Heiliger Homer V

In seiner »Geschichte der Klassischen Philologie« identifizierte Rudolf Pfeiffer Zenodot von Ephesos († um 260 v. Chr.), den ersten Leiter der Bibliothek von Alexandria, als den Erfinder der textkritischen Zeichen. Damit war ein Meilenstein im Umgang mit einem Heiligen Text gesetzt worden. Pfeiffer schreibt: »Dies war das erste Mal, dass ein Herausgeber dem ernsthaften Leser und Gelehrten die Möglichkeit gab, seine kritische Entscheidung zu bewerten. Zenodot unterdrückte die Verse nicht, deren Echtheit er bezweifelte, sondern ließ sie im Text stehen, kennzeichnete sie aber am Rand mit dem Obelos.1 Er legte seine eigene Meinung offen dar und setzte den Leser in den Stand, sie nachzuprüfen.« (Geschichte der klassischen Philologie, S. 147)

Der Text, an dem Zenodot diese Technik zum Einsatz brachte, war natürlich der des Homer. Einer seiner Nachfolger, Aristophanes von Byzanz († 180 v. Chr.), erweiterte dieses textkritische Zeichen um weitere sēmeĩa (Zeichen). Eines davon war der asterískos, ein sternförmiges Gebilde.

Der große, ebenfalls aus Alexandria stammende Kirchenvater Origenes nutzte diese am Homertext entwickelte Technik für die erste kritische Bibelausgabe der Geschichte, seine berühmte Hexapla (= »die Sechsspaltige«). Dieses enorme Werk – nach Ernst Würthwein 6000 Folio Seiten in 50 Bänden – hat leider nicht überlebt, aber es gibt genug Fragmente, um einiges zu rekonstruieren.

Asteriskos und Obelos in der Hexapla
Asteriskos und Obelos in der Hexapla

Auf diesem Bild aus einem Werk über die Hexapla sieht man sehr schön die beiden erwähnten Zeichen. Das große X mit den vier Punkten ist der Asteriskos, das Zeichen, das aussieht, wie ein schief stehender Reißnagel am Ende des Verses, ist der Obelos.2 Worum geht es hier?

Ganz links steht auf Hebräisch ein Zitat aus Gen 1,7: wajǝhi ken, zu Deutsch: »und so geschah es«; O´ vacat bedeutet: hier hat die Septuaginta in der Fassung, die von Origenes überliefert wurde, eine Auslassung. Und diese Auslassung wird zwischen dem Asteriskos und dem Obolos angegeben: kaì egéneto hutōs, das bedeutet eben: »und so geschah es«.

Die Technik für diese wissenschaftliche Textkritik übernahm Origenes von der Homerexegese der alten alexandrinischen Philologen.

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  1. Das griechische Wort bezeichnet ursprünglich einen Bratspieß
  2. Doch, ich weiß, dass das eigentlich ein metobelos ist, but keep it simple and straight …

2 Gedanken zu „Heiliger Homer V“

  1. Hallo!
    In dem Beispiel für eine Auslassung steht diese zwischen einem Asteriskus und einem Metobelos. Nachträglich Hinzugefügtes dagegen wurde zwischen einem Obelos und einem Metobelos eingeschlossen und dadurch kenntlich gemacht.
    Obelos sieht meist aus, wie ein Zeichen für die Division auf vielen Taschenrechnern; ein waagerechter Strich, darüber und darunter ein Punkt.
    Mit freundlichen Grüßen
    Uwe Schlimm.

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