»Die Juden interpretieren verrückt« (nach Pierre Legendre)

1981 hat der französische Rechtshistoriker und Psychoanalytiker erstmals einen Text veröffentlicht, der den Titel trug: »Les Juifs se livrent à des interprétations insensées: expertise d’un texte«. Die deutsche Übersetzung hat daraus den Titel »Die Juden interpretieren verrückt« gebastelt. Ich habe mir diese Übersetzung und ihre Vorlagen einmal angesehen. Diese Verdeutschung gibt den französischen Titel nur unzureichend wieder und unterschlägt – anders als ihre französische Vorlage – dass sich Legendre auf die Interpretation eines Textes bezieht – nämlich die Novelle 146 des oströmischen Kaisers Justinian († 565) in seinem Corpus Iuris Civilis.

Was Legendre hier zitiert, lautet auf griechisch so: »πλὴν ἀλλ᾽ εἰ καὶ ἀλόγοις σφᾶς αὐτοὺς ἑρμηνείαις ἐπιδιδόντες« – und die entscheidende Frage lautet, ob Legendre – und mit ihm seine deutsche Übersetzerin Sabine Hackbarth das griechische alogos hier sinngemäß wiedergegeben haben.

Ich meine: nein. Alogos bedeutet in der Antike und bei Justinian »unvernünftig«, »nicht sinngemäß«, hat aber sicher nicht diese pathologische Konnotation, auf die der psychoanalytisch geprägte Legendre hinauswill. 1

Ich will damit die Problematik dieses Justinianischen Gesetzestextes keineswegs bagatellisieren – aber diese Übersetzung von alogos ist meiner Meinung nach zu projektiv.

Nachtrag vom 29. Oktober 2020:
Plutarch (um 45-125 n. Chr.). Priester des delphischen Apoll, schreibt in seinem Werk über die Religion der Ägypter, dass sie οὐδέν γὰρ ἄλογον οὐδὲ μυθῶδες οὐδ` ὑπὸ δαισιδαιμονίας also „nichts Sinnloses, nichts Fabulöses und nichts auf abergläubischer Furcht beruhendes“ enthalten habe (Über Isis und Osiris 8; Ü: Herwig Görgemanns). Ich bleibe überzeugt, dass kein des Griechisch Kundiger alogos als ‚verrückt‘ übersetzen würde.

Show 1 footnote

  1. Ein schönes Beispiel: Saul Liebermann zitiert in seinem phänomenalen Werk »Hellenism in Jewish Palestine« bSanh 23a, wo Rabbi Resch Lakisch die Mischnah korrigiert: אמר ריש לקיש פה קדוש יאמר דבר זה – »ein heiliger Mund soll so etwas gesagt haben?« – weil ihre Aussage alogos ist: unvernünftig, nicht sinnvoll, aber sicher nicht verrückt! (vgl. Liebermann S. 98)

2 Gedanken zu „»Die Juden interpretieren verrückt« (nach Pierre Legendre)“

  1. Ich bin mir nicht sicher, ob Sie wirklich den Text oder eben nur den Titel des Textes gelesen haben, denn Ihre Behauptung Legendre würde hier einer pathologischen Konnotation nachhängen, für mich aus der Luft gegriffen ist. und überhaupt wen würde Legendre pathologisieren? Die Juden? Das würde dann ganz und gar dem Text widersprechen. Ein wichtiger Punkt darin ist nämlich der, dass Kaiser Jutinian, somit also die Macht die den Gesetzestext einsetzt hier zugleich deren Interpret wird. Hierin sieht Legendre – egal welchen Text wir von ihm lesen – eher ein großes Problem. Hingegen interpretieren die Juden dergestalt „verrückt“ oder unvernünftig, dass für sie allein der Text – als Gründungsbild, als Referenz – Autorität hat, der dann seinerseits immer wieder neu befragt d.h interpretiert werden kann und muss. Und genau diese Form der Interpretation hält Legendre für unabdingbar, um die Frage: Warum Gesetze und damit die Frage nach dem Fundament des Verbotes immer wieder aufkommen zu lassen. Von daher wäre, wenn man das so ausrücken will, Legendré weit eher auf Seiten der „verrückten“ Juden als eines Kaisers, der seine eigene Gesetzesmacht interpretiert. Vor allem beschreibt aber Legendres Text wie u.a. in der Novelle des Kaisers, die Juden im juristischen Sinn als außerhalb der christlichen Vernunft inszeniert werden, und Legendre lässt neben allen anderen Folgerungen keinen Zweifel daran, dass diese Inszenierung in Tradition des Antisemitismus gehören (Dies auch, weil Ihr Kommentar ein wenig suggeriert, Legendre selbst könnte antisemitisch argumentieren – und das steht dem Text fern).

    1. Danke für Ihren langen Kommentar.
      Dass ich bei Legendre ein wenig eine antisemitische Argumentation suggeriere, kann ich nicht nachvollziehen.
      Aber ich bleibe bei meiner Kernaussage: der Wortlaut des Justinianischen Textes ist philologisch gesehen kein belastbarer Zeuge für die Thesen Legendres, wie zutreffend sie auch immer sonst sein mögen.

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