Im 19.Gesang der Odyssee begegnet der unerkannte Heimkehrer zwei Frauen: seiner alten Amme Eurykleia und seiner Frau Penelope, die seit zwanzig Jahren auf seine Rückkehr wartet. Während Eurykleia den listenreichen Odysseus an einer Narbe erkennt, führt Penelope mit dem Fremden ein Gespräch über Traumdeutung. Nachdem sie ihm einen Traum erzählt hat, in dem die Rückkehr ihres Mannes und der Tod der Freier angekündigt wird, äußert sich Penelope kritisch über die Aussagekraft von Träumen:
Fremdling, es gibt doch dunkle und unerklärbare Träume,
Und nicht alle verkünden der Menschen künftiges Schicksal.
Denn es sind, wie man sagt, zwei Pforten der nichtigen Träume:
Eine von Elfenbein, die andre von Horne gebauet.
Welche nun aus der Pforte von Elfenbeine herausgehn,
Diese täuschen den Geist durch lügenhafte Verkündung;
Andere, die aus der Pforte von glattem Horne hervorgehn,
Deuten Wirklichkeit an, wenn sie den Menschen erscheinen.
Aber ich zweifle, ob dorther ein vorbedeutendes Traumbild
Zu mir kam. O wie herzlich erwünscht wär‘ es mir und dem Sohne!
(Od XIX, 560-569; Ü: Heinrich Voss) 1
Penelope unterscheidet zwei Typen von Träumen, beginnen wir mit den dunklen Träumen. Sie nennt sie akritómythoi – die zweifelhaften, nicht zu entscheidenden Reden, wenn man soll will: sinnloses Geschwätz. Bemerkenswerterweise werden die Träume auf ein Tor aus Elfenbein zurückgeführt, das menschlicher Kunstfertigkeit ein willkommenes Material zur Bearbeitung zur Verfügung stellt. Hier besteht offensichtlich die Gefahr, dass wir Menschen versucht sind, eine Deutung in dieses Traummaterial einzutragen, die in ihm einfach nicht enthalten ist.
Die anderen Träume aber »deuten Wirklichkeit an« – so übersetzt Voss hier. Wörtlich steht aber: »Diese [Träume] folglich sind deutlich/wirklich gemacht.« Wie auch immer, diese Träume kommen aus einem Tor aus Horn, das für menschliche Nachbearbeitung denkbar ungeeignet ist – und bei dem es (Trinkhorn!) ganz auf den Inhalt ankommt.
Auch wenn Penelope im Traum versichert wurde, dass es kein Traum sei (!), was sie da träume, »sondern wertvolle Wirklichkeit, die erfüllt sein wird« 2 bleibt sie sich der Ambiguität der Träume bewusst, ohne deshalb aber an ihrer Bedeutung zu zweifeln.
Diese Beschaffenheit haben die Träume mit den Orakeln gemeinsam. Über das berühmteste griechische Orakel ist folgender Ausspruch Heraklits erhalten geblieben:
»Der Herr, der der Weissagende (manteĩos) in Delphi ist: Weder spricht er, noch verhüllt er, sondern er gibt (Vor)Zeichen.« (Heraklit, Fragmente der Vorsokratiker 93) 3
Wodurch unterscheidet sich dann ein Orakel von einem Text, der aus Schriftzeichen besteht, die gedeutet werden müssen – schon indem man sie liest? Der Hintergrund dieser Frage wird noch deutlicher, wenn man sich ein weiteres Tor der Deutung ansieht – das die Verbindung zur Gedanken bereits verstorbener Menschen darstellt.
Dieses Bild aus dem griechischen Nationalmuseum zeigt das Zusammentreffen des Odysseus mit Amme und Frau. Gerade hat Eurykleia ihren Herrn an seiner Narbe erkannt, die Frau im Hintergrund mit der Spindel ist Penelope. (Tafel CXXXIV)
»Aber Odysseus
Fasste schnell mit der rechten Hand die Kehle der Alten,
Und mit der andern zog er sie näher heran, und sagte:
Mütterchen, mache mich nicht unglücklich! Du hast mich an deiner
Brust gesäugt; und jetzo, nach vielen Todesgefahren,
Bin ich im zwanzigsten Jahre zur Heimat wiedergekehret.
Aber da du mich nun durch Gottes Fügung erkannt hast,
Halt es geheim, damit es im Hause keiner erfahre!«
(XIX, 479-486; Ü: Heinrich Voss)
Weiterführendes: Traumdeutung in der Bibel