»Durch Gottes Gnade« oder »getrennt von Gott«? Die Überlieferung von Hebr 2,9

Eine wichtige textkritische Frage bietet der Wortlaut von Hebr 2,9. In der aktuellen Elberfelder lautet der Vers heute so: Wir sehen aber Jesus, der ein wenig unter die Engel erniedrigt war, wegen des Todesleidens mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt, damit er durch Gottes Gnade für jeden den Tod schmeckte.

Kann man durch Gnade Gottes (gr. cháriti theoũ) den Tod schmecken? Es gibt eine andere Lesart, die hier statt durch Gottes Gnade liest: getrennt von Gott (gr. chōrís theoũ). Demnach lautet der Schluss des Verses: damit er getrennt von Gott für jeden den Tod schmecke. Welche Version ist ursprünglicher?

Auf den ersten Blick scheint die Sache schon entschieden, bevor man richtig angefangen hat. Praktisch alle wichtigen griechischen Majuskel-Handschriften lesen »durch Gnade« (gr. cháriti), darunter so erhebliche Zeugen wie der Codex Sinaiticus (4. Jh.), der Codex Alexandrinus (5. Jh.), der Codex Vaticanus (4. Jh.), der Codex Ephraemi Syri rescriptus (ein Palimpsest aus dem 5. Jh.) und der Codex Bezae Cantabrigiensis (5. Jh.), wenn man so will das »who is who« der bedeutenden Textzeugen. Unterstützt wird die Lesart auch durch den Papyrus 46 (um 200).

Die Lesart »getrennt von Gott« (gr. chōrís theoũ) erscheint bei einer Reihe von Vätern (Origenes, Ambrosius, Hieronymus, Fulgentius) sowie in etlichen Minuskel-Handschriften, die allerdings alle nicht das Gewicht der oben genannten Zeugen haben.

Aber:

Trotzdem spricht die Summe aller Argumente dafür, dass »getrennt von Gott« (gr. chōrís theoũ) die ursprüngliche Lesart war. Ich will hier begründen, warum und beginne dazu zunächst mit der inneren Kohärenz der Formulierung, um mich dann der Überlieferung bei den Kirchenvätern zu widmen.

Textimmanente Gründe

Chōrís kommt ohne den vorliegenden Vers im Hebräerbrief insgesamt dreizehnmal Mal vor, das Wort cháris bringt es (wiederum ohne Hebr 2,9) auf sieben Nennungen. Aber Adolf von Harnack hat bereits 1929 darauf aufmerksam gemacht, dass Gnade an diesen Stellen des Hebräerbriefes nie im Zusammenhang mit dem Tod Jesu gebraucht wird.

Der Hebräerbrief betont sehr stark das Leiden Jesu, bei ihm musste Jesus Gehorsam lernen (Hebr 5,8), musste durch Leiden vollendet werden (Hebr 2,10; 5,9), war der Schande des Kreuzes ausgeliefert (Hebr 12,2+13,13) und unter die Engel erniedrigt (Hebr 2,7+9). Am dramatischsten kommt das vielleicht in 5,7 zum Ausdruck: Dieser hat in den Tagen seines Fleisches sowohl Bitten als auch Flehen mit lautem Rufen und Tränen dem dargebracht, der ihn aus dem Tod erretten konnte, und ist auch erhört worden um seiner Gottesfurcht willen. (Ü: Schlachter 2000) Dieser Vers spielt das Gebet Jesu am Ölberg ein (siehe vor allem die beiden Verse Lk 22,43-44 – deren Ursprünglichkeit meiner Meinung nach ebenfalls nicht zufällig umstritten ist) und so kann man sagen, dass sich die Aussage »getrennt von Gott« im Hinblick auf das Leiden Jesu innerhalb des Hebräers sehr gut einfügt. Das gilt aber nicht wirklich für die Aussage, Jesus habe durch die Gnade Gottes gelitten.

Nun zur Überlieferungsgeschichte des Textes, ich beginne mit

Origenes

In seinem Kommentar zum Johannes-Evangelium kommt Origenes mehrfach auf unsere Stelle zu sprechen, die wichtigste Aussage ist:

»μέγας« ἐστὶν »ἀρχιερεύς«, οὐκ ὑπὲρ ἀνϑρώπων μόνων ἀλλὰ καὶ παντὸς λογικοῦ τὴν ἅπαξ ϑυσίαν προσενεχϑεῖσαν ἑαυτὸν ἀνενεγκών· »χωρὶς γὰρ ϑεοῦ ὑπὲρ παντὸς ἐγεύσατο ϑανάτου« ὅπερ ἔν τισι χεῖται τῆς πρὸς Ἑβραίους ἀντιγράφοις »χάριτι ϑεοῦ«. εἴτε δὲ »χωρὶς ϑεοῦ ὑπὲρ παντὸς ἐγεύσατο ϑανάτου«, οὐ μόνον ὑπὲρ ἀνϑρώπων ἀπέϑανεν, ἀλλὰ καὶ ὑπὲρ τῶν λοιπῶν λογικῶν· εἴτε »χάριτι ϑεοῦ ἐγεύσατο τοῦ ὑπὲρ παντὸς ϑανάτου«, ὑπὲρ πάντων χωρὶς ϑεοῦ ἀπέϑανε· »χάριτι γὰρ ϑεοῦ ὑπὲρ παντὸς ἐγεύσατο ϑανάτου.« 1

»Er (= Christus) ist ein großer Hohepriester, der sich nicht nur für die Menschen allein, sondern auch für alle Vernunftwesen als ein Opfer, das einmalig dargebracht wurde, hingibt: ›denn getrennt von Gott lernte er für jeden den Tod kennen 2 (Hebr 2,9)‹ ist in einigen Handschriften des (Briefes) an die Hebräer als »durch Gottes Gnade« verbreitet. Egal aber ob ›er getrennt von Gott den Tod für alle kennenlernte‹, er starb nicht für die Menschen allein, sondern auch für die übrigen Vernunftwesen. Egal ob ›er durch die Gnade Gottes den Tod für jeden kennenlernte‹, er starb für alle getrennt von Gott: ›denn durch die Gnade Gottes lernte er für jeden den Tod kennen‹.« (Johanneskommentar, I, 34(39); MÜ)

Für Origenes ist also »getrennt von Gott« die ursprüngliche Lesart, »durch die Gnade Gottes« haben seines Wissens nach nur einige Handschriften. Unterstützt wird dieser Befund durch Rufins Übersetzung des Römerbriefkommentars des großen Alexandriners, der zweimal »sine Deo pro omnibus mortem gustat« bzw. »ut sine Deo pro omnibus gustaret mortem« bietet – »der ohne Gott für alle den Tod schmeckte« bzw. »dass er ohne Gott für alle den Tod schmecken sollte«. (Römerbriefkommentar III, 8 + V,7 = MPL XVI, 946 + 1036) Mit Sicherheit ist das »sine Deo« Rufins Übersetzung von chōrís theoũ.

Ambrosius

Auch Ambrosius ist einer der Zeugen für die Version mit »getrennt von Gott«, denn er liest in Hebr 2,9 »ut sine Deus pro omnibus gustaret mortem« – »dass er ohne Gott für alle den Tod schmeckte«. (De Fide ad Gratianum II, 8, 63 = MPL XVI, 573).

Der Gebrauch, den Ambrosius von der Stelle macht, zeigt deutlich den Knackpunkt des Problems. Es geht um christologische Auseinandersetzungen – wie kann Christus getrennt von Gott sein? Für Ambrosius ist das »sine deo« ein Kronzeuge gegen den Patripassianismus – also die Überzeugung, Jesus sei so mit Gott identisch, dass man sagen müsse, der Vater selbst habe am Kreuz gelitten.

»Id est, quod creatura omnis sine passione aliqua divinitatis Dominici sanguinis redimenda sit pretio« (De Fide ad Gratianum, V,8,106 = MPL XVI, 670)

»Das bedeutet, dass jedes Geschöpf um den Preis des Herrenblutes erlöst werden muss, ohne irgendein Leid der Gottheit.«

Theodor von Mopsuestia

In seinem Kommentar zu den Paulusbriefen (er hielt den Hebräer für einen Paulusbrief), dessen griechisches Original verloren gegangen ist, kommt Theodor auf Heb 2,9 zu sprechen.

Deinde ostendens cuius gratia passus est diminutionem, infert: quatenus citra 3 Deum pro omnibus gustaret mortem; quia diuina natura ita uolente, separata illa, ipse per se pro omnium utilitate gustauit mortem. et ostendens quod deitas separata quidem erat ab illo qui passus est secundum mortis experimentum, quia nec possibile erat illam mortis experimentum accipere; non tamen ille qui passus est abfuerat secundum diligentiam. (Theodori Episcopi Mopsuesteni: In Epistolas B. Pauli Commentarii. II, S.325)

»Daraufhin fügt er, um zu erklären, durch wessen Gnade er die Erniedrigung erlitten hat, hinzu: weil er ohne Gott für alle den Tod schmeckte; denn die göttliche Natur wollte es so, dass er für sich selbst zum Nutzen aller den Tod schmeckte, und zeigte so, dass die Gottheit allerdings von dem, der der Erfahrung des Todes entsprechend gelitten hat, getrennt war, weil es nicht möglich war, dass sie die Erfahrung dieses Todes machen konnte; dennoch hatte sie sich entsprechend (ihrer) Achtsamkeit nicht von dem getrennt, der gelitten hat«. (MÜ)

Erhalten geblieben ist diese Passage in den Konzilsakten des II. Konzils von Konstantinopel (5. Mai – 2. Juni 551), auf dem Theodor posthum im Drei-Kapitel-Streit anathematisiert wurde. Seine Verwendung der Lesart machte die »getrennt von Gott« Variante für orthodoxe Ohren und Augen höchst verdächtig.

Abschließende Klärung

Die Lesart ist die beste, die auch die Varianten erklären kann. Führt ein plausibler Weg von einem ursprünglichen »durch Gottes Gnade« zu »getrennt von Gott«? Dieser Meinung ist Bruce M. Metzger in seinem textkritischen Kommentar zum NT. Er nimmt entweder einen Schreibfehler an, bei dem χάριτι mit χωρὶς verwechselt wurde. Oder: er vermutet, dass eine Randglosse analog zu 1 Kor 15,27 in Hebr 2,8 quasi nach unten in den Text gerutscht sei.

In 1 Kor 15,27 steht: „Denn alles hat er seinen Füßen unterworfen.“ Wenn es aber heißt, dass alles unterworfen sei, so ist klar, dass der ausgenommen ist, der ihm alles unterworfen hat. (Ü: Elberfelder) In Hebr 2,8 lesen wir: Alles hast du unter seine Füße getan.« Wenn er ihm alles unter die Füße getan hat, so hat er nichts ausgenommen, was ihm nicht untertan wäre. Jetzt aber sehen wir noch nicht, dass ihm alles untertan ist. (Ü: Luther 1984) Ein Schreiber habe sich demnach der Stelle im Korintherbrief erinnert, und nach so hat er nichts ausgenommen das ominöse chōrís theoũ im Sinn von »außer Gott« eingetragen.

Beide Lösungen überzeugen mich nicht. 4 Eine so sinnwidrige Verschreibung hätte niemals diese Verbreitung gefunden. Dazu kommt, dass es in 1 Kor 15,27 nicht chōrís heißt, sondern ektòs – außer. Unverständlich bliebe auch, wieso diese Glosse so weit hinuntergerutscht wäre.

Der umgekehrte Weg ist viel einleuchtender: sowohl vom Wortgebrauch als auch vom Inhalt des restlichen Briefes passt »getrennt von Gott« perfekt in den Duktus des Hebräerbriefes. Dazu kommen das Zeugnis des Origenes und des Ambrosius, die belegen, dass diese Lesart im Osten wie im Westen vorherrschend war. Erst die christologischen Implikationen sorgten dafür, dass sich statt dem anstößig gewordenen »getrennt von Gott« die Lesart »durch die Gnade Gottes« durchsetzte. Für den umgekehrten Weg sehe ich keinen einleuchtenden Grund.

Weiterführende Literatur:

Bart D. Ehrman: Misquoting Jesus. The Story Behind Who Changed the Bible and Why. S. 144-148
Erich Grässer: An die Hebräer. Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament; 1. Teilband S. 124-126
Bruce M. Metzger: A Textual Commentary on the Greek New Testament. Second Edition, S. 594
Adolf von Harnack: Zwei alte dogmatische Korrekturen im Hebräerbrief. In: Studien zur Geschichte des Neuen Testaments und der Alten Kirche. Band I, S. 235-245

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  1. Zitiert nach: Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte; Herausgegeben von der Kirchenväter-Commission der königl. preussischen Akademie der Wissenschaften; Origenes – Vierter Band S. 45
  2. Wörtlich: schmeckte/kostete er für jeden den Tod
  3. Swete hat hier das in den Handschriften stehende circa mit Verweis auf χωρίς in citra verbessert. Soweit ich es entziffern konnte, hat auch Giovanni Domenico Mansi circa gelesen. (Mansi, IX, S. 217-218; Nr. 38)
  4. Erich Grässer schreibt im EKK XVII/1 S. 124: »Wenn man die Zeugen nicht nur zählt, sondern wägt, wird man urteilen, daß χάριτι ϑεοῦ und χωρὶς ϑεοῦ zumindest gleichwertige Alternativ-Lesarten sind. Daß dieselben sich einem Schreib- oder Hörfehler verdanken (ΧΑΡΙΤΙ wurde mit ΧΩΡΙΣ verwechselt), ist an einer so wichtigen Stelle ganz unwahrscheinlich. Und viel zu kompliziert, um einleuchtend zu sein, ist die Annahme, χωρὶς ϑεοῦ sei ursprünglich eine Randglosse ….« Allerdings kommt er dann zu dem Schluss, dass χάριτι ϑεοῦ ursprünglicher sei.

4 Gedanken zu „»Durch Gottes Gnade« oder »getrennt von Gott«? Die Überlieferung von Hebr 2,9“

  1. Etwaige Zweifel in einer jedwegigen Ueberetzung kann man ja nur im Uebereinklang der Gesamtlehre der Schrift beseitigen.
    Es muss ja klar sein, dass es fue Gott keinen Tod gibt.
    So, wie kann Christus Gott sein und einen menschlichen Tod ueber sich ergehen lassen?
    Es muss ja wohl nur moeglich sein in dem Sinne ,dass Christus nicht nur den Tod
    auf menschlische Art und Weise erleiden konnte, sonder dass es erforderlich war
    fuer Christus eine Trennung von seiner Gottheit auf sich zu nehmen um wirklich den Preis fuer unsere suendhafte Versklavung zu begleichen.

    Waere dies nicht der Fall, dann wuerde seine Auferstehung keine Erloesung vom Tod mit sich gebracht haben.

    Was mir unverstaendlich ist, ist die Sache mancher „Christen“ die es nicht begreifen koennen, dass es fuer sie keinen Tod mehr gibt, sonder nur eine Umwandlung vom Materiellen zum unsterblich Geistlichen.
    Wie waere es sonst moeglich, dass Christus als „Gott“ sterben konnte und seine
    Auferstehung dann nur fuer Ihn selbst gueltig ist?

    Peter Thoss Delta, Canada
    Dann wuerde man natuerlich Zweifel an der Uebersetzung haben koennen.

    1. Peter, Danke für den Beitrag aus Kanada.
      Aber: das Problem an Hebr 2:9 ist doch nicht die Übersetzung – sondern: was ist überhaupt der Text?
      Und: in jedem Fall ist in den ursprünglichen Text eingegriffen worden – das ist es, was mich beschäftigt.
      OA

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