Heiliger Homer IV

Mein Besuch im British Museum hat es mir ermöglicht, hier über diese ikonografische Darstellung der Stellung des Homer zu schreiben. Es handelt sich um ein Marmor-Relief, das Archelaos von Priene in der Zeit um 225 – 205 v. Chr. geschaffen hat. 1 König Ptolemäus IV. Philopator (222 – 205 v. Chr.) hat Homer in Alexandria einen Tempel errichten lassen. Der König und seine Frau Arsionoe sind auf diesem Relief ebenfalls abgebildet und inschriftlich bezeichnet. Das Bild hat gleichsam drei „Stockwerke“, die man auf der Gesamtdarstellung gut erkennen kann.

Archelaos von Priene Homer Relief: Gesamtansicht
Archelaos von Priene Homer Relief: Gesamtansicht

Man sieht den Berg der Musen, auf dessen Gipfel der thronende Zeus dargestellt ist. Am Fuß des Berges wird dem ebenfalls thronenden Homer gehuldigt. Hier nun zu den einzelnen drei „Stockwerken“.

Archelaos von Priene Homer Relief: Oberes Drittel
Archelaos von Priene Homer Relief: Oberes Drittel

Neben dem thronenden Zeus steht wahrscheinlich Mnemosyne. Mit der Göttin des Gedächtnisses (!) hat Zeus die 9 Musen gezeugt, die ebenfalls auf dem Bild erscheinen. Die Zuordnung ist nicht eindeutig möglich, aber wahrscheinlich ist die gebeugte Gestalt rechts neben der Mutter der Musen Klio (Geschichtsschreibung), es folgt dann (von rechts nach links) eine nicht eindeutig zu benennende Muse, dann Euterpe (Musik), Erato (Liebesdichtung) und eine weitere nicht eindeutig zuordenbare Muse.

Archelaos von Priene Homer Relief: mittleres Drittel
Archelaos von Priene Homer Relief: mittleres Drittel

Ganz rechts steht hier auf einer Empore wahrscheinlich die Statue eines Dichters. Es ist anzunehmen, dass es sich dabei um den Spender des Reliefs handelt, das er wohl als Dank für den Sieg bei einem Sänger-Wettbewerb gestiftet hat.

Neben ihm eine unbekannte Muse und dann das (heute kopflose) Bild des Apollo mit der Kithara (Apollo Kitharoidos). Apollo war ja auch der Anführer der Musen (Apollo Musagetes). Zu den Klängen der Kithara wurden die homerischen Gesänge vorgetragen. Weiter nach links gehend folgen wohl die Musen Polyhymnia (feierlicher Gesang), Urania (Astronomie) und Terpsichore (Tanz).

Archelaos von Priene Homer Relief: Unteres Drittel
Archelaos von Priene Homer Relief: Unteres Drittel

Hier beginne ich diesmal von links: hinter dem thronenden Homer stehen die geflügelten Gestalten von Oikoumene (der bewohnte Erdkreis) und Chronos (Zeit); wir würden heute sagen, Raum und Zeit. Beide Gestalten repräsentieren wohl auch Ptolemäus IV. Philopator und seine Frau Arsionoe, die den Tempel stifteten, in dem dieses Relief angebracht war.

Neben dem Thron des Homer kauern Ilias und Odyssee, deutlich erkennbar sind auch Schriftrollen, die vor dem Thron liegen. Ausweislich der Beschriftung geht es dann von links nach rechts so weiter: die Personifizierungen von Mythos, Geschichte, Poesie, Tragödie, Kommödie, Natur, Tugend, Gedächtnis, Treue (Pistis) und Weisheit huldigen dem Dichter, der jede von ihnen beherrscht und in vollendeter Form in seinem Werk ausgeführt hat.

Fazit

Das Bild zeigt ganz klar das kulturelle Gedächtnis, das in den Werken des Homer gleichzeitig die Weitergabe göttlichen Wissens beinhaltet. Durch die Kunst des Dichters spricht letztendlich das Göttliche zu den Zuhörern. Deshalb beginnen sowohl Ilias als auch Odyssee mit der Anrufung der göttlichen Muse.

Diesem Homer als Träger einer göttlichen Offenbarung wurden in der Antike Tempel gebaut. Aber: Diese Vorstellung stieß bereits innerhalb dieser heidnischen Antike auf heftigen Widerspruch, vor allem bei Platon.

Das Konzept, das durch einen heiligen Text nicht nur kulturelle Identität, vielmehr auch göttliches Wissen vermittelt wird, beschäftigte in Alexandria (und darüber hinaus) nicht nur Heiden, sondern auch Juden und später die Christen. Für die Auslegung dieser heiligen Texte prägten die Griechen einen Zugang, der bis heute für das christliche Bibelverständnis wichtig geblieben ist: die Exegese.

Fortsetzung

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  1. Alle Zeitangaben in diesem Artikel stammen vom British Museum in London.

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