Träume und Orakel als Zugänge zu dem Menschen zunächst verborgenem Wissen spielen in der Antike eine wichtige Rolle. Ein Sonderfall ist dabei das Bemühen um Einsichten von bereits verstorbenen Menschen.
Im 11. Gesang der Odyssee besucht Odysseus auf den Rat der Zauberin Kirke (die ihn bezirzt hatte) einen Eingang zur Unterwelt, um dort den Rat des verstorbenen Sehers Tereisias einzuholen. In der Bibel gibt es eine damit verwandte Erzählung – allerdings mit anderer Pointe.
Die Hadesfahrt des Odysseus (Nekya)
Im 10. Gesang sagt Kirke beim Abschied zu Odysseus:
Aber ihr müsst zuvor noch eine Reise vollenden,
Hin zu Hades‘ Reich und der strengen Persephoneia,
Um des thebaiischen Greises Teiresias‘ Seele zu fragen,
Jenes blinden Propheten, 1 mit ungeschwächtem Verstande.
Ihm gab Persephoneia im Tode selber Erkenntnis;
Und er allein ist weise: die andern sind flatternde Schatten.
(Od X, 490-495; Ü: Voss)
Im 11. Gesang erfüllt Odysseus diesen Auftrag:
Und wir zogen das Schiff an den Strand, und nahmen die Schafe
Schnell aus dem Raum; dann gingen wir längs des Okeanos Ufer,
Bis wir den Ort erreichten, wovon uns Kirke gesaget.
Allda hielten die Opfer Eurylochos und Perimedes.
Aber nun eilt’ ich, und zog das geschliffene Schwert von der Hüfte,
Eine Grube zu graben, von einer Ell’ ins Gevierte.
Hierum gossen wir rings Sühnopfer für alle Toten:
Erst von Honig und Milch, von süßem Weine das zweite,
Und das dritte von Wasser, mit weißem Mehle bestreuet.
Dann gelobt’ ich flehend den Luftgebilden der Toten,
Wann ich gen Ithaka käm, eine Kuh, unfruchtbar und fehllos,
In dem Palaste zu opfern, und köstliches Gut zu verbrennen,
Und für Teiresias noch besonders den stattlichsten Widder
Unserer ganzen Herde, von schwarzer Farbe, zu schlachten.
Und nachdem ich flehend die Schar der Toten gesühnet,
Nahm ich die Schaf’, und zerschnitt die Gurgeln über der Grube;
Schwarz entströmte das Blut: und aus dem Erebos kamen
Viele Seelen herauf der abgeschiedenen Toten.
(Od XI, 20-37; Ü: Voss)
Unter den so beschworenen Verstorbenen war dann auch der »hocherleuchtete Seher« Tereisias. Die folgende Darstellung zeigt eine aus dem 4. Jh. v. Chr. stammende Platte, die auf einem Friedhof in Griechenland eingemauert war und ein Heiligtum der chthonischen Hekate darstellte. Sie verdeutlicht, dass der Gang mit Opfertieren zu einem »Hadeseingang« eine gängige kultische Praxis war.
[Hier ist die Quelle des Bildes aus dem Athener Nationalmuseum (Tafel CXXII). Weitere Details finden Sie hier.]
Aeneas begleitet die cumaeische Sybille in die Unterwelt
Weniger bekannt ist vielleicht der 6. Gesang der Aeneis, in dem Vergil Aeneas mit Hilfe der Sybille von Cumae in die Unterwelt gelangen lässt, eine Szene, die offensichtlich nicht nur auf Dante großen Eindruck gemacht hat. Auch hier ist der kultische Aufwand groß und die Gefahr nicht unerheblich:
Aber die Seherin sprach: „O Sohn des Troianers Anchises,
Göttlichem Blut entsprosst, leicht steigst du hinab zum Avernus;
Tag und Nacht steht offen das Tor zum finsteren Pluto.
Aber den Schritt zurück zu den himmlischen Lüften zu wenden,
Das ist die schwierigste Kunst. Nur wenige, Iovis Erkorne,
Söhne der Götter, die glühender Mut zum Aither hinauftrug,
Haben’s vermocht.“ 2
(Vergil, Aen VI, 125-131)
Am Ende des Gesanges gelangt Aeneas zu einem doppelten Ausgang aus der Unterwelt, zwei Toren, die wir bereits aus der Odyssee kennen:
Zwei sind der Tore des Schlafs, von denen das eine, so sagt man,
Hörnern ist, welchem bequem wahrhaftige Schatten entgleiten;
Glänzend das andre, aus libyschem Zahn 3, von vollendeter Arbeit,
Aber die Manen entsenden aus ihm nur täuschende Träume.
Hierher führte den Sohn Anchises mit der Sibylle
Bei dem Gespräch und entließ ihn jetzt durch die zweite der Pforten.
Rasch nimmt jener den Weg zu den Schiffen zurück und den Freunden.
(Aen VI, 893-899) 4
Bemerkenswerterweise verlässt Aeneas die Unterwelt durch das trügerische Tor.
Saul und die Totenbeschwörerin von En-Dor
In 1 Sam 28 sucht der verzweifelte König Saul eine Totenbeschwörerin auf, die ihm seinen verstorbenen Mentor und Ratgeber, den Propheten Samuel aus dem Totenreich heraufbeschwört. Am Anfang des Kapitels heißt es:
Und Saul fragte beim HERRN an, und der HERR antwortete ihm nicht; weder durch Träume noch durch Losorakel noch durch Propheten.
(1 Sam 28,6 MÜ) 5
Im Rahmen dieser Erzählung wird allerdings auch gesagt, dass Saul diese Art der Mantik im Land zuvor ausdrücklich verboten hatte. So erscheint sein Versuch im biblischen Kontext als höchst problematisch.
Zusammenfassung
Was ist allen drei Texten gemeinsam? Das erkennbare Bemühen, mit dem Wissen von Verstorbenen in Verbindung zu kommen, um die eigene Lebenssituation besser zu meistern. Oder: einen Wissens- und Erfahrungsspeicher anzuzapfen, der einem weiterhilft. Was bei Homer unheimlich und gefährlich, bei Vergil abenteuerlich und trügerisch ist, wird in 1 Samuel zur Verzweiflungstat des unglücklichen Königs kurz vor seinem tragischen Ende. Könnte es nicht sein, dass an die Stelle des mantischen, gefahrvollen Zugangs zur »Unterwelt« in unserer Zivilisation Texte getreten sind? Auch sie mögen ihre Gefahren haben, aber ich sehe hier eine strukturelle Ähnlichkeit: die Ermöglichung eines Generationen-übergreifenden Wissenstransfers.