorherigen, sondern Verstärkung und Erfüllung. Denn das „nicht zürnen“ ist nicht die Aufhebung des „nicht töten“ (vgl. Mt 5,21-22), sondern Erfüllung und, mehr noch, Absicherung [des Gebotes].« (Homilie XVI,3 zum Matthäusevangelium; MÜ)
Die finale Argumentation
Immerhin – trotz seiner Beschränkung der Geltung von Mt 5,17 auf Juden und Häretiker – sagt Chrysostomus aus, dass Jesus die Tora vollständig und ohne Abstriche gehalten hat. Doch dann immunisiert er seine Auslegung gleichsam gegen diesen Befund, der für ihn folgenlos bleiben muss. Das geschieht durch seine erstaunlich knappe Auslegung von Mt 5,18:
Ἀμὴν γὰρ λέγω ὑμῖν· Ἐὰν παρέλθῃ ὁ οὐρανὸς καὶ ἡ γῆ, ἰῶτα ἓν ἢ μία κεραία οὐ μὴ παρέλθῃ τοῦ νόμου, ἕως ἂν πάντα γένηται. Ὃ δὲ λέγει, τοιοῦτόν ἐστιν· Ἀμήχανον ἀτέλεστον μεῖναι, ἀλλὰ καὶ τὸ βραχύτατον αὐτοῦ πληρωθῆναι δεῖ. Ὅπερ αὐτὸς ἐποίησε, μετὰ ἀκριβείας αὐτὸν ἁπάσης ἀπαρτίσας. Ἐνταῦθα δὲ ἡμῖν αἰνίττεται, ὅτι καὶ ὁ κόσμος ἅπας μετασχηματίζεται. Καὶ οὐχ ἁπλῶς αὐτὸ τέθεικεν, ἀλλ‘ ἵνα ἐπάρῃ τὸν ἀκροατὴν, καὶ δείξῃ δικαίως ἑτέραν εἰσαγαγὼν πολιτείαν· εἴγε μέλλοι καὶ τὰ τῆς κτίσεως ἅπαντα μετασχηματίζεσθαι, καὶ τὸ τῶν ἀνθρώπων γένος πρὸς ἑτέραν καλεῖσθαι πατρίδα, καὶ βίου παρασκευὴν ὑψηλοτέραν. (MPG LVII 242)
»Amen, denn ich sage euch: Bis der Himmel und die Erde vergehen, wird nicht ein Jota oder ein Pünktchen des Gesetzes vergehen, bis dass alles geschehen wird 8 (Mt 5,18). Was er aber sagt, ist dieses: [es ist] unmöglich, dass es [= das Gesetz] unerfüllt blieb, sondern es war nötig, dass auch das aller kleinste [Gebot des Gesetzes] erfüllt werden musste. Das ist gerade das, was er machte, indem er es [das Gesetz] vollständig mit Akribie vollendete. In diesem Fall nun deutet er uns dunkel an, dass auch die gesamte Weltordnung (kósmos) vollständig umgestaltet wird. Und dies hat er nicht einfach so bestimmt, sondern damit er den Hörer ermunterte, und auf gerechte Weise lehrte, um in ein anderes Bürgerrecht (politeía) 9 heimzuführen: weil er nämlich beabsichtigt, sowohl die Gesamtheit der Schöpfung umzugestalten, als auch das Menschengeschlecht zu einem anderen Vaterland zu berufen, und zur Bereitung eines höheren Lebens.« (Homilie XVI,3 zum Matthäusevangelium; MÜ)
Was Christus nach Chrysostomus – zugegebenermassen nur dunkel – andeutet (αἰνίσσομαι), ist, dass Himmel und Erde durch seine Verkündigung bereits dabei sind zu vergehen, die Umgestaltung des Kosmos (μετασχηματίζω) hat durch die Verkündigung Jesu begonnen. Auch in dieser Auslegung bedeutet daher Mt 5,17 f. das Gegenteil dessen, was der Text ursprünglich besagt: die andauernde Geltung der Tora und der Propheten für die Nachfolger und Nachfolgerinnen Jesu.